Mal ganz abgesehen davon, dass das Interview mit Martin Schulz irgendwie einen Kasernenton hat, was nicht für die Offenheit der Frager steht. Die Antworten, die Schulz in Sachen Frankreich gibt, zeigen das Dilemma der Politik. Niemand, der für ein Amt kandidiert, darf ein Land kritisieren, an dem eine Regierung seiner Farbe dran ist, weil er sonst die Unterstützung verliert. Beispiel Frankreich: Eine Regierung, die ständig nur Unverbindlichkeiten von sich gibt und sich weigert, die reale Situation des Landes zu sehen, wird gesundgebetet. Weil dadurch für die Wählerinnen und Wähler ganz undurchschaubare Muster und Argumentationen entstehen, verliert Europa an Kraft UND an Glaubwürdigkeit. Die politische Klasse ebenso.
Nicht gut für Europa!
Hier der Beitrag zum Nachlesen.
„Juncker steht für das alte Europa“
Martin Schulz, Spitzenkandidat der Sozialisten bei der Europawahl, spricht über seinen konservativen Gegner, die grassierende Euro-Skepsis und seine Pläne für den europäischen Währungsraum.
Ruth Berschens | Straßburg | Mittwoch, 16. April 2014, 12:00 Uhr
Präsident des Europaparlaments ist Martin Schulz seit Januar 2012. Nun will er Kommissionspräsident werden. Die europäischen Sozialisten kürten ihn Anfang März zu ihrem Spitzenkandidaten für das Amt. Schulz empfängt in seinem Büro in Straßburg.
Herr Präsident, seit Monaten machen Sie Wahlkampf bis an den Rand der Erschöpfung gegen Rechtsextreme wie den Front National und antieuropäische Populisten wie die britische Ukip. Doch das zeigt bisher überhaupt keine Wirkung. Warum nicht?Der Kampf gegen Rechtsextremismus und Populisten ist seit meiner Jugend Teil meiner politischen Identität. Wir müssen alle gemeinsam dafür kämpfen, die proeuropäischen Bürger zu mobilisieren. Einer allein kann das nicht. Viele Leute glauben offenbar, dass die Euro-Skeptiker gar nicht so schlimm sind. Das stimmt aber nicht. Marine Le Pen in Frankreich oder Geert Wilders in Holland wollen die EU abwickeln. Verhindern können wir deren Erstarken nur, wenn wir die Passivität der schweigenden Mehrheit überwinden und die Menschen dazu bringen, zur Europawahl zu gehen.
Die Wahl ist den meisten Menschen aber nach wie vor egal. In Deutschland wollen nur 47 Prozent wählen. Wieso schaffen Sie es nicht, die Leute zu mobilisieren?Warten wir es ab. Der Wahlkampf hat noch gar nicht begonnen…
Sie sind doch schon längst auf Wahlkampftour…Erst nach Ostern wird es richtig losgehen. Wir werden einen kurzen und sehr heißen Wahlkampf haben.
Der dann auch zu einer steigenden Wahlbeteiligung führt?Mit Sicherheit. Europa ist doch seit Jahren das wichtigste Thema.
Als deutscher Sozialdemokrat schaffen Sie es bisher noch nicht einmal, die Genossen zu Hause an die Wahlurne zu bringen. Die SPD liegt in den Umfragen weit hinter der Union. Das kann sie doch eigentlich nicht freuen oder?Die CDU/CSU liegt bei 39 bis 40 Prozent, wir bei 27 bis 28 Prozent. Das ist noch nicht wirklich gut, aber besser als bei der Europawahl 2009, da hatten wir nur 20,5 Prozent. Auch bei der letzten Bundestagswahl lagen wir mit 25,6 Prozent niedriger. Es gibt also einen Aufwärtstrend. Das ist kein Grund zur Euphorie, aber sicher Anlass zur Hoffnung.
Die beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl, Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, sind sich eigentlich über alles einig – vom Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit bis zum Management der Krim-Krise. Wie sollen sich die Wähler da eigentlich entscheiden?Juncker steht für das alte Europa, in dem hinter verschlossenen Türen Deals gemacht werden. Und meine Vorstellungen darüber, wie wir Steueroasen und Steuerdumping bekämpfen sollten, wird der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident nicht teilen.
Was halten Sie davon, dass Juncker in Deutschland nicht auf den Wahlplakaten erscheint.Es ist Sache der CDU, jemanden auf die Wahlplakate zu nehmen, der gar nicht ins Europaparlament will…
… nämlich Kanzlerin Merkel. Kann man Junckers Spitzenkandidatur da überhaupt noch ernst nehmen?Es gibt da in der Tat die Frage nach der Glaubwürdigkeit, aber die müssen Sie an Frau Merkel richten. Auf unseren Wahlplakaten wird der sozialdemokratische Spitzenkandidat Schulz jedenfalls zu sehen sein, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
Der Grüne Daniel Cohn-Bendit hat den Wahlkampf Schulz-Juncker als verlogene Veranstaltung bezeichnet, weil es nach der Wahl sowieso eine große Koalition im Europaparlament gibt. Stimmt das?Ich muss mich im Wahlkampf auf das Wesentliche konzentrieren und da gehören Äußerungen von Herrn Cohn-Bendit nicht dazu.
Eine Antwort in der Sache ist das nichtIch kämpfe nicht für eine große Koalition, sondern für meine Partei. Und ich nehme zur Kenntnis, dass ein führendes Mitglied der grünen Partei nicht an einen Erfolg einer Mitte-Links-Koalition glaubt. Ich kenne Herrn Cohn-Bendit gut und weiß, dass er immer irgendjemandem eine mitgeben muss. Dieses Mal war ich das eben.
Sie bewerben sich für das wichtigste politische Amt Europas, doch Ihre Regierungserfahrung beschränkt sich auf das Bürgermeisteramt der Stadt Würselen.Ich war kein haupt- sondern ehrenamtlicher Bürgermeister…
Dann haben Sie also gar keine Erfahrung als Verwaltungschef. Was qualifiziert Sie denn dann dazu, eine Behörde mit rund 33.000 Mitarbeitern zu leiten?Die Frage wird mir ja jetzt ständig gestellt…
Etwa nicht zu Recht?Der Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, ist gerade Premier von Italien geworden. Dem hat kein Mensch diese Frage gestellt. Tony Blair war ein junger Abgeordneter ohne jegliche Regierungserfahrung, bevor er englischer Premier wurde. US-Präsident Obama war vorher Senator, hatte aber nie ein Regierungsamt. Ich will mich nicht mit diesen Personen auf eine Stufe stellen, aber es ist doch ein normaler Vorgang, dass Oppositionsführer ohne administrative Erfahrung Regierungschef werden.
Aber nicht in Brüssel. Kommissionspräsidenten waren vorher immer Premier oder zumindest Minister eines großen Landes.Ja. Und wir wollen, dass das anders wird. Wenn nationale Parlamente in 26 EU-Staaten ihren Regierungschef wählen, dann sollte es im Europaparlament genauso sein.
Aber wieso müssen das unbedingt Schulz oder Juncker sein? Können Sie die EU-Regierungschefs dazu zwingen, einen dieser beiden Kandidaten vorzuschlagen?Zwingen nicht, aber zwölf sozialdemokratische Regierungschefs haben bereits Martin Schulz vorgeschlagen und elf konservative Regierungschefs haben sich zu Jean-Claude Juncker bekannt. Sich nach der Wahl plötzlich auf einen anderen Kandidaten zu einigen, wäre eine groteske Farce und würde der Demokratie in Europa schweren Schaden zufügen. Im Übrigen würde das Europaparlament das auch nicht akzeptieren.
Wieso nicht? Die dänische Premierministerin wäre doch auch eine gute Kandidatin.Helle Thorning-Schmidt unterstützt meine Kandidatur.
Was wäre schlecht daran, zum ersten Mal in der Geschichte der EU eine Frau an die Spitze der Kommission zu berufen, die noch dazu sehr qualifiziert ist für das Amt?Natürlich wäre daran nichts schlecht, aber die Sozialdemokraten wollen Schulz, die Konservativen wollen Juncker und die Liberalen Guy Verhofstadt. So ist es nun einmal.
Der britische Premier Cameron will aber weder Schulz noch Juncker als Kommissionspräsidenten sehen und hat sein Veto bereits angekündigt. Kann die EU darüber denn einfach hinweggehen?Sie lassen aber auch nichts aus (lacht).
Cameron wird das Thema beim Abendessen der Regierungschefs zwei Tage nach der Europawahl auf den Tisch bringen. Finden Sie das komisch?Sie schauen auf die Zeit nach der Europawahl am 25. Mai. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf die Zeit vorher..
Ist es politisch klug, gegen den erklärten Willen des drittgrößten EU-Staates einen Kommissionspräsidenten zu berufen?400 Millionen Wähler sind zu dieser Wahl aufgerufen. Die Regierungschefs können laut EU-Vertrag danach einen Kandidaten mit qualifizierter Mehrheit vorschlagen. Zum Thema Großbritannien zitiere ich mal einen Regierungschef, der nicht namentlich genannt werden will: Diejenigen, die uns von morgens bis abends erklären, dass sie womöglich den Verein verlassen, wollen zugleich bestimmen, wer Vereinsvorsitzender wird.
Die Aussage könnte von Francois Hollande stammen – und Frankreich kommen Sie ja momentan gerne entgegen. Oder wieso haben Sie eine Lockerung der Defizitkriterien im Stabilitätspakt gefordert?Das habe ich nicht getan. Ich bestehe darauf, dass die Staatsschulden abgebaut werden.
Mehr Schulden für staatliche Investitionen halten Sie aber für gerechtfertigt – oder?Kein Unternehmen überlebt ohne Investitionen und die werden in der Regel über Kredite finanziert. Und was für Unternehmen gilt, gilt auch für Volkswirtschaften. Bei der Defizit-Berechnung müssen wir deshalb künftig unterscheiden zwischen konsumtiven Staatsausgaben und Investitionen in die Zukunft der Volkswirtschaft.
Also doch eine laxere Haushaltspolitik. Werden wir einen Monsieur Laisser-faire an der Spitze der EU-Kommission bekommen?Nein. Aber die Defizitkriterien im Stabilitätspakt haben wir vor 22 Jahren festgelegt und müssen sie nun der politischen Realität anpassen. Es kann nicht sein, dass die öffentliche Hand in den Krisenstaaten als Investor ausfällt und die privaten Unternehmen wegen der Kreditklemme in diesen Ländern auch nicht investieren können. So bekommen wir kein Wachstum.
Was also tun?Die Europäische Investitionsbank muss bei der Kreditvergabe mehr helfen und auch die Europäische Zentralbank kann etwas tun.
Sollte die EZB Staatsanleihen der Krisenstaaten ankaufen?Das hat die EZB doch bereits mit Zustimmung der Regierungen im großen Stil getan und dadurch die Krise maßgeblich gedämpft.
Wieso wollen Sie Frankreich eigentlich noch mehr Zeit für die Senkung des Haushaltsdefizits unter die Drei-Prozent-Schwelle geben?Das hat sich erledigt. Denn der französische Finanzminister Sapin hat erklärt, dass er sich an den vorgegebenen Zeitplan hält und das Defizit bis 2015 auf drei Prozent senkt.
Frankreich hat ja auch schon zweimal Aufschub bekommen. Ein drittes Mal würde doch den ganzen Stabilitätspakt ad absurdum führen…Strukturelle und wirtschaftliche Reformen brauchen einfach Zeit, bis sie ihre Wirkung entfalten. Wer gleichzeitig auch noch drastische Austerität durchsetzen will, riskiert die Wirtschaft völlig abzuwürgen. Schröder hätte die Agenda 2010 niemals durchsetzen können, wenn die EU ihn damals mit einem Strafverfahren verfolgt hätte.
Wenn man Frankreich mehr Zeit gibt, dann wird auch Italien darum bitten…Die Defizitkriterien müssen eingehalten werden. Das wissen die Regierungen dieser Länder. Ich verstehe auch, dass die Länder, die harte Reformen durchziehen mussten, keine Ausnahme für Frankreich machen wollen. Aber nun hätte ich eine Gegenfrage: Was passiert denn, wenn Frankreich es nicht schafft, die Ausgaben um 50 Milliarden Euro zu kürzen und doch ein höheres Defizit ausweist?
Dann muss die EU das Defizitverfahren verschärfen und notfalls auch mal eine Strafe verhängen.Wenn man das täte, würde man dem Front National doch in die Hände spielen. Frankreich startet jetzt ein enormes Reformprogramm. Der französische Premier will das im April durchs Parlament bringen. Wenn die Regierung in Paris diesen Weg jetzt wirklich gehen will, sollten wir ihr dabei helfen. Sonst machen wir die Euroskeptiker doch nur noch stärker.
Handelsblatt: Herr Präsident, vielen Dank für das Interview.
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