Dem kann man nichts hinzufügen. Die Botschaft, frei übersetzt: Eine zunehmende Weilgesellsxahft hat Grossrisiken. Neben dem atomaren, den Finanzrisiko, dem Terrorrisiko ist jetzt das Freiheitsrisiko hervorgetreten. Allen Risiken gemeinsam ist, dass ihnen keine Institutionen gegenüberstehen, die diese Risiken, die allesamt technologische Risiken sind, regeln könnten.
Wenn also Institutionen nicht vorhanden sind oder in ihrer Rolle als Akteure (natürlich hätte auch die deutsche Regierung Snowton Asyl anbieten können, sie hätte aber dazu Auseinandersetzungen riskieren müssen) versagen, bleibt nur das freie Individuum, der Weltbürger als Rettungsanker. Also: Strafrechtsfreiheit für Wistleblowing.
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FAZ, SAMSTAG 20. JULI, 2013
Digitaler Weltstaat oder digitaler Humanismus?
Über die unsichtbare Katastrophe, den Widerstand jedes Einzelnen und die Notwendigkeit einer Whistleblower-Gewerkschaft
Herr Beck, Sie sagen, es gibt ein neues digitales Kapitel in der Weltrisikogesellschaft. Wie meinen Sie das?
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir eine Reihe von weltöffentlichen Risiken kennengelernt: das Kernkraftrisiko, das Finanzrisiko, der 11. September und der Terror – und nun das digitale, globale Freiheitsrisiko. In gewisser Weise sind alle diese Risiken Teil einer technologischen Entwicklung. Sie sind auch Teil von Befürchtungen, die man während der Modernisierungsphase dieser neuen Technologie jeweils geäußert hatte. Plötzlich aber kommt es zu einem Ereignis, an dem diese Risiken weltöffentlich zum Problem wird, so wie jetzt beim Freiheitsrisiko.
Sie denken an die Enthüllungen durch Edward Snowden.
Ja. Beim Kernkraftrisiko haben die Reaktorunfälle in Tschernobyl und später in Fukushima öffentliche Diskussionen angestoßen. Beim digitalen Freiheitsrisiko haben wir es aber mit einer ganz anderen Logik zu tun: Hier war nicht der Katastrophenfall ausschlaggebend, denn die Katastrophe wäre ja die durchgesetzte Kontrollhegemonie auf globaler Ebene – das heißt eigentlich das Verschwinden des Risikos im Selbstverständnis des durchgesetzten Informationsmonopols.
Sie meinen also, die Katastrophe wäre eingetreten, aber niemand hätte es bemerkt, weil es niemand bemerken konnte. Das wäre es dann auch, was das Freiheitsrisiko strukturell von den anderen Risiken unterscheidet.
Richtig, die Katastrophe wäre der Fall, in dem das Katastrophale als solches gar nicht mehr erkennbar ist. In unserem Fall wurde die mögliche Katastrophe nur dadurch bewusst, dass ein einzelner Geheimdienstexperte der Vereinigten Staaten mit den Mitteln der Informationskontrolle selbst das Risiko weltöffentlich sichtbar gemacht hat. Das bedeutet eine völlige Umkehrung der Verhältnisse.
Was bedeutet das für das Risikobewusstsein des Einzelnen?
Es macht das Risikobewusstsein äußerst fragil, weil es sich nicht, wie bei den anderen globalen Risiken, auf eine physisch und real in Raum und Zeit existierende Katastrophe hin orientiert, daraus hervorgeht und immer wieder darauf bezogen wird. Es bricht ja eigentlich nur die vorhandene Selbstverständlichkeit plötzlich auf, das fast zur Zweiten-Natur-Werdende der Kontrollmöglichkeiten der modernen Informationssysteme. Durch dieses Sichtbarmachen stößt es aber immer wieder auch auf Widerstände. Man kann das nochmal in einer anderen Weise klar machen: Zunächst haben alle globalen Risiken einige Merkmale gemeinsam.
Welche?
Alle machen auf die eine oder andere Weise die globale Interdependenz alltäglich erfahrbar. Alle sind in einem besonderen Sinne global, das heißt, sie beruhen nicht auf räumlich, zeitlich und sozial begrenzten Unfällen, sondern auf räumlich, zeitlich und sozial entgrenzten Katastrophen. Und alle sind Nebenfolgen der Erfolge der Modernisierung, die rückwirkend die bisherigen Institutionen der Modernisierung in Frage stellen. Im Falle des Freiheitsrisikos sind das die nationalstaatlichen Kontrollmöglichkeiten der Demokratie, in den anderen Fällen die Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Versicherungsschutz und so weiter. Außerdem haben alle diese Risiken gemeinsam, dass sie sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Es entsteht ein „clash of risk cultures“, um den Begriff von Huntington zu variieren. Wir haben es jetzt, so könnte man es zugespitzt sagen, mit einer Inflation drohender Katastrophen zu tun, wobei die eine Katastrophe der anderen den Rang abzulaufen droht.
Das globale Terrorrisiko sticht das Freiheitsrisiko?
Ja, das ist eines der zentralen Hindernisse dafür, dass das digitale Freiheitsrisiko überhaupt öffentlich anerkannt und zum Gegenstand von öffentlichem Handeln gemacht wird.
Aber wir sind doch gerade dabei, dieses Risiko öffentlich anzuerkennen.
Ja, jetzt gerade, aber in einem sehr eingeschränkten Maße. Und diese Anerkennung ist eben möglicherweise sehr fragil. Wenn man überlegt, welcher machtvolle Akteur eigentlich ein Interesse daran hat, dieses Risiko öffentlich bewusst zu halten und entsprechend zum politischen Handeln zu motivieren, dann würde einem als Erstes der demokratische Staat einfallen. Da macht man aber den Bock zum Gärtner. Gerade der Staat ist ja derjenige, der diese hegemoniale Macht in der Verschmelzung mit den digitalen Großkonzernen errichtet hat, um sein Urinteresse an nationaler und internationaler Sicherheit zu optimieren. Dies jedoch könnte ein historischer Schritt weg vom Nationalstaatenpluralismus hin zu einem digitalen Weltstaat sein, der sich von allen Kontrollen „emanzipiert“ hat.
Was ist mit dem Bürger selbst?
Er wäre der zweite Akteur, den man ins Feld führen könnte. Allerdings sind die Nutzer der neuen digitalen Informationsmedien ja gleichsam zu Cyborgs geworden. Sie nutzen diese Medien als Sinnesorgane, die Medien gehören zum Selbstverständnis ihres Handelns in der Welt. Gerade die Facebook-Generation gibt damit einen großen Teil ihrer individuellen Freiheit und ihrer Privatsphäre preis – im Sinne der Abhängigkeit von diesen Medien.
An welche Kontrollinstanzen denken Sie noch?
An das deutsche Grundgesetz. Im Artikel 10 heißt es allerdings: Das Post- und Fernmeldegeheimnis ist unantastbar. Das liest sich wie ein Satz aus einer untergegangenen Welt. Das passt nicht zur Globalisierung der heutigen Kommunikations- und Kontrollmöglichkeiten. Das heißt, wir haben in Europa vorbildliche Kontrollorgane, eine Reihe von Institutionen, die versuchen, die Grundrechte gegen diese Übermacht durchzusetzen, etwa das Bundesverfassungsgericht, Datenschutzbeauftragte, Parlamente. Aber alle diese Institutionen, und das ist jetzt die Paradoxie, auf die es meines Erachtens ankommt, alle diese Institutionen versagen – selbst, wenn sie funktionieren. Denn die Mittel, die sie zur Verfügung haben, sind auf den nationalstaatlichen Raum begrenzt. Wir haben es hier aber mit globalen Prozessen zu tun, vor denen ihre Eingriffsmöglichkeiten einem anderen Jahrhundert entstammen. Das ist übrigens ganz üblich für alle globalen Risiken: Die rationalen Antworten und die politisch-rechtlichen Mittel, die wir in den Institutionen haben, passen nicht zu den Risiken und haben keine richtige Durchschlagskraft.
Das klingt sehr pessimistisch.
Trotzdem muss man eigentlich noch weiter gehen und fragen, ob wir als Sozialwissenschaftler, Alltagsmenschen und Benutzer dieser digitalen Informationsinstrumente überhaupt schon angemessene Begriffe haben, um zu beschreiben, wie tief und grundsätzlich durch sie Gesellschaft und Politik verändert werden. Ich glaube nämlich, dass wir alle noch keine Namen, keine Landkarte und keinen Kompass für diese neue, digitale Welt haben. Das passt wiederum generell zur Situation der Weltrisikogesellschaft: Wir sind durch die Erfolge der Modernisierung, die eskalierende technologische Evolution in Bereiche und Handlungsmöglichkeiten katapultiert worden, für die wir noch nicht einmal angemessene Beschreibungen haben.
Können Sie das für das Freiheitsrisiko einmal genauer erklären?
Wir reden ja immer davon, dass ein neues digitales Imperium entsteht. Aber keines der historischen Imperien, die wir kennen, das der Griechen oder der Perser, hatte die Eigenschaften, die das heutige digitale Imperium kennzeichnen. Dieses digitale Imperium beruht auf Merkmalen der Moderne, die wir noch gar nicht richtig durchdacht haben. Es beruht weder auf militärischer Gewalt, noch besitzt es die Kapazität für eine politisch-kulturelle Integration über Entfernungen hinweg. Es verfügt aber über die extensiven und intensiven Kontrollmöglichkeiten in einer Breite und Tiefe, die letztlich alle individuellen Präferenzen und Schwächen offenlegen – wir alle werden gläsern, durchsichtig. Diese Kontrollmöglichkeiten werden mit dem bisherigen Begriff des Imperiums aber gar nicht angesprochen. Und es kommt jetzt diese wesentliche Ambivalenz dazu: Wir haben riesige Kontrollmöglichkeiten und gleichzeitig eine unvorstellbare Verletzlichkeit dieser digitalen Kontrolle. Keine Militärmacht, kein Aufstand, keine Revolution, kein Krieg gefährdet das Kontrollimperium, sondern ein einziges, mutiges Individuum, ein dreißig Jahre alter Geheimdienstexperte bringt es ins Wanken, und zwar, indem er das Informationssystem gegen sich selbst wendet. Die Unvorstellbarkeit der Kontrolle und die unvorstellbare Verletzbarkeit derselben sind also die zwei Seiten desselben.
Was folgt aus der Verbindung zwischen inflationären Risiken und der Orientierungs- beziehungsweise Sprachlosigkeit?
Es gibt in diesem hyperperfekten System der Kontrolle eine Widerstandsmöglichkeit des Einzelnen – die gab es zuvor in keinem anderen Imperium. Das zeigt die Gegenmacht, die mutige Personen haben können, wenn sie in ihrem Beruf Widerstand ausüben. Eine der großen Fragen ist also, ob wir nicht in diesen digitalen Großkonzernen, man könnte sagen, eine Whistleblower-Gewerkschaft und vor allen Dingen auch eine Pflicht zum Widerstand im Beruf rechtlich durchsetzen müssen, zunächst vielleicht national, dann auf europäischer Ebene.
Der Ottonormalverbraucher verfügt aber – anders als Snowden – über weit weniger Wissen, was die Struktur und die Macht des von Ihnen so genannten Imperiums angeht.
Man muss sicher unterscheiden, wer die einzelnen Menschen sind. Gerade die nächste Generation, die die sozialen Netzwerke zur Verlängerung ihres Kommunikationskörpers gemacht hat, ist in dieses System gleichsam physisch hineingewachsen. Die Möglichkeiten zu nutzen, die es bietet – von der Organisation von Protestbewegungen über globale Kommunikation bis zu digitalen Liebesbeziehungen –, ist Teil ihrer Weltauffassung geworden, aber ohne dass sie bislang die Kontrollmöglichkeiten der Systeme fürchtet.
Das hieße, dass das Risiko einer Verletzung der Freiheitsrechte anders bewertet wird als eine Verletzung, etwa gesundheitlicher Art, die vom Klimawandel ausgehen könnte.
Die Verletzung der Freiheit schmerzt nicht, man spürt sie nicht, man erlebt keine Krankheit, keine Überflutung, keine Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt. Die Freiheit stirbt, ohne dass die Menschen physisch verwundet werden. In allen politischen Systemen ist das Versprechen auf Sicherheit der eigentliche Kern der staatlichen Gewalt und Legitimation. Während Freiheit immer zweitrangig ist oder wirkt. Dabei ist, gerade von meinem Standpunkt als Soziologe aus gesehen, das Freiheitsrisiko das fragilste Risiko unter den bisherigen globalen Bedrohungen.
Und wie müsste man darauf nun politisch reagieren?
Es kommt darauf an, dass wir so etwas wie einen digitalen Humanismus formulieren. Man müsste das Grundrecht auf Datenschutz und digitale Freiheit zu einem globalen Menschenrecht machen und versuchen, dieses Recht wie andere Menschenrechte auch gegen Widerstand durchzusetzen.
Ginge es auch eine Nummer kleiner?
Nein, es geht nicht geringer. Es gibt keine geringere Zielsetzung. Das, was wir augenblicklich immer hören, ist ja, dass man jetzt neue technische Möglichkeiten nutzen sollte, um sich gegen die Übergriffe der Überwacher abzuschirmen. Das würde aber erstens bedeuten, dass wir ein globales Problem individualisieren. Und zweitens liegt die Katastrophe ja gerade darin, wie schon gesagt, dass die Katastrophe verschwindet, dass sie unsichtbar wird, weil die Kontrolle immer perfekter wird. Das würde gerade in dem Maße geschehen, in dem man ausschließlich technisch und individuell auf dieses Kontrollproblem reagiert.
Was fehlt, ist allerdings eine internationale Instanz, die solche Forderungen durchsetzen könnte. In diesem Punkt unterscheidet sich das Freiheits- auch nicht vom Klimawandelrisiko.
Das ist immer die Litanei: Der Nationalstaat kann es nicht. Es gibt keinen Akteur auf internationaler Ebene, der dafür in Frage kommt. Aber es gibt eine allgemeine globale Beunruhigung, das globale Risiko hat eine enorme Mobilisierungskraft, die alles in den Schatten stellt, was man früher hatte, zum Beispiel die Arbeiterklasse. Es käme darauf an, diese Unruhe, die in unterschiedlichem Maße durch soziale Bewegungen und politische Parteien einzelner Länder geht, politisch zu bündeln und auf die schon genannte Idee zulaufen zu lassen.
Aber lassen sich solche Normen global durchsetzen?
Gerade die Dauerreflexion über die Gefährdung von Freund und Feind könnte sehr wohl zu Prozessen weltweiter Normenbildung führen. Das Rechtsbewusstsein globaler Normen entstünde dann sozusagen im Nachhinein aus dem weltöffentlichen Entsetzen über ihre Verletzung. Wir sind in einer historischen Entwicklung, in der wir immer wieder an diese Stelle kommen. Wir brauchen eine transnationale Erfindung von Politik und Demokratie, die die Möglichkeit eröffnet, gegen die Dominanz der völlig verselbständigten Kontrollmonopole, demokratische Grundrechte wiederzubeleben und durchzusetzen.
Die Fragen stellte
Lena Bopp.
Im Gespräch: Der Soziologe Ulrich Beck