Ist Betriebswirtschaft der Teufel des Gesundheitssystems? Und mit welchem Beelzebub treibt man ihn aus?

Eine erschütternde Geschichte, heute in der Südddeutschen. Die Menschenwürde einer alten Dame, geopfert auf dem Alter des Mamons. Eine alte Frau wurde zu Tode untersucht, weil dadurch viele Positionen abrechenbar sind.

Die Botschaft des Artikels: Das ist der Fluch der Ökonomisierung des Gesundheitswesens.

Ich meine: Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Bevor wird das entschieden können, sollten wir unsere Emotionen beiseite schieben und nachdenken: Wie kann so ein Mißstand, dass Menschen für das ökonomische Wohlergehen der Klinik requiriert werden, verhindert werden?

Die Gründe für das zumindest unethische Verhalten der Institution Klinik: Es gibt zu viele Kliniken, dafür zu wenig Geld, man hoffte immer, es würden Kliniken „vom Markt gehen“, tun sie aber nicht, weil die Verantwortlichen keine Entscheidung treffen. Weder die Politik, hier die Lokalpolitik, für die Klinikschließung ein Politikum wäre, noch die Klinikleitung, die ihre Ärzte zwingt, Betriebswirtschaft vor die Verantwortung des Arztes zu stellen, noch der Arzt selbst, der sich weigert, unethisch zu handeln. Jetzt werden wieder aufgeregt Medizinethiker gefragt, die geben wieder irgendeine Lehrstuhlweisheit von sich, die auf jeden Fall einen Kern hat: Der Einzelne hat keine Schuld, besser keine Verantwortung. Die praktische Schlussfolgerung wird sein: Es muss mehr Geld her. Die aber wird das Leiden der Kliniken nur verlängern.

Das Ist die Logik unserer Zeit: Der Einzelne verantwortet nichts, das System ist an allem schuld. Warum sagt man nicht einfach den Ärzten, sie sollten sich zur Wehr setzen. Warum macht man nicht eine Wistelblower Initiative, bei der Hinweise auf unsachgemäßen Druck weiter gegeben werden können, um schwarze Schafe, Grenzüberschreitungen, sichtbar zu machen.

Warum sagt man nicht den Menschen vor Ort, sie müssten Verantwortung und Haltung übernehmen. stattdessen übernimmt man die Rechnung für sinnlose Hüftgelenksoperationen und schweigt.

Institutionen, die die Menschen entmündigt, weil sie von ihnen nicht verlangt, selbst Entscheidungen zu treffen, sind unserer Zeit nicht würdig. Es fehlt nur jemand, der mal denen, die gute Arbeit machen, den Rücken stärkt. die kriminellökonomischen Treiber, auch wenn sie im Rahmen des Systems agieren, sollten die Geldgeber das Handwerk legen. Und nicht einfach die Geldbeschaffung übernehmen.

Der Beitrag in der Süddeutschen, Die Seite Drei, 14.08.2013

Medizin

Vorsicht, Klinik
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Von Christina Berndt

München – Als hätte sie etwas geahnt. Nur kurze Zeit vor dem schlimmen Tag
hatte Edeltraud Hanke eine Patientenverfügung unterzeichnet. Eines wollte die
alte Dame auf keinen Fall: Dass Ärzte sie am Leben erhielten, wenn keine
Hoffnung auf Besserung mehr bestand. Ausgeliefert sein.

Die Realität zerstörte die Pläne mit Macht. Es kam alles noch schlimmer, als
sich das Edeltraud Hanke und ihre Tochter Eva Golz je vorgestellt hatten. Mit
einem Schlaganfall im Juli 2012 begann das Ende. Es war dies ein
fremdbestimmtes, würdeloses, drei Wochen dauerndes Ende, in dem die Mutter mehr
als je zuvor in den 87 Jahren ihres Lebens auf Hilfe angewiesen war, auf ein
gutes Wort, auf Rücksicht – und so gut wie nichts von all dem bekam.

Vor zwei, drei Monaten noch hätte Eva Golz nicht über die letzten Tage ihrer
Mutter sprechen können. Als zu traumatisch hat sie deren Sterben erlebt. Eva
Golz verkörpert das, was man sich unter einer feinen Dame vorstellt. Zart,
perfekt gestylt, stets unter Kontrolle. Doch trotz ihrer Zartheit ist sie nicht
zart besaitet. Als Mutter des Models Geraldine Golz, die als Muse von Gunter
Sachs berühmt wurde, hatte sie es oft mit speziellen Persönlichkeiten zu tun.
Es sollten aber Ärzte sein, die Eva Golz ihre Grenzen aufzeigten. Ausgerechnet
Ärzte, von denen Golz dachte, sie seien dazu da, Menschen zu helfen.

Von dieser Mission war im Münchner Universitätsklinikum nichts zu spüren.
„Es waren ihre letzten Lebenstage“, sagt Golz: „Da muss man einem Menschen doch
jedes Leid ersparen.“

Das System Krankenhaus, es bekam nicht nur Eva Golz‘ Mutter schlecht. Auch
die Tochter fühlte sich hilflos; immer wieder suchte sie in wachsender
Verzweiflung einen Arzt, der ihre Fragen beantwortete und einfach mal mit ihr
sprach: über die Zukunft der Mutter, über Therapien und über deren Sinn. Was
genau war mit der alten Frau geschehen? Wie behandelten die Ärzte sie? Nicht
mal das erfuhr die Tochter.

Es ist nicht die ganz schlimme Geschichte, die Eva Golz zu erzählen hat.
Ihre Mutter wurde nicht fehlbehandelt. Sie erhielt keine unnötige Therapie, nur
weil Ärzte Kasse machen wollten. Sie wurde nicht links liegen gelassen, weil
gerade lukrativere Fälle auf eine Behandlung warteten.

Die Geschichte, die Eva Golz erzählt, ist alltäglich. Sie handelt von der
Rücksichtslosigkeit, die jeden Tag und jede Nacht von Ärzten und Angestellten
in deutschen Kliniken zigtausendfach praktiziert wird. Im Krankenhaus liegen
Menschen, die verstört sind wegen einer ernsten Diagnose, ängstlich wegen einer
bevorstehenden Operation, hilflos, herausgerissen aus ihrem Alltag. Und es
liegen hier alte Menschen, nach einem bewegten Leben, die ahnen, dass es mit
ihnen zu Ende geht. In dieser Situation wirkt die Lieblosigkeit der Ärzte
erschütternd. Sie trifft Patienten und Angehörige im empfindlichsten Moment.

„Die Ärzte hatten kein Gehör für uns“, sagt Eva Golz: „Man konnte keinen
Kontakt zu ihnen aufbauen.“ Bei ihrer Mutter, der es immer schlechter ging und
die bald nur noch einen starren Blick auf die Zimmerdecke lenkte, verweilten
die Ärzte nur kurze Momente. Vor Gesprächen mit der Tochter aber flohen sie
geradezu. Die Ärzte hetzten über die Gänge, stets die Augen auf Pieper oder
Papiere gerichtet, um nicht den Blicken der Tochter zu begegnen und auch nur
den Anschein zu erwecken, sie wären ansprechbar. Gelang es Eva Golz doch, einen
Mediziner zu stellen, gab es allenfalls ein kurzes Gespräch auf dem Gang.

„Wir haben uns völlig allein gelassen gefühlt“, sagt sie. Eine Therapie nach
der anderen begannen die Ärzte, ohne zu fragen, ohne Fragen zu beantworten.
Dabei wollte die Mutter keine Therapie mehr. Immer wieder sagte sie diesen Satz
zu ihrer Tochter: „Bitte, bitte hilf mir!“ Eva Golz imitiert die Stimme ihrer
Mutter. Sie klopft sich, wie die alte Frau das unzählige Male während der drei
Wochen im Krankenhaus tat, mit den zusammengeführten Fingern der rechten Hand
in die zur Höhle geformte Linke. Es sieht aus wie die Suche nach Schutz.

Nur ein einziges Mal sprach ein junger Arzt länger mit Edeltraud Hanke: Als
er sie zwingen wollte, in eine weitere Untersuchung einzuwilligen. Ihre
Bronchien wollte er anschauen und ihr dazu einen Schlauch mit einem Endoskop
durch die Nase in die Lunge schieben. Die alte Dame hatte im Krankenhaus eine
Lungenentzündung bekommen; nun wolle er den Heilungsprozess beobachten.
Edeltraud Hanke war sich sicher: „Ich will es nicht.“ Sie sagte es wieder und
wieder. „Ich mach es nicht.“ Der junge Arzt wurde unwirsch. So beharrlich
insistierte er, dass die alte Frau in Tränen ausbrach. Trotzdem blieb sie bei
ihrem Nein zur Bronchoskopie. ,,Wenn etwas schiefgeht, dann haben Sie das so
gewollt“, schimpfte der Arzt, und ging.

Keine Missverständnisse: Ärzte kümmern sich in den meisten Krankenhäusern
gut um die körperlichen Belange ihrer Patienten. Sie verschreiben die richtigen
Medikamente, sie tun, was sie tun müssen oder glauben, tun zu müssen. Mehr tun
die meisten Ärzte aber nicht. Die Heilkunst, die den ganzen Menschen mit seinen
körperlichen und seelischen Nöten einschließt, sie ist in deutschen
Krankenhäusern ausgestorben.

Wer sich umhört in Deutschland, über Monate, wer ausdrücklich auch nach
positiven, erfreulichen Geschichten fragt, der stößt auf traumatisierte
Angehörige aus allen Landesteilen, die auch nach Monaten ihre Ohnmacht im
Krankenhausflur so wenig verarbeitet haben wie das Mitleid mit ihren Lieben. Da
sind die Eltern des Dreijährigen, der am Herzen operiert wird, und die nach
Stunden des nervenaufreibenden Wartens nicht einmal auf die Intensivstation
gelassen werden, sondern bei verschlossener Tür durch die Gegensprechanlage
erfahren: „Ihr Sohn ist jetzt auf Station. Wie die OP verlaufen ist, kann ich
Ihnen nicht sagen. Wir haben jetzt auch Mittagspause. Kommen Sie in zwei
Stunden wieder.“

Da ist der Arzt, der den Sohn einer hochbetagten Patientin auslacht, als
dieser ihm erzählt, seine Mutter habe Angst vor ihm. „Ich hab‘ nicht studiert,
um Händchen zu halten“, sagt der Arzt und fügt drohend hinzu: „Ich versichere
Ihnen: Ich kann noch viel grober werden.“

Da ist der bald sterbende Mann von 87 Jahren, der der Schwester sagt, dass
er wegen seiner fehlenden Zähne das Brot mit der harten Kruste nicht essen
könne. „Dann lassen Sie’s eben“, pampt sie und geht raus. Auf die Frage des
Sohnes, wie man so mit seinem Vater umgehen könne, entgegnet die Schwester:
„Wenn es Ihnen hier nicht passt, suchen Sie sich ein Hospiz für Ihren Vater,
wir sind ja kein Hotel.“

Da ist die junge Frau, die gerade erfahren hat, dass sie an der
Nervenkrankheit Multiple Sklerose leidet und dass ihr womöglich eine Zukunft im
Rollstuhl bevorsteht. Warum sie denn immer noch schlafe, wird sie morgens um
sieben angeblafft. Sie solle sich nicht so hängen lassen.

Da sind Scharen von Patienten und Angehörigen, die nicht Stunden, sondern
oft viele Tage darauf warten, von Ärzten so etwas wie eine Diagnose zu
erfahren: „Sorry, ich habe wirklich gar keine Zeit, die Diagnose haben wir an
den Hausarzt geschickt. Für alles Weitere wie Pflege und so wenden Sie sich
bitte an unsere Sozialstation.“

Für Ärzte und Pfleger sind all dies kurze Momente, die schnell vergessen
sind. Patienten und Angehörige aber werden diese Momente – die oft die letzten
im Leben eines Menschen sind – nicht mehr los. Haben unsere Mediziner die
Patienten denn aus dem Blick verloren? Haben sie ihr Fach studiert, weil sie
einen weißen Kittel tragen wollen? Haben sie sich nicht für die Medizin
entschieden, weil sie Arzt werden wollten – sondern natürlich: Chefarzt?

„Nein, das ist nicht so!“, ruft Giovanni Maio. „Die allermeisten Ärzte haben
ihr Studium gerade wegen des menschlichen Aspekts begonnen. Sie sind am Anfang
hochmotiviert. Aber das wird ihnen sukzessive aberzogen.“ Maio tritt eigentlich
selten als Verteidiger der Ärzteschaft auf.

Der Professor für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität
Freiburg hat einen kritischen Blick auf Deutschlands Mediziner. Sie müssten
sich mehr um die wahren Bedürfnisse ihrer Patienten kümmern, fordert er. Sie
müssten sich stärker auf den Patienten einlassen und mehr mit ihm sprechen.
„Medizin kann ohne Menschlichkeit nicht heilen“, stellt Maio fest, indem er
fast singt statt redet. „Gute Gespräche sind eine zentrale Säule der Medizin!
Undkein Sahnehäubchen, das man sich nur leistet, wenn man Zeit hat.“ Deshalb
sei es nicht mal teurer, wenn Ärzte sich mehr Zeit nehmen.

Die Ärzte sind nur indirekt für die heillose Situation in den Kliniken
verantwortlich, sagt Maio, während er lustlos in einem Caesar’s Salad
herumstochert. Zum Essen hat der Ethiker keine Zeit. Er will so viel erzählen,
dass er darüber nun beinahe selbst vergisst, ein Gespräch zu führen, statt
einen Vortrag zu halten. Die Botschaft muss raus. Denn Maio hat ein Ziel. Er
will die Medizin von einem Leiden befreien. Das Leiden heißt: Ökonomisierung.

In den Krankenhäusern – „Behandlungsfabriken“ nennt Maio sie – haben die
Kaufmännischen Direktoren die Macht übernommen; Ärzte müssen Controllern Rede
und Antwort stehen, wenn sie zu viel Zeit für einzelne Patienten aufwenden; und
wenn Rechnungen zu hoch werden, rufen die Ökonomen der Krankenkassen an und
fragen nach dem Grund dafür. Finanzielle Sanktionen drohen.

„Formalitäten spielen eine Rolle, die richtige Dokumentation, die richtige
Codierung der Diagnose“, sagt Maio. „Ob aber ein Arzt mit seinem Patienten
gesprochen hat, wird nirgends erfasst. Dem Krankenhaus ist das egal, und so
wird es zunehmend auch den Ärzten egal.“ Ein Arzt müsse „schon ein Held sein,
wenn er sich im heutigen System ganz für seine Patienten einsetzt“. Bald nach
ihrem Berufsstart haben Ärzte dies so verinnerlicht, dass viele nebenher einen
Bachelor in Betriebswirtschaftslehre erwerben. Heilen ohne Kostenkalkulation
ist für sie kaum noch denkbar.

Dabei brauchen Patienten keinen Betriebswirtschaftler. Sie brauchen einen
Arzt. Und kaum einer kommt darauf, sich – wie Eva Golz – an professionelle
Helfer wie die Deutsche Patientenschutzvereinigung zu wenden, um endlich Gehör
zu finden. „Patienten sind keine Kunden. Die sind krank, die haben Sorgen, sie
brauchen Beistand“, sagt Giovanni Maio.

Das Perfide: Die Controller erzählen dem Arzt, dass die Ökonomie in seinem
eigenen Interesse sei. Wenn seine Abteilung zu wenig erwirtschafte, würden
weitere Stellen gestrichen werden. So erkennt der Arzt, dass es auch für ihn
wichtig ist, Patienten möglichst kostenschonend und also lukrativ zu behandeln.

„Lasst euch das nicht gefallen“, appelliert Giovanni Maio an die Ärzte:
„Lasst die Ökonomen Ökonomen sein. Ihr aber besinnt euch auf eure Heilkunst!“

Das sind schöne Worte. Aber wie soll man sie umsetzen, wenn man gefangen ist
zwischen dem Wunsch, ein menschlicher Arzt zu sein, und der Realität mit ihrem
ungeheuren Druck? Wie soll man den eigenen Ansprüchen sowie denen der Ökonomen
gehorchen und zugleich dafür sorgen, dass man nicht kaputtgeht?

Genau das fragt sich Peter Hoffmann jeden Tag – und hat doch keine Antwort
darauf gefunden. „Die Dynamik des Systems ist übermächtig“, sagt der
Anästhesist vom Münchner Klinikum Harlaching: „Es ist für jeden Beteiligten
jeden Tag spürbar, dass es ums Geld geht.“

Hoffmann ist ein zugewandter Mann, dem man leicht abnimmt, dass er seinen
Beruf aus sozialer Motivation ergriffen hat. Seit 20 Jahren ist er Arzt und
engagiert sich im Verein Demokratischer Ärzte und Ärztinnen, der sich für mehr
Solidarität im Gesundheitswesen einsetzt und die gleiche medizinische
Versorgung für alle Menschen. In Hoffmanns rot gestrichener Wohnküche in einem
Altbau im Münchner Glockenbachviertel lächelt wohlwollend Karl Marx vom
Kühlschrank herunter und ermuntert den Kampfgeist.

„Am Anfang habe ich noch gedacht, man muss seinen Frieden mit diesem
Finanzierungssystem im Krankenhaus machen“, erzählt Hoffmann: „Ich hab‘
gedacht, dass ich mir einfach trotzdem Zeit für die Patienten nehme, dass ich
notfalls eben Überstunden mache.“ Dann hat er verstanden, dass er das System
auf diese Weise nur stützt. „Die Zeit, die ich mir gönne, muss ein anderer
Kollege wieder reinholen“, erzählt er. „Am Ende erhält so vielleicht ein
Patient zu wenig Zuwendung, der sie dringender braucht als der Patient, dem ich
mich zugewandt habe.“

Weil er sich dem System mehr fügt, als ihm das lieb ist, verändert sich
schleichend seine eigene Wahrnehmung. Die Wahrnehmung dessen, was denn nun
wichtig ist im Krankenhaus. „Das Sein bestimmt eben das Bewusstsein“, sagt
Hoffmann. Er wird diesen Satz des von oben herunterblickenden Marx an diesem
Abend noch häufiger zitieren. Dann sagt er: „Dafür bin ich nicht Arzt geworden.“

Krankenhäuser werden inzwischen wie Konzerne geführt. Das wirkt sich
zwangsläufig auf das aus, was die Kliniken im Portfolio haben: die Medizin. Im
Mittelpunkt stehen Dinge wie der „Case-Mix-Index“, die „obere
Grenzverweildauer“, die „durchschnittliche Fallschwere“ und die Klassifizierung
von Patienten in „Diagnosis-Related Groups“ (DRG). Spätestens seit das
DRG-System 2003 eingeführt wurde, werden Patienten nicht mehr als individuelle
Kranke betrachtet. Ihnen wird schon bei der Einweisung eine Diagnose
zugeordnet. Damit ist klar, wie viel Geld das Krankenhaus für „diesen Fall“, zu
dem der Patient damit geworden ist, einnehmen kann; für eine Blinddarmoperation
sind das pauschal 3500 Euro. „Die DRGs werden unabhängig von der Frage
vergeben, wie viel Aufwand eine Behandlung im individuellen Fall bedeutet“,
sagt Peter Hoffmann: „Der Versorgungsbedarf und die Bedürfnisse der Patienten
spielen keine Rolle.“

Behandlungen sind also nicht mehr nur heilsam oder nicht; sie sind vor allem
lukrativ oder nicht.

Noch dazu stehen die Kliniken, politisch gewollt, in Konkurrenz zueinander.
Mehr Effizienz, Transparenz und auch mehr Wettbewerb sollte die
Gesundheitsreform 2000 bewirken, die auch zu den DRGs geführt hat. Früher
wurden Krankenhäuser für alles bezahlt, was sie mit den Patienten anstellten.
Jeder wusste: Kein Patient wird am Freitag entlassen. Statt sich zu Hause
verwöhnen zu lassen, sollte der Genesene lieber noch drei Nächte ein Klinikbett
belegen – damit das Krankenhaus möglichst lange Geld für ihn bekommt.

Das ist nun vorbei. Die DRG-Pauschalen bestimmen, dass Kranke möglichst
schnell behandelt und zügig entlassen werden. Der Effekt lässt sich berechnen:
Im Jahr 2000 lagen Patienten im Durchschnitt 9,7 Tage im Krankenhaus. 2010
waren es nur noch 7,8 Tage. Es kommt nun nicht selten vor, dass Patienten zu
früh nach Hause geschickt werden. Und dass Ärzte Komplikationen verbergen, um
die frühe Entlassung nicht zu gefährden.

Es sei denn, an dem Patienten können mit immer neuen Diagnosen weitere,
gewinnsteigernde Eingriffe und Therapien durchgeführt werden. Dann wird er
länger im Krankenhaus behalten, als das gut für ihn wäre.

Der Erfolg eines Krankenhauses wird heute wirtschaftlich bemessen. Vom
Behandlungserfolg hängt er kaum noch ab. Was am Einzelfall zu wenig verdient
wird, weil Ärzte von einem unnötigen Eingriff abraten oder viel Zeit mit der
Betreuung verzweifelter Angehöriger verbringen, das muss über die Menge wieder
reingeholt werden. Die Verlierer dieses Systems sind nicht nur die Patienten,
sondern auch die Ärzte. Sie würden des Sinnstiftenden ihrer Tätigkeit beraubt,
sagt Giovanni Maio. Wohl deshalb findet der Ethiker auch bei Medizinern und
ihren Funktionären zunehmend Gehör. Der Frust unter den Ärzten ist groß. „Man
nimmt es uns in dieser industrialisierten Medizin, unsere Patienten mit
Augenmaß zu behandeln“, sagt Peter Hoffmann.

Es ist Maio, der wohl in Marx‘ Sinne zu mehr Widerstand aufruft: „Ärzte
müssen neu in ihrem sozialen Impetus bestärkt werden. Sie brauchen Rückgrat, um
zu sagen: Ich bin nicht Arzt geworden, um Ingenieur des Menschen zu sein.“

Aber erklärt der Kostendruck alles? Muss man schroff und bösartig sein, nur
weil man keine Zeit hat? Ja, meint Hoffmann, es sei zumindest eine
Entschuldigung. Früher habe sich auch nicht jeder Arzt den Kranken liebevoll
zugewandt. „Es gibt im besten System Arschlöcher und im schlechtesten Engel“,
so Hoffmann. Aber das heutige System mache es den Ärzten sehr schwer, Engel zu
sein.

Und so, in einem System ohne Zeit, wird der fragende, der hilfsbedürftige
Mensch in der schwächsten Phase seines Lebens: zum Feind des Arztes.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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