Betriebsunfall gedankenloser Schnelligkeit. Wie sich die rasende Gesellschaft ihre Opfer selbst produziert.

Im SZ-Magazin 5/2010 schildert der freie Journalist David Schraven den Fall von Neda Soldani. Die verwechselt wird mit einer im iran ermordeten Studentin, weil sie ähnlich aussieht wie diese und der Nachnamen sich nur um einen Buchstaben unterscheidet. Die falsche Nachricht geht um die Welt, sie wird zur Widerstandsikone stilisiert, das iranische Regime will auch sein Süppchen kochen und letztlich entscheidet sie sich dafür, zu flüchten und in Deutschland Asyl zu beantragen. Eine ernüchternde Geschichte, die zeigt, wie Medien Wirklichkeit sind und machen, wie Informationsfreiheit Existenzen vernichten und gefährden kann, dass es vom journalistischen Ethos oftmals keinen Unterschied mehr macht, ob Blogger oder Journalisten dran sind (weil beide gleichermaßen von Oberflächlichkeit gefährdet sind). Und am Ende Betroffenheit, wie die Karawane weiter zieht und einen Menschen sitzen lässt, der zufällig mit der Weltgeschichte Berührung hatte.

Politik | Heft 05/2010
Das zweite Leben der Neda Soltani

Zeitungen, TV-Sender und Blogs zeigten ihr Bild: Angeblich war sie die Demonstrantin, die bei den Unruhen in Iran getötet wurde. Aber es war eine Verwechslung, Neda Soltani lebt – als Asylsuchende in Deutschland – und kann nicht mehr in ihre Heimat zurück.
Von David Schraven Foto: Andrea Diefenbach

Zwei Frauen, ähnliche Namen und eine folgenreiche Verwechslung: Die getötete Neda Soltan, 26, links, und die fälschlicherweise für tot erklärte Neda Soltani, 32.

Die totgesagte Frau ist immer noch schön. Aber ihre Gesichtszüge sind härter geworden, und sie trägt keinen Schleier mehr. In ihrem schwarzen Haar sind graue Strähnen zu sehen. Neda Soltani ist gealtert in den letzten sieben Monaten.

Ihr Porträtfoto zeigt eine junge, vorsichtig geschminkte Frau mit braunen Augen. Der im Iran gesetzlich vorgeschriebene Schleier ist eine Handbreit zurückgeschoben und lässt den Ansatz ihres kräftigen Haares erkennen. Sie zeigt ein leichtes Lächeln auf diesem Foto, weich und unschuldig. Es war das ideale Bild einer Märtyrerin; im vergangenen Sommer ging Neda Soltanis Foto als Symbol der blutigen Revolte im Iran um die Welt. Doch die Frau auf dem Bild ist nicht tot. Neda Soltani sitzt in einem Café in der Nähe von Frankfurt am Main.

Die Nachricht von ihrem Tod beruhte auf einer Verwechslung, sagt sie in fließendem Englisch, ein ursprünglich kleiner Irrtum der Medien, mit fatalen Konsequenzen für die Frau auf dem Foto. Neda Soltani geriet in den Tumulten nach der Wiederwahl des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zwischen die Fronten. Sie musste ihre Heimat verlassen und floh nach Deutschland. Sie lebt, doch das Foto mit dem weichen Lächeln hat ihr altes Leben zerstört.

Bis vor einem halben Jahr lebte Neda Soltani in Teheran. Sie war Dozentin an der Islamic Azad University und unterrichtete englische Literatur. Im Sommer erst hatte sie eine größere Arbeit über die weibliche Symbolik im Werk Joseph Conrads geschrieben.

Neda Soltanis Eltern gehören der iranischen Mittelschicht an. Was genau ihre Familie macht und wo sie herkommt, darüber will sie nicht sprechen. Aus Angst um die zurückgebliebenen Familienmitglieder. Neda wusste, dass im Iran vieles falsch läuft. Aber sie gehörte nicht aktiv der Opposition an. Sie lernte fleißig für eine akademische Karriere an der Universität. Während im Juni die Studenten auf den Straßen protestierten, korrigierte Soltani ihr Manuskript.

»Ich habe zehn Jahre hart gearbeitet, um mir eine Position als Dozentin zu sichern. Ich habe mein eigenes Geld verdient, ich bin mit Freunden ausgegangen, und ich habe Spaß gehabt.« Arbeit, Geld, Freunde hat Neda Soltani verloren. Sie ist jetzt 32 Jahre alt und Asylbewerberin in Deutschland. Wegen dieses einen Fotos.

Die Geschichte des Fotos beginnt am 20. Juni 2009: In der Nähe der Kargar Avenue in Teheran wird gegen sieben Uhr abends eine junge Frau niedergeschossen. Sie fällt auf den Rücken, aus ihrem Mund fließt Blut. Sie starrt in eine Handykamera, verletzt, wehrlos, ängstlich. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt sie. Blogs und Twitter machen als Erste auf die im Sterben liegende Frau aufmerksam; der Handyfilm der sterbenden Frau wird unmittelbar nach den Schüssen auf Youtube hochgeladen.

Mitarbeiter größerer Fernsehanstalten versuchen sie zu identifizieren, sie suchen Bilder der toten Frau. Ihr Vorname, Neda, ist im Film zu hören, schnell fällt im Netz auch ein Nachname: Soltan, Studentin der Islamic Azad University in Teheran. Irgendwer sucht unter dem Namen Neda Soltan bei Facebook.

Auf diesem Internetportal unterhält auch Neda Soltani eine Seite. Sie hat die Inhalte auf ihrer Facebook-Seite allein für Freunde freigegeben. In ihrem Profil steht allerdings ein Foto, das jeder sehen kann. Wer als Erstes die lebende Dozentin Neda Soltani mit der toten Studentin Neda Soltan verwechselt, lässt sich später nicht mehr rekonstruieren.

Aber jemand kopiert das Foto Neda Soltanis in der Nacht zum 21. Juni 2009 aus deren Facebook-Profil und verschickt es als das der toten Neda Soltan. Das Foto wird über soziale Netzwerke, über Blogs und Portale im Internet verbreitet; kurze Zeit später senden es von CNN, BBC, CBS bis zu ZDF und ARD die wichtigsten Fernsehsender weltweit; am nächsten Morgen ist Neda Soltanis Foto in den Zeitungen Dutzender Länder zu sehen. Innerhalb weniger Tage kennt die ganze Welt das Foto von Neda Soltani – und glaubt, darauf sei die erschossene Neda Soltan abgebildet.

Auf den Demonstrationen der folgenden Tage tragen wütende Menschen Plakate mit dem vergrößerten Bild der vermeintlichen Märtyrerin vor sich. Bald zeigen sie das Foto auch auf T-Shirts und bauen in den Straßen Altäre um Neda Soltanis Foto. Die Demonstranten nennen die Frau auf dem Foto: »Engel des Iran«. Das Foto wird zum Symbol des Freiheitskampfes und Neda Soltani zu dessen Ikone.

Soltani ist ein gewöhnlicher Name im Iran. Wie Meyer oder Müller in Deutschland. Auch Neda ist kein ausgefallener Vorname. Die ermordete Neda Soltan studierte an der privaten Islamic Azad University, die lebende Neda Soltani ist dort Dozentin und nur unwesentlich älter. Beide Frauen tragen lange dunkle Haare, beide sind hübsch. Die Verwechslung ist nachvollziehbar. Erst recht in der anfänglichen Bestürzung über den Tod einer jungen Frau. Aber die Tote heißt mit vollem Namen Neda Agha-Soltan. Die Frau mit dem Foto bei Facebook Neda Soltani. Dieser Unterschied hätte erfahrene Nachrichtenjournalisten irgendwann stutzig machen müssen. Die Verwechslung der Nedas erzählt auch etwas über den Journalismus in Zeiten der Hysterie.

Am Morgen des 21. Juni 2009, einen Tag nach dem Todesschuss, wundert sich Neda Soltani über die vielen Menschen, die sich auf ihrer Facebook-Seite als Freunde registrieren lassen wollen. Hunderte sind es, aus aller Welt. Erste Anrufe folgen. Ein befreundeter Professor bricht vor Erleichterung in Tränen aus, als er ihre Stimme hört. Neda Soltani denkt zunächst an einen schlechten Witz. Dann erfährt sie, was mit ihrem Foto geschehen ist.

Ein Fehler, wie er nicht passieren darf, aber eben passieren kann, und der sich ganz gewiss mit zwei, drei Telefonaten oder E-Mails aus der Welt schaffen ließe. Sie schreibt an Voice of America, einen englischsprachigen Fernsehsender, der auch im Iran unter Anhängern der Opposition populär ist. Sie schreibt, dass es sich um einen Irrtum handele, dass ein falsches Foto gezeigt werde. Als Beweis schickt Neda Soltani ein weiteres Bild von sich, das könne man ja mit dem anderen vergleichen.

Sie rechnet nicht damit, was daraufhin passiert: Voice of America verbreitet nun dieses zweite Foto als neues Bild der verstorbenen Neda, CBS greift es auf. Neda Soltani bekommt es allmählich mit der Angst zu tun. Sie löscht das Foto auf ihrer Facebook-Seite, damit es niemand mehr herunterladen kann. Wie sich in Kürze herausstellt, ein Fehler: Blogger vermuten hinter dem Verschwinden des Fotos Zensur der Behörden, kopieren es auf Hunderte Facebook-Seiten, versenden es über Twitter.

Neda Soltanis Versuche, ihr Bild aus der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, scheitern kläglich. Sie hat die Verfügungsgewalt über ihr eigenes Bild verloren. Das Foto gehört längst den Demonstranten und Medien, die auf dem Foto die Ikone des Freiheitskampfes zu sehen glauben.

Am 23. Juni 2009 geben die Eltern der toten Neda Agha-Soltan authentische Fotos frei, die für jeden verfügbar sind. Das Bild von Neda Soltani wird trotzdem weiter verbreitet. Freunde versuchen, den Fehler in Internetforen richtigzustellen. Vergeblich. Eine Freundin wird beschimpft: »Du Bastard wirst uns den Engel des Iran nicht nehmen.« Der Irrtum lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Die Regimekritiker im Internet beharren auf der Authentizität ihres Fotos. Nur wenige Journalisten erkundigen sich bei Neda Soltani über ihre Facebook-Seite nach der Herkunft des Fotos. Keinem gelingt es, den Irrtum aus der Welt zu schaffen. Das Foto ist für Neda Soltani verloren.

Schließlich setzt das iranische Regime Neda Soltani unter Druck. Von wem oder wie sie bedroht wird, will sie auch später in Deutschland nicht sagen, aus Angst um ihre Familie. Denn die Verwechslung soll gegen die Opposition verwandt, die Demonstranten auf der Straße als Instrumente westlicher Fälscher entlarvt werden. Sie bekommt Panikattacken, sie wird krank, beschließt, den Iran zu verlassen.

Ohne von ihren Eltern Abschied zu nehmen, flieht sie am 2. Juli 2009 in den Westen. Die Fluchthelfer bezahlt sie mit sämtlichen Ersparnissen, mit einem kleinen Rucksack gelangt sie über Griechenland nach Deutschland. In Bochum lebt ein Cousin. Er ist jetzt ihre Familie.

Am 3. Juli 2009 meldet BBC Online endlich die Verwechslung. Versteckt in einem Bericht über Internetforen, in einem Absatz nach den Verschwörungstheorien zum Tod Michael Jacksons. Im Kommentar heißt es: »Neda Soltanis Fall zeigt, wie gefährlich es sein kann, wenn Massenmedien auf Bilder aus sozialen Netzwerken zurückgreifen.

«Spätestens an diesem Tag hätte die Geschichte des Fotos ihr Ende finden müssen. »Meine Freunde hatten mir gesagt: Warte noch einen Tag. Dann wird alles gut. Aber die Tage vergingen, und nichts wurde gut«, erzählt Neda Soltani im Exil. Das Asylverfahren in Deutschland läuft nun schon seit über sechs Monaten. Neda sagt, sie wollte nicht auswandern. Nie zuvor war sie im westlichen Ausland. Sie hat Heimweh.

Sie erhält vom deutschen Staat etwa 180 Euro Hilfe im Monat. Für Obst und Gemüse, eine gesunde Ernährung wie zu Hause in Teheran, reicht das kaum. Sie lebt jetzt irgendwo in einem Heim für Flüchtlinge. Sie hat immer noch Angst um ihre Familie in Teheran und Angst um sich in Deutschland. Ihr Zimmer mit der Nummer 11 ist schmal, zwei Betten, ein Regal. Sie will niemanden hineinlassen. Sie sagt, sie will die Monate »im Lager« so schnell wie möglich vergessen.

Die Türbeschläge sind im Holz eingespachtelt. Die Gemeinschaftsküche für zwei Dutzend Asylbewerber hat kein Fenster, die Spüle wackelt auf einem zusammengezimmerten Brettergestell. Auf einem Balkon zum Hof ist eine Satellitenschüssel auf eine abgebrochene Metallstange gespießt. Die Stange steckt in einem aufgeplatzten Sauerkrauteimer, der mit Sand und Steinen beschwert wurde. Improvisiertes Flickwerk für eine Verbindung zur Heimat.

Das authentische Foto der toten Neda ist seit Monaten bekannt, das falsche der lebenden Neda taucht noch immer auf: bei Spiegel Online und in der New York Times. Noch im November brachte CNN einen Bericht über den Iran, wieder mit dem Foto Neda Soltanis.

Sie schrieb den Sender an und bat darum, ihr Bild zu löschen. Als Antwort erhielt sie eine automatische E-Mail, in der man um Verständnis bat, dass nicht alle Hinweise persönlich beantwortet werden könnten. Unterzeichnet war das Schreiben mit »CNN, The Most Trusted Name In News«.

Neda Soltani hat den Kampf um ihr Bildnis verloren.

David Schraven, freier Journalist in Bottrop, schreibt normalerweise über Themen aus dem Bereich Energieversorgung und hat deswegen häufig mit dem ölreichen Iran zu tun. So erfuhr er auch von Neda Soltanis Geschichte.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .