Das neue grüne Grundsatzprogramm. Ein erster Einblick

Programmarbeit, das ist die Spezialdisziplin der Grünen. Wirklich überrascht aber bin ich von der hohen Qualität des neuen Grundsatzprogramms der Grünen. Ohne mich intensiver mit der Frage beschäftigt zu haben, wie es entstanden ist: Auch sprachlich es es von so hoher Qualität, Eindeutigkeit, Prägnanz, wie ich es von grünen Programmen bisher nicht kenne. Es lohnt sich, es zu lesen; – und darüber nachzusinnen. 

 

Es ist ein bißchen wie beim Stäbchenwurf. Das Ganze bildet keinen Monoliten, sondern der Entwurf besteht aus Bausteinen. Der Leser hat die Aufgabe, diese Bausteine zusammen zu stellen, diese Bausteine mit dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen zu reflektieren. 

Gut gemacht, Robert und Annalena!

 

Und grundsätzlich: Die Bekenntnis zu Wettbewerb, der Rolle von Technologie, der Veränderung und von Wissenschaftlichkeit sind aktuell. Der Ansatz, marktwirtschafliche Elemente zu definieren, in dem man „Gutes Leben“, Wohlstand und langfristige ökologische Ziele stärker in Übereinstimmung bringen möchte, definiert das Alleinstellungsmerkmal der Grünen, Dinge in Zusammenhängen beschreiben zu können, Widersprüche stehen zu lassen und die Leser selbst zur Gestaltung ihrer eigenen politischen Agenda werden zu lassen. 

 

Das werde ich in einer Fragehaltung lesen

Meine eigene Meinung: Ich werde mir die Kapitel über Demokratie, Partizipation, Wissenschaften und Wissenschaftlichkeit genauer durchlesen. Sicher gibt es dort viel zu sagen, über die Grenzen derselben. Das grundsätzliche Primat der Politik bricht sich an der Fähigkeit, Realitäten, z.B. die Realität begrenzter Gestaltungsmacht der Politik, offen einzugestehen. Dass Deutschland, Europa im Wettbewerb mit anderen Regionen und Systemen um die Nutzung UND Teilhabe an Ressourcen steht, dieser Gedanke scheint mir etwas unterbelichtet, dass Partizipation heute oftmals die systematische Organisation widerständiger und bürgerlich querulanter Mittelschichtsinteressen ist, bleibt naturgemäß nicht ausbuchstabiert. Dass eine Wissenschaftsorientierung schnell in eine Wissenschaftsgläubigkeit (und damit verbunden, die Entwertung erfahrungsbasiertem Spezialwissen) ist, kann in einem Grundsatzprogramm nicht ausführlich umrissen werden. 

 

Zu nah an Corona ist keine Lösung!

Schlecht finde ich übrigens die Einleitung. Typischer Zeitgeistreflex: Corona ändert die Welt nicht grundlegend. Corona führt meines Erachtens nur dazu, dass offensichtlich alle politischen und gesellschaftlichen Akteure ihre Wünsche und Ideale über Corona verschärft widerspiegeln. So auch hier. Die Welt ist keine andere. Klar ist die Dominanz des Wirtschaftlichen erst einmal gebrochen, aber die Folgen sind noch nicht wirklich abzusehen. 

 

Sehr reflexhaft, das Kapitel zu Gesundheit

Und in keinem Teil spiegelt sich dieser „Zeitgeistreflex“ stärker wider als in dem Kapitel „Gesundheit“. Da hätte die Parteiführung mal jemanden fragen können, der sich mit Gesundhet auskennt. Der Neoliberalismus jedenfalls ist an der Auszehrung des Gesundheitswesens nicht schuld. Die für Gesundheit ausgegebenen Gelder wachsen jährlich, die Privatisierung der Krankenhäuser ist eine Folge der Unfähigkeit politischer Strukturen, Steurungsfähigkeit herzustellen. Es gibt auch nicht „die Politik“, sondern Politiker auf verschiedenen Ebenen. Kommunalpolitiker, Landespolitiker und Bundespolitiker. Landespolitik ist für die Krankenhausplanung und die Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser zuständig. Während eine zukunftsorientierte Krankenhausplanung unterlassen wurde, verständlicherweise fürchten sich Kommunalpolitiker vor einer Schließung, die Überführung einer Krankenhausplanung in eine Versorgungsplanung verschleppt wird und die notwendige Investitutionsquote seit JAHRZEHNTEN nicht erreicht wurde, sind private Krankenhauskonzerne in diese Lücke geprungen und haben oftmals aus defizitären und verrotteten Kliniken funktionierende Einrichtungen gemacht. Und das mit eigenem Geld. Es gibt auch andere Beispiele, aber es wäre die Aufgabe der Politik, sich über die eigene Verantwortung Gedanken zu machen. Gemeinwohlziele können auch verfehlt werden, wenn der Gesetzgeber aus intellektuellem Unvermögen oder aus Konfliktangst (oder weil die korporatistischen Strukturen dem Grundsatz hudigen: Man trifft sich immer dreimal) versagt. 

 

Aber wie gesagt, es ist eine Kritik an einem seit langem vernachlässigten (und sehr komplexen) Politikgebiet. 

 

Und das Programm soll ja öffentliche Debatten fördern. 

 

Und das ist auch gut so!

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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