Die EU ist zurück im Hinterzimmer.

Thomas Stehling von der KAS hat Recht: Nach der Wahl ist vor der Wahl. höchste Zeit, auch mal unter Europa-Befürworter mal nüchtern darüber zu reden, ob die Erweiterung des alten Nationalstaatsmodells auf Europa hinaus die europäischen Länder tatsächlich leistungsfähiger, kooperativer und sozialer macht.

FAZ, DIENSTAG, 17. JUNI 2014
POLITIK
Die EU ist zurück im Hinterzimmer
Die Entscheidungsprozesse in Europa sind längst wieder dort angekommen, wo sie nach den Ankündigungen der Parteien herausgeholt werden sollten: in den Hinterzimmern der Politik. Der Versuch, den europäischen Wahlbürger bei der Auswahl des nächsten Präsidenten der EU-Kommission entscheiden zu lassen, droht in einem bitteren Konflikt im Rat der Staats- und Regierungschefs sowie zwischen Rat und Europäischem Parlament verlorenzugehen. Dabei geht es zunächst um die Einwände des britischen Regierungschefs David Cameron gegen den Spitzenkandidaten der siegreichen Europäischen Volkspartei, Jean-Claude Juncker. Er lehnt ihn als „Gesicht der achtziger Jahre“ als Kommissionspräsidenten ab.

Damit verbunden ist aber auch die Bewertung und Auslegung jener Klausel des Vertrages von Lissabon, die nach den Wahlen jetzt Teil des Konfliktes ist und es dem Rat auferlegt, dem Europaparlament „im Lichte des Wahlergebnisses“ einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. Eine verantwortliche politische Vorausschau hätte schon vor den Wahlen zu der Klärung führen müssen, ob sich alle Staats- und Regierungschefs bei der Ausübung ihres Vorschlagsrechts durch die Nominierung von „Spitzenkandidaten“ durch die einzelnen Parteiengruppierungen demokratisch gebunden fühlen, auch solche also, die wie Camerons Tories ohne eigenen Kandidaten in den Wahlkampf gezogen waren. Ihre vertraglich garantierten Rechte ohne ein solches Einvernehmen auf die reine Akklamation des Kandidaten des obsiegenden Lagers zu reduzieren ist politisch falsch und rechtlich zweifelhaft. Der Verweis auf das Mehrheitsprinzip reicht bei Entscheidungen dieses Gewichts nicht aus.

Zu den Geburtsfehlern des Versuches, Europa „ein Gesicht“ zu geben, gehört aber vor allem, dass vor den Wahlen eigentlich nur diejenigen für die Kandidatur für das Amt des Kommissionspräsidenten zur Verfügung standen, die zum Zeitpunkt der Nominierung oder absehbar danach ohne Job sein würden (Juncker, Barnier) oder aber bereits, wie Martin Schulz, Teil des europäischen Apparates waren. Keiner, der ein Amt hatte, konnte das Risiko der Kandidatur eingehen, um dann im Fall einer Niederlage den gegenwärtigen Job als für alle erkennbar zweitbeste Option fortzuführen.

Das alles macht die Verständigung jetzt komplizierter. Hinzu kommt die Frage, wie auf die „politische Blutgrätsche“ zu reagieren ist, mit der David Cameron seine Forderungen durchzusetzen trachtet. Es wird darauf emotionale Reaktionen geben, aber auch die Frage, was Zugeständnisse an den britischen Premier an der Lage zu ändern vermögen, in der er sich, nicht ohne eigenes Verschulden, in seiner Partei, im öffentlichen Meinungsbild und nach den jüngsten Wahlerfolgen von Ukip in Großbritannien befindet.

Es gab in der jüngeren britischen Geschichte vielfache Versuche, die zerstörerische Wirkung der Debatten über Europa zu mildern. Gefruchtet haben sie nicht. Nun soll mit einer „Reformagenda“ erreicht werden, was in den zurückliegenden zwanzig Jahren von zumeist konservativen Politikern nicht einmal versucht wurde: ein Stimmungsumschwung in Großbritannien zugunsten Europas. Zweifel sind angebracht. In den Medien bestimmen die Euroskeptiker und Eurogegner das Meinungsbild.

Richtig ist aber spätestens seit den Wahlen vom 25. Mai auch: Die Bürger Europas insgesamt sind „euroskeptischer“ und insoweit „britischer“ geworden, mögen die Gründe dafür auch vielfältig und vielleicht sogar am wenigsten in „Europa“ zu suchen sein. Schon deshalb brauchen wir jetzt die offene Debatte über Richtung, Inhalte und Personal – nicht wegen der britischen Einwände, sondern für unsere Zukunftsfähigkeit insgesamt, für Akzeptanz und Zusammenhalt im Inneren, unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Platz in der Welt. Ein einfaches „Weiter so“ ist ausgeschlossen. Der Wahlkampf um das künftige Europa hat begonnen. Nur schade, dass er jetzt ohne die Wähler stattfindet.

Der Autor war Leiter des Londoner Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Fremde Federn: Thomas Stehling

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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