Der weltbeste SPD-Versteher: Majid Sattar von der FAZ

Und deshalb lohnt es sich, seinen Beitrag über den SPD Parteitag zu lesen. Was deutlich wird: Gabriel hat die Lage der Partei begriffen (da ist er weiter als die GRÜNEN, die jetzt alle auf folgenlose Eigenständigkeit einschwören). Und weil er nicht auf seine Kraft der Rhetorik setzt, gibt er der Partei die Verantwortung dafür zurück, selbst zu begreifen, wo der gemeinsame Korridor ist, mit der rechter und linker Flügel gemeinsam aus der Situation herauskommen. Ich bin kein Freund ständiger Parteiplebizite, weil sich die Führung auch dahinter verstecken kann.

Aber hier ist es ernst mit der SPD und diesen Ernst hat Gabriel jedem einzelnen Mitglied vermittelt. Eine wirklich große Führungsleistung!

Der Beitrag:

FREITAG, 15. NOVEMBER 2013
POLITIK
In Zukunft alles anders
Sigmar Gabriel schont auf dem Leipziger Parteitag niemanden: sich selbst nicht, nicht seine Vorgänger und auch nicht seine Partei. Die SPD habe den Kontakt zu jenen Leuten verloren, von denen sie gewählt werden will. Von Majid Sattar
LEIPZIG, 14. November

Ein, zwei Sekunden muss Sigmar Gabriel die Nachricht sacken lassen. 83,6 Prozent der Delegierten des Bundesparteitages in Leipzig haben ihn soeben wieder zum SPD-Vorsitzenden gewählt – acht Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren. Applaus setzt ein, er hält lange an, heftig ist er nicht. Aber das kennt Gabriel schon. Die Parteigranden auf der Bühne gratulieren. Nun geht Gabriel ans Rednerpult, setzt ein Lächeln auf und dankt für das „außergewöhnlich ehrliche Ergebnis“, das für einen solchen Parteitag gut sei. Nach einer solchen Wahlniederlage, sollte das heißen, vor der nun anstehenden Entscheidung der Koalitionsverhandler in Berlin und der SPD-Mitglieder im Lande. Und womöglich auch: nach dieser Rede des Vorsitzenden.

Die Wahl Gabriels war kurzfristig um einen Tag nach vorn gezogen worden. Eigentlich sollte er mit dem gesamten Parteivorstand am Freitag gewählt werden. Zu Wochenbeginn hatte man aber entschieden, das Votum unmittelbar nach der Aussprache zu Gabriels Rede abzuhalten. Hoffte man so auf ein besseren Resultat? Man kann dem Vorsitzenden jedenfalls nicht unterstellen, am Donnerstag Risiken aus dem Weg gegangen zu sein.

Denn Gabriel beginnt seine Rede mit einer Entschuldigung. Einige Genossen erwarten eine zweieinhalbstündige Ansprache. Doch nicht etwa für die erwartete kubanische Länge bittet der Máximo Líder um Verständnis, sondern dafür, dass sie nicht so mitreißend werde wie sonst, sondern eher nachdenklich. Und in der Tat, Gabriel wird nun ohne die Beifallsstürme auskommen müssen, die sonst seine Reden meist unterbrechen. Er hat oft bewiesen, dass er in den schwierigsten Situationen die Delegierten eines Parteitags euphorisieren kann, so dass am Ende sogar seine Kritiker reumütig bekennen, die SPD verfüge über keinen Besseren als den „Siggi“. In Dresden vor vier Jahren etwa, hat er ein solches rhetorisches Feuerwerk entfacht. Damals hielt er nach der ersten schweren Wahlniederlage seiner Partei eine Rede, welche eine an sich selbst leidende Partei wiederaufrichtete. Am Ende wurde er mit einem nahezu kubanischen Ergebnis zum Parteivorsitzenden gewählt.

Nun in Leipzig, nach der zweiten schweren Wahlniederlage, entscheidet er sich für das Gegenteil. Gabriel hält eine schonungslose Rede, die den Delegierten etwas zumutet. Er spricht über die tieferliegenden Ursachen für das Wahlergebnis, das zweitschlechteste seit 1949. Und er nimmt damit in Kauf, dieses Mal mit einem weniger kubanischen Wahlergebnis im Amt bestätigt zu werden. Damit eines am Anfang klar sei, sagt Gabriel und dreht sich nach links, wo Peer Steinbrück sitzt: „Die politische Gesamtverantwortung für unser Wahlergebnis am 22. September trägt der Parteivorsitzende, trage ich.“ Der ehemalige Kanzlerkandidat Steinbrück hat kurz zuvor das Gleiche getan. Er sagte: Den Hauptteil der Verantwortung für die Niederlage trage der Spitzenkandidat.

Die vorausgeschickte Demut, das wird nun klar, ist der Rahmen für ein ziemlich düsteres Bild über die SPD, das der Vorsitzende malt: Es gebe eine „kulturelle Kluft“ zwischen den Funktionären der Partei und dem Kern der Arbeitsgesellschaft. Sozialdemokraten würden in Teilen der Gesellschaft nicht mehr als Anwalt der normalen Leute wahrgenommen: „Ganz klassische SPD-Wählerschichten“ hätten nicht mehr den Eindruck, „dass wir ihren Alltag und ihre Lebenssituation nicht nur nicht mehr kennen, dass uns ihr Leben nicht nur fremd geworden ist, sondern – was am schlimmsten ist – dass wir sie auch nicht mehr ernst nehmen, dass wir keinen Respekt mehr vor ihrem Leben haben“. Da ist es mucksmäuschenstill in der Messehalle jener Stadt, in der vor 15 Jahren Gerhard Schröder gleichsam in einer Krönungsmesse zum Kanzlerkandidaten gekürt worden war.

Gabriel schont seinen Vorgänger in seiner Rede nicht, mehrmals geißelt er die Basta-Politik der elf Regierungsjahre, nennt sie gar „die vielleicht schwerste Last in unserer Partei, die wir aus der jüngeren Vergangenheit mit uns herumschleppen“. Noch am 22. September hatte er davon gesprochen, dass es offenbar mehr als vier Jahre brauche, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Auch dieser Hinweis war der Versuch einer Verantwortungsdelegation an Schröder und den abwesenden Franz Müntefering, den er wegen der „Rente mit 67“ und der Mehrwertsteuererhöhung angriff. All das, Politik von oben nach unten, dürfe es nicht wieder geben, sollte es 2013 wieder zu einer großen Koalition kommen. Alles soll diesmal ganz anders werden.

Gabriel belässt es aber nicht dabei, mit dem Finger auf seine Vorgänger zu zeigen. Der Vorsitzende blickt den Delegierten tief in die Augen und sagt recht deutlich, dass die SPD Milieukontakt verloren hat und nun wieder für eine „neue soziale Mitte“ Politik machen müsse. So scharfsinnig Gabriels Analyse ist, seine Schlussfolgerungen bleiben in Leipzig – noch – Stückwerk: Die SPD müsse die kulturelle Kluft zu den Marginalisierten überbrücken, aber auch das Erbe der FDP antreten, und einen richtigen, sozialen Liberalismus vertreten. Und irgendwie müsse man auch die „Generation Y“ ansprechen, jene jungen, gut ausgebildeten Leute, die eher postmaterialistische Lebensziele verfolgten. Das ist nicht wenig. Die Diskussion hat gerade erst begonnen.

Gabriel hat Teile dieser Rede in den vergangenen Wochen geübt. Auf dem Landesparteitag in Berlin, einer dezidiert linken Gliederung der Partei, in der die Ablehnung einer großen Koalition besonders ausgeprägt ist, hatte er sich vorgenommen, den erwartbaren Widerstand zu brechen, indem er die Delegierten in ihren Gewissheiten verunsicherte. Auch in Leipzig warnt er vor „schnellen und scheinbar einleuchtenden Erklärungen“ für die Wahlniederlage. Der Vorsitzende kennt seine Partei und ihre Mechanismen, etwa die Fehleranalyse zum Instrument des Flügelstreits zu machen: Das Programm war richtig, der Kandidat also falsch. Oder: Das Programm war toll, aber die Glaubwürdigkeitslücke wegen der „Agenda 2010“ immer noch zu groß. Gabriel sagt nun, er bestreite gar nicht, „dass an beiden Erklärungen etwas dran“ sei.

Er erklärt aber den Genossen, was ihm und dem Parteivorstand nach der Wahl selbst von Sozialforschern erklärt worden war: Der SPD werden sowohl zu wenig Wirtschaftskompetenz als auch zu wenig Glaubwürdigkeit in Fragen der sozialen Gerechtigkeit zugeschrieben. Das muss Parteilinke ebenso verunsichern wie Parteirechte. Gabriel will mit seinem Vortrag die Neigung insbesondere von Parteilinken ersticken, aus der Niederlage die Folgerung zu ziehen, nun lieber in der Opposition Programmpapiere zu verfassen, die der reinen Lehre entsprechen. Lieber möchte er zumindest in Teilen sozialdemokratische Regierungspolitik durchsetzen.

Gabriel bemerkt an zwei Stellen seiner Rede, in der einige Genossen zum Applaus ansetzen, deren Klatschen aber die meisten anderen nicht zum Mitmachen bewegt, dass seine Rede wirkt. Manuela Schwesig, die stellvertretende Parteivorsitzende, die zu Wochenbeginn einen ersten kleinen Eklat in den Koalitionsverhandlungen mit der Union riskierte, beschreibt in Leipzig die Stimmung zutreffend, wenn sie sagt, es seien nicht Bauchschmerzen, welche die Genossen mit Blick auf die große Koalition plage, sondern Magenkrämpfe. Gabriel aber hat nun die rhetorische Basis gelegt, den Delegierten zu bedeuten, dass er ihnen in der Koalitionsfrage keine Schmerzmittel offerieren kann, dass es auch nicht um das Befinden der Funktionäre geht, sondern um das Leben der Friseurin, der man im Wahlkampf einen Mindestlohn versprochen habe, oder die Einwanderer, die auf die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft hofften. „Sollen wir dann am Ende sagen, wir lassen das sein, weil die Union zum Bespiel nicht mitmacht bei der Abschaffung des Ehegattensplittings?“

Gabriel hat nun anderthalb Stunden gesprochen. Früher als erwartet kommt er zum Ende. Der Applaus ist lang, doch nicht euphorisch. Der Vorsitzende geht schnell zu seinem Platz und blickt in ernste Gesichter. Die Aussprache zur Grundsatzrede beginnt Hannelore Kraft, jene Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Landesverbandes, die Gabriel nach dem 22. September das Leben ziemlich schwer gemacht hat. Als die Ministerpräsidentin aus Düsseldorf ihren Widerstand gegen eine große Koalition formulierte, hieß es im Willy-Brandt-Haus, „NRW“ laufe Amok. Nun freilich fügen sich die Dinge, und es wirkt so, als seien die Chaostage vom Rhein Teil einer kühlen Strategie gewesen. Denn in Leipzig erinnert Kraft an ihre großen Bedenken gegen ein abermaliges Bündnis mit der Union. Wenn nun aber selbst sie zu dem Ergebnis kommt, dass die Gespräche sich lohnten, dann muss das doch eigentlich auch den letzten Zweifler überzeugen. Freilich sagt sie wie zuvor Gabriel: 75 Prozent der Deutschen hätten nicht SPD gewählt, da könne man nicht 100 Prozent SPD-Politik erwarten.

Ein kleines Schmerzmittel gegen die Magenkrämpfe verteilt die Parteiführung am Ende doch: Der Parteitag soll am Donnerstag noch einen Leitantrag verabschieden, der den Genossen die Machtoption eines Bündnisses mit der Linkspartei eröffnet – konditioniert zwar, aber immerhin. Die Parteilinke ist zufrieden, doch kam für sie weder das Zugeständnis der Parteiführung nach zwei Bundestagswahlen ohne Kanzlerperspektive überraschend, noch übersehen sie die fortbestehenden Widersprüche im Umgang mit der Linkspartei. Freilich sind Vertreter der SPD-Linken amüsiert über die nachträgliche Deutung des Parteiestablishments, es habe nicht an der SPD gelegen, dass es keine Linksbündnisse auf Bundesebene gab, sondern ausschließlich an den Sozialisten. Wir haben gewonnen, heißt es in der Parteilinken, sollen die anderen ruhig Legenden über den Krieg erfinden.

Auch macht man sich keine Illusion darüber, warum die Parteiführung zu diesem frühen Zeitpunkt mit der Öffnungsklausel gegenüber der Linkspartei daherkomme: Mögen die Delegierten doch über die Machtoption für 2017 reden – und darüber die Realität des Jahres 2013 ein wenig vergessen. Diese Taktik, das zeigt Gabriels Wahlergebnis, geht nicht auf.

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Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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