Günther Nonnenmacher beschreibt in seinem heutigen Kommentar gut die Folgen einer zunehmenden Politisierung der Gesellschaft: Der Flaschenhals Gutachter und Beiräte. Um Zustimmung zu politischen Entscheidungen zu bekommen, werden Gutachtergremien eingerichtet und Studien in Auftrag gegeben. Auftragnehmer übernehmen aber die Interessen der Auftraggeber in ihr Studiendesign. So wird Zukunft zurecht gebogen, und zwar unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst erfolgt.
Während Märkte über Erfolg oder Misserfolg selektieren, finden durch Gutachten als „falsche Wege“ prognostizierte Pfade einfach nicht statt. Sie können mithin auch ihre Fehler nicht eliminieren und somit Bewusstsein über notwendige Rahmenfaktoren entwickeln. Die eigeschlagenen Wege werden, je zentraler entschieden wird, immer alternativloser, weil die Gesellschaft ihre Fähigkeit zu Alternativen verliert. Und selbst wenn Gutachtenschlachten stattfinden, verliert die Gesellschaft die Kompetenz, Lösungen zu entwickeln. Jede potentielle Lösung muss erst durch den Korridor, vorab ihre Erfolge im Studien beschreiben zu können, bevor sie im Regelbetrieb eintreten. Was wir hier am schwerfällige , ideologisch hochgetrimmten politischen Zirkus Frankreichs beobachten können, dass das Reden über Erfolgsfaktoren (Wettbewerbsfähigkeit, Unternehmertum, Mut, Risikobereitschaft) die Erfolgsfaktoren nicht von alleine schafft.
Darüber nachzudenken, würde sich beispielsweise für das deutsche Gesundheitssystem lohnen.
Ein anderes Faktum ist mir auch noch aufgefallen, die beschworene Polarisierung der politischen Landschaft. Sie führt dazu, dass die scheinbare Alternativlosigkeit im politischen Sektor nicht existiert. Trotzdem aber ein Pyrrussieg. Denn letztlich müssen Parteien in der aktuellen Situation aller westeuropäischen Länder einen Changeprozess einleiten. Das bedeutet, unangenehme Wahrheiten verbreiten zu müssen, Privilegien beschneiden zu müssen, den Machtverlust zu riskieren. So wird die aufgebaute politische Kulisse zur falschen Kulisse. Wer vorab die Unangenehme Wahrheit sagt, wird abgestraft, wer hinterher das Notwendige tut, wird abgestraft. Rotgrün ist da ein Beispiel dafür. Ein starkes Argument dafür, auf große politsche Zukunftsvisionen zu verzichten und stattdessen darauf zu vertrauen, dass Mut und Einfallsreichtum schon zu neuen Lösungen führen werden.
Meine These: Je politisierter das gesellschaftliche Klima ist, je geringer die Sensibilität dafür ausgeprägt ist, dass Politik eben diese Change-Risiken nicht eingeht, desto härter wird die Landung. Das dezentrale Deutschland hat es da besser, hinter den scheinbar ideologischen Kulissen ist hier die Bereitschaft zum politischen Kompromiss grösser.
FAZ , 16. JANUAR 2014
POLITIK
Hollande in der Wirklichkeit
Von Günther Nonnenmacher
Frankreichs Präsident geht das Risiko einer Wende ein, weil er nichts mehr zu verlieren hat.
Präsident Hollande hat in seiner großen Pressekonferenz zum Jahresbeginn nicht von einer Wende gesprochen, und auch das Wort von einer Kurve („tournant“), das in den letzten Tagen, seit der Neujahrsansprache Hollandes, die Runde machte, kam ihm nicht über die Lippen. Er sprach nur davon, dass er die eingeschlagene Politik „beschleunigen“ wolle. Doch der französische Unternehmerverband wird gewusst haben, was er tat, als er seinen Vorsitzenden vorschickte, noch bevor Hollande konkrete Maßnahmen angekündigt hatte, um zu bekunden, dass die Wirtschaft bereit sei, auf den vom Präsidenten vorgeschlagenen „Verantwortungspakt“ einzugehen. In der Tat hatte Hollande bereits im vergangenen Jahr der Wirtschaft, was Steuern und Abgaben angeht, Erleichterungen zugesagt. Doch die waren in der administrativen Umsetzung kompliziert, und oft genug kassierte die Regierung mit der linken Hand einen Teil dessen wieder ein, was sie mit der rechten gegeben hatte.
Die nicht beim Namen genannte Wende, die Hollande jetzt vollzogen hat, ist, jenseits der angekündigten faktischen Erleichterungen für Unternehmen, vor allem eine geistige, genauer: eine ideologische. Hollande hat die Illusion aufgegeben, er könne der Wirtschaft etwas geben, ohne damit die Linke (von Teilen der eigenen Partei bis hin zu den Gewerkschaften) zu verprellen. Der Präsident hat sich nun zu einem sozialdemokratischen Programm bekannt, das dieser Linken als „sozialliberales“ Teufelswerk gilt.
Den Balanceakt, den er seit Beginn seiner Präsidentschaft aufgeführt hatte, hat Hollande aufgegeben, weil er ohnehin faktisch abgestürzt war – abzulesen am Zustand der Wirtschaft, vor allem aber daran, dass er sein Versprechen, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, nicht halten konnte. Seine ideologische Wende ist in Wahrheit der letzte Versuch, in seiner Amtszeit, die noch gut drei Jahre dauert, eine Wirtschaftswende hinzubekommen.
Es ist nicht sicher, dass dies gelingen wird, selbst wenn die Unternehmer, die schon dankbar dafür wären, von Teilen der Regierung (etwa dem Industrieminister Montebourg) nicht mehr als Arbeiterfeinde angeprangert zu werden, das Spiel zunächst mitmachen. Denn Hollande hat seine Persönlichkeit nicht ausgewechselt: Alle angekündigten Erleichterungen sollen von diversen Gremien – Räten, Kommissionen, Observatoren – auf ihre Wirkung begutachtet werden, als ob sich die Wirtschaftslage auf politischen Knopfdruck verändern ließe. Und er verlangt auch Gegenleistungen von den Unternehmen: Neueinstellungen, Lohnerhöhungen et cetera. Doch immerhin gibt es in Heller und Pfennig messbare Entlastungen, und die Gegenleistungen sollen zwischen den Sozialpartnern dezentral, also in den Branchen, je nach deren Lage, ausgehandelt werden.
Hollande hat noch einmal wiederholt, dass es substantielle Einsparungen im Haushalt geben werde, ohne dass er gesagt hätte, wie das ohne Leistungskürzungen abgehen soll. Andere Baustellen, die er aufmachen will, könnten sich bald als Planspiele für Luftschlösser erweisen. Das gilt beispielsweise für die Territorial- und Verwaltungsreform. Frankreich leistet sich da parallele Stränge, die teils miteinander verflochten sind, teils unkoordiniert nebeneinanderher wursteln und deshalb ungeheure Mittel verschlingen. Neben den traditionellen Départements sind im Zug einer Pseudo-Dezentralisierung beispielsweise Regionen eingeführt worden. Hollande will diesen Wildwuchs reduzieren. Aber jede dieser Gebietskörperschaften ist nicht nur mit Tausenden Beamtenstellen ausgestattet, sondern auch mit politischen Mandaten verbunden, die als Pfründen und Hebel für politischen Einfluss hochbegehrt sind. Da wird sich schnell weisen, dass Zusammenlegungen genauso unmöglich sind wie in Deutschland eine Neugliederung der Länder – in letzter Instanz kann das auch noch, wie im vergangenen Jahr im Elsass, am Lokalpatriotismus der Bewohner scheitern.
Mit seiner Wende ist Hollande jedenfalls ein hohes politisches Risiko eingegangen. Er hat sich damit faktisch von der nichtregierenden Linken abgeschnitten, ohne die er nicht gewählt worden wäre und die er für eine Wiederwahl braucht, und es ist nicht einmal sicher, ob ihm der linke Flügel der eigenen Partei – Leute, für die der Begriff Sozialdemokrat ein Schimpfwort ist – auf seinem Weg folgt.
Das ist der Fluch der politischen Polarisierung in Frankreich, die durch die Präsidentenwahl immer wieder reproduziert und vertieft wird. Die „großen Kandidaten“ erreichen im ersten Wahlgang nicht viel mehr als zwanzig Prozent und müssen deshalb für den zweiten alle die aufsammeln, die zunächst für Kandidaten von links- oder rechtsaußen gestimmt haben. Die politische Rechte intoniert dann, wie 2012 Sarkozy, Themen des Front National, der linke Kandidat muss von den Kommunisten bis hin zu den Trotzkisten zumindest zeigen, dass er das kleinere Übel ist. Wenn irgendwann die Wende unumgänglich wird, fühlen sich die Wähler von „den Politikern“ naturgemäß belogen und betrogen. Hollande geht dieses Risiko ein, weil seine Popularität auf einem Tiefstand ist und er nichts mehr zu verlieren hat. Er blickt dabei auch hilfesuchend nach Berlin.