Man kann es auch so sehen: Erst jetzt, nach dem Ende des realen Sozialismus, kann Idee des Sozialismus weiter reifen. Weil dann nämlich der real existierende Kapitalismus gegen die reine Idee des Sozialismus steht.
Und Ideen, deren Verwirklichung man nicht mehr kennt, können dann umso stärker erkenntnisstrukturierende schöne Blüten treiben.
Der aktuelle Koalitionsvertrag ist so ein fundamentaler Irrtum der Politik. Und, um dabei nicht in ein irgendwie geartetes politisches Lager geschoben zu werden, in anderen Konstellationen (schwarzgrün) wäre es ähnlich, in noch anderen (rotrotgrün) wäre es noch schlimmer.
Der 185 seitige Koalitionsvertrag atmet zwei Gedanken:
Erstens: Die Gesellschaft läuft nicht, wenn sich die Politik nicht einmischt.
Und so werden die Koalitionsverträge immer länger und länger. Früher, als alles noch besser war, gab es noch gar keinen Koalitionsvertrag. Und heute liest sich der Koalitionsvertrag wie ein Vier-Jahres-Plan.
Und zweitens: Wir müssen zur Klärung verschiedenster Fragen dringend „in Dialog mit der Wirtschaft“ gehen.
Wenn einer gar nicht weiter weiss, dann gründet er nen Arbeitskreis, könnte man sagen. Man kann sich aber auch fragen, was das genau bedeutet, wenn die Politik in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung meint, sie müsse in den verschiedensten Fragen „in Dialog gehen“.
Da kann man schon fragen, mit wem geht sie dann in Dialog. Und wer hat in diesen Dialogen welche Durchsetzungschancen, wer hat die Kraft, sich zu beteiligen. Wovon werden die Dialogbeteiligten dann abgehalten. Denn immer, wenn man das eine tut, kann man das andere nicht tun.
Diese Regierungserklärung ist das beste Beispiel dafür, dass es ein Bewusstsein über das Funktionieren unserer Wirtschaftsordnung in den Zeiten des Übergangs, und einen solchen stellt die globalisierte Ökonomie dar, überhaupt nicht gibt. Außer, vielleicht bei Wolfgang Schäuble.
Wie wirkt eigentlich der Gedanke, dass sich Politik aus Bereichen raushält, auf jeden von uns? Ganz ehrlich, wir finden das irgendwie befremdlich. Hat Politik nichts zu sagen? Hat sie keinen Gestaltungswillen? Nein, im Grunde wollen wir schon wissen, wohin es geht. Wenn wir dann genauer hinsehen, können wir aber feststellen, dass die Aussage, wohin es geht und was Politik in den nächsten vier Jahren zu tun hat, von den Spitzen beider Parteien kommt. Über 70 Personen haben die Vorstellungen der Parteien von der Gesellschaft in Worte gegossen. Selbstvergewisserung der Parteien nennen das dann die Experten, die Medien zerreißen sich vorher und nachher das Maul, wer sich da wie durchgesetzt hat.
Nils Minkmar hat sich im Feuilleton der FAZ jüngst Gedanken darüber gemacht, wofür diese Regierungserklärung steht. Seine Kernbotschaft: Man müsse mal verstehen, dass das Zeitalter der Polarisierung (doppelte Staatsbürgerschaft) zu Ende gegangen ist. Friede überall. Gut beobachtet, aber ich will mal nach vorne sehen und fragen, womit das erkauft wurde.
Letztendlich wurde das damit erkauft, dass auch die CDU den Allmachtsanspruch über die Gesellschaft erhoben hat. Der Strippenzieher der SPD, der gute alte Machnik, hat vor einigen Jahren über die Deutungshoheit der Politik gesprochen. Diese Deutungshoheit, die sie nun in den Augen der Medien, der Politik und der Bürgerinnen und Bürger innehat, ist es, was ihre Macht ausmacht.
Wenngleich die Deutungshoheit in unterschiedlichen Kreisen mit unterschiedlichen Assoziationen verbunden ist.
Die Wählerinnen und Wähler interpretieren diese Deutungshoheit als Gestaltungsmacht. Die Parteifunktionäre sehen das auch so, jedenfalls die von Linken, SPD und Grünen. Bei der CDU ist das, na ja, noch nicht ganz so, da spielt die Frage eine Rolle, dass man Papier doch nicht so genau nimmt. Noch nicht, die nächste Generation kann da schon anders sein.
Die Politik leitet aus dieser Deutungshoheit den Gestaltungsauftrag ab. Und weil sie den Gestaltungsauftrag sieht, fordert sie zunehmend mehr finanzielle Mittel ein. Manche direkt, über Steuererhöhung, andere setzen auf indirekte Effekte. Das sind Themen der Abteilung Taktik.
Der Gestaltungsauftrag kann nur dann erfolgreich erledigt werden, wenn Politik tatsächlich die Gestaltungsmacht hat.
Das hat sie aber immer weniger, weil abgeschlossene Staaten, abgeschlossene Gesellschaften, abgeschlossene Wirtschaft, Volkswirtschaft, schon längst Geschichte sind. Gerade in Deutschland.
Mit der Patchworkfamilie ist also die Patchworkgesellschaft und die Patchworkwirtschaft auf die politische Bühne gekommen.
Man kann es auch mit Naika Fouroutans „hybrider Identität“ durchbustabieren. Dann lautet es, dass die Migranten (und die Ossis) die Speerspitze der deutschen Gesellschaft darstellen. Speerspitze deshalb, weil sie hybride Identitäten entwickeln mussten und müssen. Und so entwickeln wir alle, wir Biodeutschen und Globalbürger, hybride Identitäten.
Wir stellen fest, unsere Begriffe passen nicht mehr, sie wirken eher wie Zwangsjacken. Wir sind herausgewachsen.
Wir werden, das nur mit Seitenblick auf die Europäische Gemeinschaft, nicht auf höherer Ebene hineinwachsen, wenn wir jetzt unser ganzes traditionelles Staatsverständnis, das immer von festen Grenzen ausging und einer echten Verfügungsgewalt der Obrigkeit, also von Staat und Justiz, auf höherer Ebene anwenden. Die globalisierte Welt sickert in unser Leben ein, sei es durch die abendlichen Fernsehnachrichten, sei es durch die Rumänin, die jetzt Oma und Opa pflegt, oder die europäische Grenzagentur Frontex, die ein Katz- und Maus-Spiel mit einwanderungswilligen Dritten spielt.
Wir brauchen den offenen Blick für neue Arrangements.
Wir stehen vor einer Reise ins Unbekannte.
Wir wissen heute nicht, wie die Welt übermorgen aussieht. Wegen Technologieentwicklung, wegen Demographie, wegen der Dynamik der anderen Länder und Kontinente, wegen der Dynamik anderer Wertsysteme, dem Brodeln der islamischen Kulturen, die wir nicht verstehen.
Das wissen wir alles nicht. Wir nicht. Aber die Politik weiss das. Und deswegen schreibt sie ihre Vier-Jahres-Programme.
In denen sie alles verspricht.
In der DDR hat das auch so angefangen. Nachdem die Planziele erstmals nicht erreicht wurden, hat man angefangen, die Zahlen zu fälschen. Es ist einfach einfacher, das Bild von der Wirklichkeit zu gestalten als die Wirklichkeit selber. Zumal man nicht weiß, wie sich die entwickelt. Sondern man nur weiß, dass man künftig weniger Ressourcen zur Verfügung hat.
So, das war eine erste Ahnung davon, dass wir heute, dreiundzwanzig Jahre nach dem Ende des Sozialismus, zunehmend auf sozialistische Weltverleugnung setzen. Die Deutungshoheit der Politik ist der erste Schritt dazu.
Die „Dialogrunden“ übrigens sind der zweite. Denn was bedeuten Dialogrunden denn eigentlich. Dass „man“ miteinander spricht. Aber jeder kann ja, selbst nach diesen Koalitionsverhandlungen, bei denen fast jeder mitgeredet hat, nicht mitsprechen, also gibt es strukturelle Verzerrungen.
Es redet die Politik mit denen, die da sind. Klein- und mittelständische Unternehmen sind nicht da oder haben, siehe CDU Mittelstandsvereinigung, nichts zu melden.
Gut, dass es den BDI gibt und den BDA, in denen die Großen das sagen haben. Gut, dass es alle diese schönen Konzernrepräsentanzen gibt. Und seine Lobbyisten. Die haben für alles ein offenes Ohr. Und immer eine Antwort.
Früher, als wir im Westen noch die Bücher des Ostens studiert haben, nannten manche das Staatsmonopolkapitalismus. Müsste man jetzt etwas umdenken, weil ja der Staat weniger zu sagen hat und deshalb gerne im Verbund mit den Konzernen segelt. Wir nennen es jetzt Patchworkglobalkapitalismus. Aber der Grundgedanke bleibt, dass große Konzerne definieren, was politisch vorrangig ist. Und alle Bereiche, in denen Großkonzerne eine große Rolle spielen, Infrastruktur, Finanzwirtschaft usw, damit dominieren.
Meine Hypothese, was gut wäre, wäre ja das Gegenteil: Eine wettbewerbliche Wirtschaft braucht eine Politik, die Rahmen setzt. Die manchmal entschieden ist, weil Unternehmen klare Rahmen brauchen, damit sie sich darauf einstellen können. Die aber nicht ständig mit ihnen reden wollen, weil sie wissen, dass sich Unternehmen auf ihre Märkte konzentrieren sollen. Und auf ihre Kunden. Nicht auf das Gerede in der Politik. Das entschleunigt nur. Deswegen ist Venture Capital besser als staatliche Forschungsprogramme, in denen zwei Jahre darüber geredet wird, was man tun könnte, wenn man Geld hätte. Und sorgt dafür, dass die Dynamik der klein- und mittelständischen Unternehmen gebremst wird. Im Ernstfall auf französisches Niveau.
Das kann keiner wollen.