Der Lügner Erdogan. Oder: Wer kämpft hier gegen wen?

Erdogan ist ein Lügner, ja. So viel Chuzpe, mit den Platzbesetzern über ein Moratorium zu reden, um dann über Nacht Knüppel aus dem Sack zu machen. Meine Wünsche und mein Herz gehören denen im Tränengas.

Daneben geht es mir aber um etwas anderes. Nämlich darum, welches Verhältnis politische, gesellschaftliche und kulturelle Macht zueinander gewinnen können. Und dass wir Westeuropäer besser erst verstehen und dann urteilen. Weil die Welt vielschichtiger ist als wir denken.

Die FAS, Michael Martens, hat in ihrer heutigen Ausgabe einen Beitrag geschrieben, der sehr illustrativ ist, indem, was er schreibt. Und was er auslöst. Was sagen denn all die politisch korrekten zu dem gebrochenen Deutsch, in dem Herr Geldi zitiert wird? Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Worum es hier geht, ist, wer sind die guten, wer sind die Bösen.

Für den Westen ist das klar. Die Demonstranten, weil sie auf bürgerliche Freiheiten pochen. Der Beitrag zeigt, dass dass eben nicht so einfach ist. Weil Erdogan es geschafft hat, die kemalistisch verseuchte und stagierende Wirtschaft durch eine neue aufstrebende Unternehmerklasse, die islamisch provinziell gläubige aktive Unternehmergesellschaft zu wecken und zu formieren. In atemberaubender Geschwindigkeit bilden sich jetzt rund um die islamisch gläubigen Politiker Netzwerke, auch Unternehmernetzwerke, mit allem, was dazugehört. Patronage und Bestechung, wenn es notwendig ist. Macht bedeutet politische Macht, wirtschaftliche Kraft und kulturelle Hegemonie.

Darum geht es in der türkischen Gesellschaft: Kulturelle Hegemonie. Und weil sich die Lager so unversönlich gegenüber stehen, kracht es jetzt, entzündet an einem Park. Und, ja, Erdogan hat gelogen, hat das Wort gebrochen, ob das relevant ist, hängt davon ab, ob die Bevölkerung, und zwar über den kemalistisch bürgerlich-militärischen Kern der türkischen Gesellschaft hinaus empört ist. Der Kampf um die Hegemonie hat seinen gewaltsamen Ausdruck gefunden und es entscheidet sich jetzt, ob sich die Gesellschaft weiter polarisiert oder wieder mehr zusammen findet.

Das nachfolgende Interview reflektiert das anders als die klassische westliche Denkweise. Deshalb ist es ein außergewöhnlich tiefenscharfes Interview. Und der Mut, die Zitatteile in gebrochenem Deutsch wieder zu geben, verstört einen, weil man einerseits das Gefühl spürt, mein Gott, warum kann der denn noch immer kein Deutsch, und da schwingt dann etwas Verachtung mit. Und andererseits nimmt Herr Geldi doch genau wahr, was ist. Insofern ist der Beitrag auch in engem Bezug zum vorangegangenen zu sehen. Worum geht es bei der Frage politischer Macht. Und wie beurteilt man das am besten (oder erst mal nicht). Und was spielt denn da unterbewusst noch eine Rolle bei dem, wie man es wahrnimmt und bewertet.

Jaja!

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F.A.S., Sonntag, den 16.06.2013POLITIK 2
Ruhig lebe wollen. Eigene Problem genug

Nicht alle Türken sind gegen Erdogan. Genaugenommen sind sogar viele für ihn. Sehr viele. Man muss nur dahin gehen, wo sie leben. Zum Beispiel nach Kasimpaşa, ein rauhes Arbeiterviertel von Istanbul. Da wuchs der Mann auf, der heute das Land regiert. Von Michael Martens

Arglos. Das ist vielleicht das beste Wort, um Herrn Geldi zu beschreiben. Einer, der nichts Böses im Schilde führt und von anderen nichts Böses erwartet. Herr Geldi stand neben der Büyük Camii von Kasimpaşa, der Großen Moschee, als wir zufällig ins Gespräch kamen. Kasimpaşa ist ein Hafenviertel in Istanbul. Hier leben etwa 100 000 der mehr als vierzehn Millionen Menschen, denen Istanbul Heimat ist. Herr Geldi wurde am 9. Januar 1942 in Kasimpaşa geboren, so steht es in seinem Ausweis. Er wuchs im Gassengewirr des Viertels auf, bevor er 1966 nach Deutschland ging. Derzeit ist er zu Besuch bei Verwandten, aber er vermisst sein Haus in Bobingen bei Augsburg und ist froh, als sich unverhofft die Möglichkeit eines Gesprächs auf Deutsch bietet.

Von welche Stadt sind Sie? Hamburg? Kenn ich Hamburg bitteschön! Meine Schwester wohnt Schwarzenbek! Ich bin geworden Besuch in Hamburg! Gehen wir trinken Tee! Da vorn ist Teestube, wir sitzen uns, können wir sprechen bisschen.

Herr Geldi redet so temperamentvoll, dass man sich nach jedem seiner Sätze ein Ausrufungszeichen denken muss, um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, wie er spricht. Obwohl er schon seit 46 Jahren in Deutschland lebt, ist seine Grammatik noch etwas schwach. Herr Geldi bringt praktisch keinen Satz unfallfrei zu Ende. Dafür ist sein Wortschatz ziemlich reich. Er kennt Worte wie „Streckzwirnerei“, „Siebdruckerei“, „Maschinenbauingenieur“, „Tilgungsfrist“, „Radioaktivität“ oder „Instantkaffee“.

Als ich in Deutschland erste Mal, wusste ich Deutsch gar nix! Habe ich Buch gehabt, aber Bücher und Dialekt – bitteschön, ganz anderes! Im Buch lesen: „Wie geht es Ihnen?“, aber Leute sagen: „Wie geht’s?“ In Türkei bin ich gegangen Schule fünf Jahre, fertig! Muss arbeiten. War ich zwölf Jahre, hab ich gelernt Holzschnitzer.

Herr Geldi klopft mit der flachen Hand auf das niedrige Holztischchen, an dem wir sitzen. Mit Holz kennt er sich aus, soll das heißen.

Wer wollen Blume haben, Rose haben, Blätter haben auf die Möbel – bitteschön, kann ich schnitzen! Habe ich in Deutschland aber gearbeitet in Streckzwirnerei. Nix genau 30 Jahre, und dann Frührente. Habe ich gearbeitet bei Farbwerke Hoechst. Gab es größe Werk in die Bobingen.

Kasimpaşa hatte bis vor wenigen Jahren keinen guten Ruf in Istanbul. Ein Armeleuteviertel. In der türkischen Version von Monopoly ist Kasimpaşa, was in der deutschen Variante die Badstraße ist. Ganz unten. Aber das ändert sich. Istanbul boomt, und Kasimpaşa boomt mit. Seit das Wasser im Goldenen Horn nicht mehr stinkt, weil die Fäkalien geklärt werden, steigt der Wert der Immobilien in Kasimpaşa. Außerdem hat das Viertel einen mächtigen Förderer: Recep Tayyip Erdogan, den türkischen Ministerpräsidenten. Zwölf Jahre nach Herrn Geldi wurde er in Kasimpaşa geboren und wuchs dort auf.

Früher war schöner hier. Nicht so viel Haus! Meine Kindzeit Straße gespielt! Gab es in Kasimpaşa Haus, die Obstbäume haben! Heute nur schauen Beton. Was ist schön, Natur oder Beton? Natur bitteschön! Wo ist heute Stadion, früher war Bäume und wenn heilige Feiertage von Ramasan war Festplatz.

Auf dem Festplatz seiner Kindheit steht heute das Recep-Tayyip-Erdogan-Stadion des Kasimpaşa Spor Kulübü. Als Erdogan 2003 Ministerpräsident wurde, spielte der Fußballkulübü von Kasimpaşa noch in der vierten Liga, doch längst ist er in der ersten angekommen. Gerade hat er seine bisher beste Saison hinter sich, Platz sechs. Aber wir wollen mit Herrn Geldi nicht über Fußball reden, sondern über Gut und Böse. Und über Tayyip Erdogan natürlich. Denn wer den mächtigsten Mann der Türkei nicht nur verdammen, sondern auch verstehen will, wer ergründen will, wie er wurde, was er ist, sollte mit den Leuten reden, die sind, wie er war. Mit den Leuten aus dem schroffen Arbeiterviertel am Goldenen Horn, in dem Erdogan aufwuchs.

Es lohnt sich zum Beispiel, mit den Leuten von Kasimpaşa über Familienwerte zu sprechen. „Ich bitte die Mütter und Väter, ihre Kinder bei der Hand zu nehmen und sie fortzubringen“, hat Erdogan am Donnerstag gesagt, als er die endgültige Beendigung der Proteste auf dem Taksim-Platz durch einen Polizeieinsatz ankündigte. Für westliche Ohren klang es bestenfalls seltsam, dass da ein Regierungschef forderte, die Eltern sollten ihre oft schon volljährigen Kinder wie Erstklässler an die Hand nehmen und nach Hause holen. Hat der Mann sich im Jahrhundert geirrt? Doch Erdogan sagt nur das, was in Kasimpaşa bis heute viele für richtig halten. Dass selbst erwachsene Kinder tun, was ihre Eltern von ihnen verlangen, findet Herr Geldi normal. Er kennt es nicht anders.

Ich will nicht nach Deutschland, aber meine Vater war vorgeschlagen. Meine Vater keine Schule gewesen, Zeitung kann nicht einfach lesen, aber viel wissen! Sagt er mir: „Schau, Türkei wo laufen niemand wissen. Wie wird Dir gehen? Du gehst Deutschland, heiratest und bleibst.“ War ich 24 Jahre, wie nach Deutschland kommen. Fünf Jahre später heiraten Frau von Türkei. Mama hat gerufen: „Komm Istanbul, schauen, ein Mädel hier haben, musst Du heiraten.“ Sag ich: „Will nicht!“ Sagen Eltern: „Musst!“ Gut, hab ich heiraten, bitteschön.

Herr Geldi lacht, er lacht fast so oft, wie er „bitteschön“ sagt. Ist er zufrieden mit der Frau, die seine Mutter für ihn fand? Herr Geldi macht eine vielsagende Handbewegung, spricht aber mit so starkem Akzent, dass nicht klar wird, was sie bedeutet.

Guck ich immer türkische Fernsehen. Frau immer türkisch schauen, so ich müssen auch. Vormittag bis Nacht ist Fernsehen an. Langweilig, aber Ruhe! Wenn Frau Ruhe – besser.

Mit seiner Frau hat Herr Geldi drei Kinder. Dass ist die Mindestzahl an Kindern, die eine türkische Frau gebären soll, so hat es Erdogan gesagt. Der Ministerpräsident hat ein Kind mehr als Herr Geldi. Wie Erdogan legt auch der Familienvater Geldi Wert auf Bildung für seine Kinder. Es stimmt nämlich nicht, dass die einfachen türkischen Muslime deren Bedeutung nicht begreifen. Viele verstehen durchaus, dass Bildung der Schlüssel zum Aufstieg ist, und schuften sich krumm, damit ihre Kinder gute Schulen besuchen können. Auch die Mädchen.

Von meine Kinder erste und dritte ist Töchter, Mitte Sohn. Gott sei Dank alle drei studiert! Meine Kinder Bücherkinder. Studieren, studieren, studieren! Ist gut für Karriere haben. Schauen Sie, ich war auch nix Esel! Aber Deutschland kommen, Esel geworden! Hilfsarbeiter!

Dass seine Kinder anders als er nicht mit zwölf Jahren von der Schule gehen mussten, sondern die Universität besucht haben, erfüllt Herrn Geldi mit Stolz. Er erzählt gern von ihren Erfolgen.

Eine Tochter rechnungsfähig und BWL studieren! Jetzt arbeiten in die Kuka in Augsburg, vielleicht Sie haben gehört? Roberterfirma! Andere Tochter jetzt in Izmir. Sechs Sprache wissen! Universität bleiben! Sie will…

Herr Geldi stockt, er sucht nach einem Wort.

Wie sagt man, Universitätsleute was schreiben?

Ein Diplom?

Nein, höher!

Eine Doktorarbeit?

Ja, Doktor! Will sie Doktor schreiben, aber dann heiratet, kommt eine kleine Sohn, alles liegt am Boden, Karriere fertig.

Doch eigentlich sind Kinder natürlich wichtiger als Karriere, das wird deutlich, als Herr Geldi von seiner Tochter in der Roboterfirma erzählt, die zwar verheiratet ist, aber kinderlos. Die Tochter verreise oft mit ihrem Mann, habe viele ferne Länder gesehen, sagt Herr Geldi. Nur Kinder habe sie nicht, wie traurig. Doch was kann er tun? Kasimpaşa als geistige Lebensform bröckelt. Wenn Mädchen studieren, funktionieren sie später oft nicht mehr richtig, da kann man nichts machen. Die Welt von gestern, in der die Kinder taten, was die Eltern für richtig hielten, ist weder in Deutschland noch in Kasimpaşa zu halten. Die Kinder von Herrn Geldi wollen anders leben, die Enkel erst recht. Nirgends zeigt sich das in diesen Tagen so deutlich wie auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Anders als Tayyip Erdogan hat Sabahattin Geldi sich damit abgefunden, dass seine Kinder anders sind als er.

Sohn war Maschinenbauingenieur, aber leider krank geworden. Zu viel Computer! Doktor sagen so: Zu viel gearbeitet. Macht er im Gehirn Eiter. Neue Krankheit, diese heilen geht nicht.

Und was macht Ihr Sohn jetzt?

Macht er sitzen zu Hause und Geld kassieren! Er will nur anrufen eine Pizza fertig zu ihm kommen. Und Instantkaffee. Löffel Kaffee, Wasser, fertig. Wenn ich sage: „Recep, Rasen mähen!“, er nur sitzen.

Herr Geldi beugt sich vor, imitiert einen Menschen, der angestrengt auf einen Bildschirm starrt und etwas in eine Tastatur tippt.

Ich schimpfen, aber was kann machen Vater? Kann er machen nichts!

In diesem Moment erklingt vom Minarett der Großen Moschee der Gebetsruf, Herr Geldi wird unruhig. In der Türkei, fern von seinem Haus in der Hindenburgstraße 37

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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