Amerika du hast es schlechter! Danke, FAZ!

und sorry fürs Copyright. Und: Es ist kein Antiamerikanismus, sondern die Wiederbesinnung der Demokraten auf ihre Werte. Der Autor, Stephan Richter, ist Chefredakteur von „The Globalist“.

FREITAG, 28. NOVEMBER 2014
FEUILLETON
Amerika, du hast es schlechter
Weltmacht? Dieses Land kann so nicht mehr funktionieren. Dafür gibt es Gründe. Die Liste ist lang. Von Stephan Richter

1Im Zeitalter der Globalisierung ist eine amerikanische Kardinaltugend – schnelle Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft – zur globalen Tugend für alle Nationen geworden. Die Vereinigten Staaten haben aber nicht nur ihre Einzigartigkeit in dieser Kategorie verloren. Auch ihre Fähigkeit, sich schnell zu wandeln, ist stark rückläufig – manchmal bis hin zum kompletten Stillstand.

2 Viele Amerikaner halten ihr Land für unvergleichlich, ja einzigartig. Das ist ein tragisches Handicap – trotz aller Neigung, es in Sonntagsreden gebetsmühlenhaft zu wiederholen. In der Welt von heute kommt alles darauf an, so offen wie möglich zu sein und praktikable Ideen anderer Nationen schnell in die eigene Praxis einzuführen.

3 Selbst wenn Obama ein Genie gewesen wäre und er im Amt keinen einzigen Fehler gemacht hätte – es hätte nicht viel geändert. Das Land ist de facto unregierbar, weil sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstehen und sich gegenseitig blockieren.

4Die Vereinigten Staaten sind – trotz ihrer Fortschrittsmythologie – eine politisch strukturkonservative Gesellschaft. Liberale Demokraten werden dort auf absehbare Zeit einen schweren Stand haben, moderne Politik in der Gesetzgebungspraxis umzusetzen. Der vermeintlich liberale Barack Obama hat George W. Bush in vielem nachgeeifert, auch in Sachen Pressefreiheit und Geheimdienste. Der ältere George (H. W.) Bush wird auf absehbare Zeit der liberalste Präsident der vergangenen Jahrzehnte bleiben, auch im Vergleich zu Bill Clinton.

5Man muss sogar ernsthaft nach dem Charakter der Vereinigten Staaten als Demokratie fragen. In einem Land, in dem die unteren fünfzig Prozent der Gesellschaft (einkommensbezogen betrachtet) eher selten an Wahlen teilnehmen, muss man eher von einem spätfeudalen Regime reden, das sich zwar als Demokratie geriert, aber faktisch Züge des preußischen Dreiklassenwahlrechts trägt.

6Amerika hat gleich mehrere Weimar-Probleme. Das brisanteste ist, dass die Tea Party das gleiche antimodernistische Motiv reflektiert, das die Weimarer Republik mit aus den Fugen geraten ließ. Damals wie heute wurde wichtigen Teilen der Bevölkerung der Fortschritt zu schnell. „Haltet die Welt an!“ ist aber die Antithese zum vermeintlichen Kern Amerikas als Inbegriff der Modernität. Das hat weltweite Konsequenzen, insbesondere aufgrund der Umweltpolitik.

7Im Unterschied zu Frankreich, das sich in der Vergangenheit, wenn es wirklich in eine Sackgasse geriet, gleich mehrfach einfach eine neue Verfassung gegeben hat, ist in den übermäßig traditionsbewussten – und verfassungshistorisierenden – Vereinigten Staaten eine solche Modernisierung der politischen Strukturen nicht denkbar.

8Das bedeutet, dass so gut wie keine Chance besteht, eine parlamentarische Demokratie einzuführen. Trotz aller Schwierigkeiten bietet diese eine „Diktatur auf Zeit“, während der eine gewählte Partei (oder Koalition) das durchsetzen kann, wofür sie im Wahlkampf gekämpft hat. Die Präsidialdemokratie amerikanischer Prägung erscheint für das Zeitalter der Globalisierung ungeeignet, da niemand, allem Schein zum Trotz, positive politische Entscheidungsmacht hat. Amerika läuft Gefahr, sich in ein riesiges Belgien zu verwandeln.

9Der Supreme Court agiert zunehmend wie ein Kassationshof der französischen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Dort wurde alles, was demokratisch orientierte Interessen im Parlament durchsetzen konnten, mittels rechtserfinderischer Instrumente einfach wieder kassiert. So könnte es auch Obamas Gesundheitsreform ergehen.

10Andere befürchten sogar ein graduelles Umkippen des ehemals ehrenwerten Supreme Court in eine „Supreme Junta“ lateinamerikanischen Stils. Unbegrenzte Wahlkampfspenden werden vom höchsten Gericht zu einer Form der freien Meinungsäußerung deklariert. Waffenbesitz gilt selbst in dichtbesiedelten städtischen Gebieten als Grundrecht.

11Die Besetzung, mit welcher der Supreme Court durchgehend anti-modern, wie eine juristische Tea Party, operieren kann, beruht auf drei Quellen: erstens der Wahl von (auf absehbare Zeit überwiegend konservativen) Verfassungsrichtern auf Lebenszeit; zweitens auf der Möglichkeit zur freischwebenden Rechtsschöpfung, im Rahmen eines kasuistisch orientierten Rechtsdenkens; und drittens auf der ideologischen Vorgabe, sich am Geist der Gründerväter zu orientieren und idealiter Dinge, die damals als Sachverhalt so nicht existierten, als verfassungswidrig zu deklarieren.

12Überhaupt ist die Judikative aufgrund des immer weiter um sich greifenden Prinzips der öffentlichen Richterwahl samt Wahlkampffinanzierung vornehmlich durch Industrieinteressen durchlöchert, wenn nicht in ihrer demokratischen Legitimität unterminiert.

13Die Vereinigten Staaten waren einmal Weltspitze in Sachen Transparenz, etwa zur Vermeidung von Interessenskonflikten, verbunden mit der Pflicht, diese zu deklarieren. Das ist längst Historie geworden.

14Nirgendwo wirkt sich dies schlimmer aus als im Kongress. Wenn man dort zur Vermeidung von Interessenskollisionen einfordern würde, dass sich Abgeordnete in Ausschüssen nicht mit Gesetzgebungsentwürfen befassen dürfen, die Interessen von Unternehmen und Verbänden berühren, von denen sie selbst Wahlkampfspenden erhalten haben, käme praktisch die gesamte gesetzgeberische Tätigkeit auf Bundesebene zu einem jähen Halt. Denn sie müssten sich ja eigentlich als befangen deklarieren.

15Was die Wehleidigkeit amerikanischer Unternehmer angeht: Vermeintlich hartgesottene Kerle wie der ehemalige General-Electrics-Chef Jack Welch jammern fortlaufend, wie übel ihnen die Obama-Regierung mitspielt und wie sehr Amerika zur „Anti-Business-Landschaft“ geworden sei. Wenn dem so wäre, dürfte es in Europa keine Unternehmen geben, die im Markt erfolgreich sind, und die wehleidigen amerikanischen CEOs würden an der Spitze eines europäischen Konzerns gleich einen Herzinfarkt bekommen.

16Warum jammern gutverdienende Amerikaner so sehr, wenn die Steuersätze für Spitzenverdiener (in der Kategorie oberhalb von 250 000 Dollar) aus Gründen der Haushaltskonsolidierung wieder auf das vorherige Maß zurückgeführt werden sollen? Wie sollen sich da Europäer fühlen, wenn etwa in Deutschland der Spitzensteuersatz für Alleinverdiener bereits bei 52 000 Euro greift? Nach amerikanischen Maßstäben müssten alle gutverdienenden Europäer massiv suizidgefährdet sein, jedenfalls aber vollkommen demotiviert.

17Warum wird in Amerika von Seiten der Unternehmen der Zusammenhang von Regulation und technologischem Fortschritt immer schnell in Abrede gestellt? Hat es den Konzernen wirklich geholfen, dass sie in Washington durch ihre Lobbybüros Umweltauflagen immer wegdrücken konnten, deswegen aber häufig (etwa im Automobilbau) den Anschluss an den technologischen Stand verloren haben?

18 Das gilt zumal in einer Zeit, in der mit China zum ersten Mal eine weltwirtschaftliche Kraft auf die Bühne tritt, die Amerika numerisch – etwa bei der Anzahl der zur Verfügung stehenden Ingenieure – weit überlegen ist. Haben die Europäer – und gerade auch die Deutschen – in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vor dem Hintergrund der real existierenden amerikanischen Herausforderung nicht genauso lernen müssen, mit ihren sehr viel dünneren personellen Ressourcen besser hauszuhalten?

19 Der amerikanische Glaube an die magischen Kräfte von Silicon Valley und Venture Capital ist ungebrochen. Doch war der Internetboom wirklich etwas genuin amerikanisches, und ist er daher noch einmal wiederholbar? Oder beruhte das Wunder nicht zum Gutteil auf dem historischen Zufall, dass viele indische, chinesische und taiwanische IT-Ingenieure, in Amerika ausgebildet, damals in ihren Heimatländern noch keine Wagniskapitalstrukturen vorfanden, um ihre Projekte und Erfindungen zu Hause umzusetzen, so wie das heute immer mehr der Fall ist?

20 Selbst wenn man denkt, das Phänomen Silicon Valley müsste doch eigentlich wiederholbar sein: Sind die Grundvoraussetzungen der seinerzeitigen IT-Revolution wirklich mit den Gegebenheiten der Umwelt- und Energierevolution von morgen vergleichbar? Damals genügte es, mit neuen Ideen hervorzutreten. Die Finanzierung von Internet-Startups ist bekanntermaßen relativ billig („Sieben Leute in einer Garage“. . .).

21In der Umweltrevolution ist hingegen die Amortisierung von Projekten über viel längere Investitionszeiträume erforderlich. Ist die amerikanische Politik heutzutage überhaupt in der Lage, Zeiträume von dreißig Jahren verlässlich abzustecken? In einem Kongress, der Steuerrabatte für Forschungs- und Entwicklungsausgaben von Unternehmen allenfalls in Zweijahreszeiträumen erneuert? Und was helfen da Investoren, die nach Möglichkeit alles und schnell und mit einem hohen „return“, dabei aber nach Möglichkeit risikofrei, haben wollen?

22 Was ist ganz grundsätzlich die Zukunft einer Gesellschaft, deren Eliten im „Finanzialismus“ ersticken, soll heißen, alles auf die eine Industrie setzen, in der man – dem eigenen Vernehmen nach – weiterhin weltweit überlegen ist?

23 Kann eine solche Gesellschaft wirklich so einfach den Hebel herumwerfen und sich aus beschäftigungspolitischen Gründen über Nacht wieder zu „re-industrialisieren“ – oder sollte man sagen: re-germanisieren, wie es nun Koryphäen wie der General-Electrics-Chef Jeff Immelt regelmäßig verkünden?

24 Und wie steht es überhaupt mit einer Gesellschaft, deren Elite mittlerweile jeglichen Sinn für Selbstdisziplin – und materielle Bescheidenheit – verloren hat? Die sich aber obendrein über „death taxes“ beklagt, obwohl fast alle realen Einkommenszuwächse bei den oberen ein bis zwei Prozent der Einkommensskala landen?

25 Dies gilt umso mehr, als die Politik denselben Interessen – wegen der privaten Wahlkampffinanzierung – geradezu hörig ist. Ein Kreml-Stratege hat einmal gesagt, dass Putins Partei Vereintes Russland dem amerikanischen Parteiensystem nachgebildet ist. Er lehnte sich im Vertrauen zu seinem amerikanischen Gesprächspartner hinüber und raunte verheißungsvoll: „Wir wissen doch beide, dass Republikaner und Demokraten zwei Seiten derselben Medaille sind, nicht wahr?“

26 Die amerikanischen Medien sind stärker von Werbeeinnahmen abhängig als anderswo, sowohl was Zeitungen als auch was Fernsehen angeht. Eine einfache Testfrage: Welche Industrien kamen im Schnitt für die meisten Werbeumsätze der Medien auf? Automobilhersteller, Bauindustrie, Finanzdienstleister und Arzneimittelhersteller. Und welche Industrien kollabierten vor einigen Jahren? Autos, Bau und Banken, während die Pharmakonzerne (samt anderen Gesundheitsdienstleistern) bislang eine kostensparende Reform verhindern konnten.

27 Weil die amerikanischen Medien aus materiellen Selbsterhaltungsinteressen keinen Biss haben, tragen sie so gut wie nichts zur rechtzeitigen Bekämpfung offensichtlicher Effizienz- und Modernisierungsdefizite bei. Hinterher ist man freilich intensiv damit befasst, eine ebenso intensive wie stilistisch brillante Analyse anzufertigen, in der Hoffnung, nachdem es schon zu spät ist, wenigstens einen Pulitzer-Preis für wegweisende Berichterstattung einzuheimsen. Gesamtgesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus.

28 Eine Denksportfrage: Wie viele Unternehmensführer und Konzerne sind auf den Titelseiten der amerikanischen Wirtschafts- und Finanzmagazine in die Kritik geraten, bevor sie abgesägt oder verhaftet wurden und bevor jeder, aber auch jeder Leser aus den Zeitungsnachrichten die Missstände mitbekommen hatte?

29Wie steht es überhaupt um die selbstkritische Fähigkeit der öffentlichen Diskussion? Warum wird Kritik und Realitätssinn immer sofort als Pessimismus abgetan? Und warum gilt es selbst bei gesellschaftlichen Anlässen in camera, sagen wir, bei einem Dinner, nach Möglichkeit nichts Kritisches zu sagen?

30 Der sagenhafte amerikanische Optimismus erscheint letztlich mehr als ein vorläufig kostensparendes Instrument, um mit einem rein rhetorischen Kunstgriff (samt dessen Erhebung zum gesamtgesellschaftlichen Glaubensprinzip) den Auf- und Ausbau eines effizienten Sicherungsnetzes zur Stützung der sozial Schwachen zu verhindern.

31 Es gibt ein fortlaufendes Gerede, dass Amerika unter Obama ein „verlorenes Jahrzehnt“ erlebe. Ist es in Wirklichkeit nicht viel schlimmer, da bereits ein verlorenes Jahrzehnt hinter Amerika liegt, weil George W. Bush durch die Welt marodierte, statt sich Grundsatzfragen wie der Erneuerung der amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität zu widmen?

32Wie vertrauenerweckend ist die Meinung von Leuten, die stolzgeschwellt sagen: „Wir haben viel Zeit für den Wandel. Als Supermacht und führende Reservewährung der Welt können wir weiterhin Schulden aufnehmen.“ Das klingt arg nach der Attitüde der Russen in den späten neunziger Jahren, als manche dortigen Reformer meinten, dank des Ölreichtums sei die Tinte in den Druckmaschinen der Zentralbank das einzige Limit der Schuldentragfähigkeit Russlands.

33 Wenn Amerikaner Trost suchen vor ihren Abstiegsängsten, sagen sie: „Die Chinesen haben auch so ihre Probleme.“ Natürlich haben sie die. Aber seit wann ist es produktiv, sich mit einem auf einem ganz anderen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand befindlichen kommunistischen Land zu vergleichen, um ein positives Selbstbild zu bekommen?

34 Es gibt eine amerikanische Neigung, alle anderen Nationen – voran China – für die eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich zu machen. Was wäre denn wirklich anders, wenn der Renminbi aufgewertet würde? Die beste Verheißung ist ein maximaler Zuwachs von 700 000 Arbeitsplätzen – kaum die Kehrtwende für das wirtschaftliche Schicksal.

35 Wann hört endlich das Geschwätz auf, dass amerikanische Arbeitnehmer die produktivsten der Welt sind? Es gibt keinen Maßstab, demzufolge das der Fall wäre, und doch reden alle, von Obama bis zu seinen republikanischen Widersachern, tagein, tagaus davon. Wer sich dermaßen „top“ redet, verkennt die Notwendigkeit zum Wandel.

36Kann der Zweckpessimismus europäischer, protestantischer Tradition jemals zur amerikanischen Alltagsdoktrin werden, um auf diese Weise jeden Tag kleine Schritte des Wandels und der Verbesserung einzuleiten? Man sollte es angesichts der Bedeutung protestantischer Quellen in der amerikanischen Geistes- und Kapitalismusgeschichte eigentlich glauben. Aber gegenwärtig hat es den Anschein, als dass es eines Archäologen bedürfe, um diese Quellen wieder freizuschaufeln.

37Kann eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft je wieder auf die Beine kommen, wenn sie Regierungsbeamte und Angehörige des öffentlichen Dienstes ausnahmslos als „Bürokraten“ (die Lieblingsformel der Republikaner) beschreibt? Nicht dass es bei der Verwaltung keine Missstände gäbe, aber die sind nicht schlimmer als etwa in Europa. Was besagt es über die innere Friedfertigkeit einer Gesellschaft, wenn der gesamte öffentliche Dienst in derselben Hass-Perspektive beschrieben wird, wie dies zu Zeiten der Sowjetunion für den Begriff „Kommunisten“ der Fall war?

38Werden wir in der zweiten Hälfte von Obamas Amtszeit erleben, dass sich das ungute Gefühl der beiden vergangenen Jahre – dass der amerikanische Bürgerkrieg zwar 1861 angefangen hat, aber nicht 1865 zu Ende ging, sondern fortschwelt – bewahrheiten wird? Eine Welt der unversöhnlichen Gegensätze zwischen amerikanischem Norden und Süden?

39Es gibt eine systematische Verteufelung der Gewerkschaften in Amerika. Sie werden allzu häufig gerade nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen, wenn es um die Behebung von Schwierigkeiten im Unternehmen und mögliche Entlassungen geht. Mit Vorliebe engagiert man sie erst, wenn vollendete Tatsachen geschaffen worden sind.

40Wie verhält es sich mit dem sagenhaften amerikanischen Pragmatismus? Er verheißt, dass man sich nicht so lange ideologisch in Probleme verbeißt, bis diese nicht mehr zu lösen sind; statt dessen sollen sie nüchtern am Schopfe gepackt werden, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen, mit der alle Seiten leben können. So weit die Versprechung.

41Wir sind aufgewachsen mit dem Verständnis, dass Amerika eine Gesellschaft mit hoher Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten hat – das ist die Geschichte vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringt. Die Wirklichkeit zeigt aber das Gegenteil: Unter den OECD-Ländern gehören die Vereinigten Staaten sozialstatusbezogen zu den am wenigsten durchlässigen Gesellschaften. Die Eliten rekrutieren sich zunehmend selbst.

42Überhaupt die Elitenrekrutierung. In Europa gehört der Glaube an die magischen Kräfte der Ivy-League-Universitäten zum Kernbestand dessen, was Amerika ausmacht. Diese Hochschulen sind sicher gut. Aber der Preis, den die amerikanische Gesellschaft dafür zahlt, ist hoch. Es kommt frühzeitig zur Elitenbildung (und -züchtung), indem junge Leute auf eine Schiene gesetzt werden, auf der sie nur noch mit den oberen eineinhalb Prozent der Gesellschaft verkehren.

43Wie steht es überhaupt um eine Gesellschaft, die im Kern auf einem ungeregelten Nebeneinander-, aber nicht auf dem Miteinanderleben beruht? Man denke da nur an den legendären amerikanischen Siedler, der in seiner Einsamkeit am Abend eines geschäftigen Tages zum ersten Mal in der Ferne Rauch am Horizont aufsteigen sieht. Statt sich auf die Visite zum neuen Nachbarn zu machen, sagt er seiner Frau, man müsse am kommenden Morgen packen und weiterziehen, weil es am gegenwärtigen Wohnort zu „crowded“ werde.

44 Werden die Vereinigten Staaten erst dann wieder modern, wenn das Land, nicht nur bei den Geburten „majority minority“ ist, sondern wenn Minderheiten die Mehrzahl der Wähler stellen? Wenn Frauen in der Politik und im Berufsleben stärker bestimmen? Eine weise Beobachterin der amerikanischen Politik sagte am Tag der Bestätigung von George W. Bushs Wahl durch den Supreme Court, also vor einem Jahrzehnt, jetzt beginne das letzte große Aufbäumen des „weißen angelsächsischen Mannes“. Vieles spricht dafür, dass sie recht hatte.

45Was passiert jemandem, der sich mit solchen Fragen in der amerikanischen Gesellschaft befasst? Er wird entweder von einem erfolgreichen schwarzen Harvard-Absolventen in seinen Vierzigern gefragt, ob er denn „Pfarrer“ von Beruf sei. Wie kommt er darauf? Weil der Betrachter sich mit fundamentalen Fragen befasse, wo es doch in Washington eigentlich nur ums Geldverdienen gehe, egal, wer Präsident sei. Amerikanische Freunde, die in Geschichte bewandert sind, sagen, dass es gerade jetzt wichtig sei, Bekennermut zu zeigen. Die Deutschen wüssten ja, wohin Duckmäusertum historisch führen könne.

Stephan Richter ist Herausgeber und Chefredakteur des Online-Magazins theglobalist.com und Präsident des Globalist Research Center.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .