Jermey Rufkin hat ein neues Buch geschrieben: Die empathische Zivilisation. Dort zeichnet er nach, wie sich die Welt verändert: Gefühlte Nähe ist nicht mehr reale Nähe, die Welt wächst, da hat er Recht, zusammen.
Das empathische Bewußtsein, was er postuliert, gibt es bereits: In der Bevölkerung. Wie viele junge Menschen gehen „weltwärts“, nach Afrika, weil sie diese Empathie bereits erspüren. Auch die Frage der technologischen Netzwerkrevolution als einen der Treiber neuen Bewußtseins ist richtig erkannt.
Soweit d’Accord. Was aus meiner Sicht allerdings unterbelichtet bleibt, ist die Frage, ob nationale Regierungen adäquat auf diese Herausforderungen reagieren. Denn Politik im nationalstaatlichen Sinne, also ökonomisch unterlegte Entwicklungsprogramme, werden die Welt nicht retten, eher die Korruption fördern. Aber hält das „empathische Bewußtsein“ eines Westeuropäers es aus, wenn über den Bildschirm Katastrophenbilder flimmern und er darauf verzichten soll, mit Hilfsgelder gewachsene Strukturen zu zerstören, also die westlichen Rettungstruppen des Roten Kreuzes als Pioniere der westlichen Zivilisation einmarschieren? Eine empathische Zivilisation braucht auch die Nüchternheit, nicht alles mit dem Herzen, sondern dem Verstand zu begreifen. Sonst wird aus Betroffenheit mehr kaputt gemacht als bleibt.
20100208 Berliner Zeitung
Die empathische Zivilisation
Wie die Dritte Industrielle Revolution unser Menschenbild verändert und die Welt retten kann / Von Jeremy Rifkin
Zwei spektakuläre Krisen des globalen Wirtschafts- und Regierungssystems, die im Abstand von nur 18 Monaten aufeinander folgten, markieren das Ende der alten Industriegesellschaft. Im Juli 2008 kletterte der Ölpreis auf 147 US-Dollar pro Barrel; Inflation und Preise schnellten weltweit in die Höhe; der globale Wirtschaftsmotor verstummte. Schuld war die wachsende Nachfrage nach fossilen Rohstoffen, die längst nicht mehr nur von den entwickelten Industrieländern ausgeht, sondern auch von China, Indien und anderen aufstrebenden Wirtschaftsnationen. Das Angebot deckte die Nachfrage nicht mehr, die globale Wirtschaft kollabierte. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte zwei Monate später war bloß eine Nebenwirkung dieses Ereignisses. Die fossilen Rohstoffe gehen zur Neige, und mit ihnen verschwindet die gesamte Infrastruktur der Welt, wie wir sie kennen.
Im Dezember 2009 versammelten sich Regierungsführer aus 192 Ländern in Kopenhagen, um Maßnahmen gegen die globale Klima-Erwärmung zu beschließen – jener dramatischen Spätfolge der fossilen Energiewirtschaft, auf der das nun zu Ende gehende Industriezeitalter gründete. Trotz jahrelanger Vorbereitungen einigten sie sich nicht mal auf eine Abschlusserklärung.
Weder die Politiker noch die Wirtschaftsführer der Welt haben das ökonomische Debakel des Juli 2008 vorhergesehen; auch sind sie bislang nicht in der Lage gewesen, wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen. Die gleiche Unfähigkeit beweisen sie in der Frage der Klima-Erwärmung – obwohl die Wissenschaftler weltweit davor warnen, dass daraus die größte Bedrohung der Menschheitsgeschichte erwachsen kann, bis hin zur völligen Auslöschung der Art.
Beide Probleme lassen sich nicht durch ein paar Reformen beheben, durch eine straffere Regulierung des Marktes oder abermals gesenkte Emissionsgrenzen. Der Grund der globalen Krise liegt tiefer – in jenem Bild der menschlichen Natur, an dem die Regierungsführer der Welt ihr Handeln ausrichten; ein Menschenbild, das die Philosophen der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert erschufen, in der Morgendämmerung des modernen Kapitalismus und der Nationalstaaten.
Menschenbild der Aufklärung
Die Aufklärungsdenker – John Locke, Adam Smith u.a. – räumten mit der mittelalterlichen Vorstellung auf, dass der Mensch ein schuldiges, gefallenes Wesen sei und Erlösung nur durch Gottes Gnade im Jenseits erlangen könne. Dem setzten sie ein Menschenbild entgegen, das von Willensfreiheit, Vernunft, Individualismus, Schöpferkraft und Eigennutz geprägt war; wenn der Mensch nach Erlösung suchen solle, so nicht im Jenseits, sondern in der Verbesserung seiner diesseitigen Lebensverhältnisse.
Das aufklärerische Menschenbild spiegelte sich in der Konstruktion des modernen Nationalstaats wider: Dessen Daseinsberechtigung lag einerseits im Schutz des privaten Eigentums und der Förderung der freien Marktwirtschaft – und andererseits darin, die Interessen der neuen Staatsvölker auf der internationalen Bühne durchzusetzen. Wie der moderne Bürger, wurde auch der Nationalstaat als autonomes Individuum angesehen, das mit anderen Nationalstaaten um den besten Zugang zu den natürlichen Rohstoffen konkurriert.
Sollte dieses Bild der menschlichen Natur einer unabänderlichen Wahrheit entsprechen – dann sind wir ohne Frage als Gattung zum Untergang verdammt: Wie sollen wir eine auf Nachhaltigkeit zielende globale Wirtschaft errichten und die Biosphäre regenerieren, wenn wir alle bloß Egoisten sind, die nur auf kurzfristigen Eigennutz zielen?
Aber es gibt Hoffnung: Das belegen jedenfalls neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der Entwicklungspsychologie, die das Menschenbild der Aufklärung in Frage stellen. Biologen und Kognitionswissenschaftler haben Spiegelneurone – sogenannte Empathie-Neurone – entdeckt, die es Menschen und anderen Lebewesen erlauben, sich in die Situation eines anderen Wesens hineinzuversetzen. Und der Mensch ist von allen Lebewesen das sozialste; die Suche nach Gemeinschaft und Austausch liegt fundamental in seiner Natur. Sozialwissenschaftler haben begonnen, die Geschichte der Menschheit unter dem Aspekt der Empathie neu zu betrachten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Evolution unserer Art eben nicht nur vom Willen zur wachsenden Naturbeherrschung getrieben wurde, sondern auch von der wachsenden Empathie mit Anderen über immer größere zeitliche und räumliche Entfernungen hinweg. Diese wissenschaftliche Erkenntnis wird, wie ich glaube, weitreichende Konsequenzen besitzen.
Was wir jetzt brauchen, ist die Erschaffung eines globalen Empathie-Bewusstseins in weniger als einer Generation – nur dann werden wir die Biosphäre erretten und die globale Wirtschaft auf ein neues Fundament stellen können. Die Frage ist jetzt: Was sind die Mittel, mit denen sich empathisches Verhalten im Verlauf der Geschichte herausgebildet hat und mit denen es nun ins Stadium der Selbstreflexivität gelangen kann?
Die Geschichte ist bislang immer dann an Wendepunkte gelangt, wenn neue Weisen der Energiegewinnung auf neue Kommunikationsformen trafen und daraus neue Wirtschaftssysteme entstanden. Mit komplexeren Formen der Kommunikation wurde es möglich, jene komplexeren Formen der Zivilisation zu regieren, die sich aus den veränderten Formen der Energiegewinnung ergaben. So ermöglichte erst die Technik des Buchdrucks die Organisation der auf Kohle, Dampf und Eisenbahnen gegründeten Ersten Industriellen Revolution – es ist unmöglich, sich eine Industrialisierung mit Pergamentrolle und Federkiel vorzustellen.
Kommunikationsrevolutionen dienen aber nicht nur zur Steuerung neuer, komplexerer Energiesysteme. Sie erweitern das menschliche Bewusstsein. Jäger-und-Sammler-Gesellschaften gründeten auf oraler Kommunikation und besaßen ein mythisch geprägtes Bewusstsein. Ackerbau-und-Viehzucht-Gesellschaften organisierten sich im Wesentlichen um schriftliche Kommunikation und besaßen ein religiös geprägtes Bewusstsein. Die Erste Industrielle Revolution des späten 18. und 19. Jahrhunderts gründete auf gedruckter Kommunikation und spiegelte sich in einem ideologisch geprägten Bewusstsein. Digitale Kommunikation hat die Zweite Industrielle Revolution im 20. Jahrhundert organisiert und die Grundlage für ein psychologisch geprägtes Bewusstsein gelegt.
Je avancierter und komplexer die Kommunikationsformen sind, desto größer, vielfältiger und komplexer sind die sozialen Strukturen, die daraus entstehen. Orale Kommunikation unterlag starken zeitlichen und räumlichen Beschränkungen, während Schrift, Druck und Digitalisierung die soziale Interaktion immer stärker ausdehnten und intensivierten. Damit reifte und intensivierte sich aber auch die menschliche Empathie. Ein Beispiel: In der von Pergament und Religion geprägten Ackerbau-und-Viehzucht-Gesellschaft weiteten sich die empathischen Gefühle von den Stammesverwandten auf sämtliche Mitglieder der eigenen Religion aus. Juden fühlten empathisch mit anderen Juden, Christen mit Christen, Moslems mit Moslems und so weiter. Während der Ersten Industriellen Revolution, geprägt durch Drucktechnik und Ideologien, weitete sich das empathische Empfinden auf nationale Gemeinschaften aus: Amerikaner fühlten empathisch mit anderen Amerikanern, Deutsche mit Deutschen, Japaner mit Japanern und so fort. In der Zweiten Industriellen Revolution, geprägt durch Digitalisierung und Psychologie, begannen sich die Individuen mit all jenen zu identifizieren, in denen sie Gleichgesinnte erkannten.
Heute stehen wir an der Schwelle zu einer weiteren Revolution des Energie- und Kommunikationssystems: Im Verlauf dieser Dritten Industriellen Revolution könnte sich die empathische Sensibilität auf die Biosphäre und das gesamte Leben auf der Erde ausdehnen. Die Revolution des dezentrierten Internet trifft auf ein dezentriertes System der Energiegewinnung, aus dem eine nachhaltige, postfossile Ökonomie entstehen kann, die gleichermaßen global vernetzt und lokal organisiert ist.
Im 21. Jahrhundert werden Millionen von Menschen ihre Wohnhäuser zu kleinen Kraftwerken umformen; sie werden regenerative Energie gewinnen, diese in Form von Wasserstoff speichern und überschüssige Elektrizität in lokalen, regionalen, nationalen, kontinentalen Netzwerken mit anderen Menschen teilen – in einer Struktur, die an unser jetziges Internet erinnert: Neben die Open-Source-Verteilung von Information tritt die Open-Source-Verteilung von Energie; und daraus entstehen neue Formen der Kooperation. Wenn jede Familie, jeder Betrieb die Verantwortung für seinen kleinen Teil der Biosphäre übernimmt und die selbsterzeugte regenerative Energie mit Millionen anderer Menschen über intelligente, interkontinentale Energienetzwerke teilt, werden wir alle auf der elementaren Ebene der Lebenserhaltung vernetzt.
Und diese neuen, dezentralisierten Formen der Kommunikation werden nicht nur die Form der Energieversorgung verändern, sondern auch das menschliche Bewusstsein. Die Revolution der dezentrierten Kommunikation erschafft ein neues Zentralnervensystem für Milliarden und Abermilliarden von Menschen und vernetzt die Gattung über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg. Das heißt aber: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen kann sich Empathie für Andere in einem globalen Maßstab ausbilden.
Ob der Sprung in die globale Empathie gelingt, hängt wesentlich davon ab, wie wir die dezentrierte Kommunikation in Zukunft zu nutzen verstehen. So fortgeschritten die Vernetzung der Menschen inzwischen auch sein mag – bislang hat uns ja niemand einen wahrhaftigen Grund dafür nennen können, warum wir uns eigentlich vernetzen sollten. Bislang schien es vor allem darum zu gehen, Informationen zu tauschen, sich unterhalten zu lassen, den Austausch von Waren zu vereinfachen und die Effizienz des globalen Wirtschaftssystems zu erhöhen. All das erklärt noch lange nicht, warum sieben Milliarden Menschen die Anstrengung unternehmen sollten, sich zu einer globalen Gemeinschaft zu vernetzen. Wie wäre es aber, wenn unsere dezentrierten globalen Kommunikationsnetzwerke uns dabei helfen würden, in eine ganz neue, tiefe Verbindung zu jener Biosphäre zu treten, die uns alle am Leben hält?
Die Biosphäre ist die schmale, kaum 60 Kilometer durchmessende Zone zwischen dem Meeresgrund und dem Weltall, in der alle Lebewesen miteinander und mit den geochemischen Prozessen der Erde dergestalt vernetzt sind, dass sie sich gegenseitig am Leben erhalten. Wir beginnen zu verstehen, dass die Biosphäre wie ein Organismus funktioniert – ein Organismus, zu dem wir Menschen untrennbar gehören und für dessen Erhalt wir Verantwortung tragen. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedeutet: unser individuelles Leben in unserem Viertel, unserer Gemeinschaft mit den Bedürfnissen der Biosphäre zu versöhnen. Die Dritte Industrielle Revolution bietet dazu die Gelegenheit.
Wenn wir uns die angeborene Gabe der Empathie zunutze machen, um eine neue globale Ethik der harmonischen Versöhnung aller lebenserhaltenden Kräfte auf diesem Planeten zu entwickeln – dann können wir das alte, von Vereinzelung und Eigennutz geprägte Menschenbild ebenso überwinden wie das Zeitalter der nationalen Markt- und Regierungssysteme. Die Dritte Industrielle Revolution erlaubt uns, einen völlig neuen Ansatz zur Globalisierung zu entwickeln: eine „Kontinentalisierung“, die nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben verläuft. Weil die erneuerbaren Energien mehr oder weniger gleichmäßig über die gesamte Welt verteilt sind, ist jede Region potenziell dazu in der Lage, sich selbst mit der nötigen Energie zu versorgen – und sich gleichzeitig mit Hilfe intelligenter Netzwerke über Kontinente hinweg mit anderen Regionen zu verbinden.
Zeitalter der Dezentrierung
Die Kontinentalisierung verändert auch unsere Regierungsformen. Dezentrierte erneuerbare Energien, die lokal und regional erzeugt werden, um dann mithilfe von intelligenten Netzwerken international peer to peer verteilt zu werden, erfordern auch ein nahtloses Netzwerk transnationaler und transkontinentaler Regierungsinstitutionen. Die Europäische Union ist die erste kontinentale Regierungsinstitution der Ära der Dritten Industriellen Revolution. Sie hat bereits damit begonnen, die Infrastruktur für ein europaweites System der Energie-Erzeugung und Verteilung zu schaffen, das bis zur Mitte dieses Jahrhunderts von der Irischen See bis an die russische Grenze reichen wird. Auch in Asien, Afrika und Lateinamerika entstehen kontinentale Gemeinschaftsgebilde, aus denen sich bis zum Jahr 2050 die wesentlichen Regierungsinstitutionen entwickeln werden.
Das heißt: In den nächsten Jahrzehnten werden die Regierungsinstitutionen jenen Ökosystemen, deren Gebrauch sie regeln, strukturell immer ähnlicher werden. So wie Habitate innerhalb von Ökosystemen und Ökosysteme innerhalb der Biosphäre in einem Netz wechselseitiger Abhängigkeiten stehen – so werden auch die Regierungsinstitutionen der Zukunft aus Netzwerken bestehen, in denen lokale, regionale, nationale und schließlich kontinentale Formen der Politik sich miteinander verflechten. Der politische Organismus der Zukunft arbeitet wie die Biosphäre selbst: komplex, synergetisch und reziprok.
Die überkommene Unterscheidung zwischen „linker“ und „rechter“ Politik wird damit hinfällig werden. Der Dualismus der Zukunft verläuft zwischen den Generationen. Auf der einen Seite steht die ältere Generation mit ihren traditionellen Top-Down-Modellen der sozialen Organisation in Familie, Bildung, Handel und Regierung. Auf der anderen Seite steht eine jüngere Generation, deren Denken nicht mehr hierarchisch ist, sondern dezentral und vernetzt, die nach kollektiven und kosmopolitischen Formen des Miteinanders sucht und die ihre Arbeits- und sozialen Räume nach dem Open Source Modell organisiert. Für die Internet-Generation wird die Verbesserung der „Lebensqualität“ ein mindestens ebenso wichtiges Ziel sein wie die Akkumulation materieller Güter.
Wir befinden uns bereits mitten im Übergang zum Biosphärenbewusstsein. Auf der ganzen Welt hat eine junge Generation zu verstehen begonnen, dass ihr täglicher Verbrauch von Energie und anderen Ressourcen unmittelbare Auswirkungen auf das Leben jedes anderen Menschen und jedes anderen Erdbewohners besitzt. Diese junge Generation überwindet die Grenzen religiöser und nationalstaatlicher Gemeinschaften und identifiziert sich mit der Menschheit und dem irdischen Leben im Ganzen. Eine empathische Zivilisation entsteht. Die Frage ist nur: Wird sie schnell genug wachsen, um jene Bedrohung abzuwenden, die noch aus dem vergangenen Zeitalter der fossilen Energiegewinnung herrührt – das Menetekel des Klimakollaps? Werden wir den Zustand der globalen Empathie und des Biosphärenbewusstseins noch rechtzeitig erlangen, um die Zerstörung des Planeten und die Auslöschung der Menschheit abzuwenden?
Aus dem Amerikanischen von Jens Balzer.