Die fehlende Demut des Westens

Der Westen hat keine Demut gegenüber der Komplexität der Welt. Wenn er so weiter macht, wird er scheitern. 

Blicken wir zurück auf die Erfolgsgeschichte des Westens. Wir sagen: Ein Resultat freier Gesellschaften, der Selbstbefreiung der Individuen als Bürger einer sich selbst organisierenden Bürgergesellschaft. Und wir feiern uns dafür. Weil wir auf den Erfolg von Unternehmern blicken (seit kurzem auch auch den von Unternehmerinnen), den Erfolg von Wissenschaft als offenem System des Meinungs- und Wissensaustausch. Weil sich dieses abstrakte Wissen dann in Unternehmen zu Produkten und Lösungen zusammensetzt, die die Welt verändern. Im Guten und im Bösen.

Es gibt auch eine andere Erzählung des Westens. Die poppt aktuell auch im Westen auf, nämlich die Erzählung des “globalen Südens”. Diese, ausbuchstabiert, bedeutet, dass sich der Westen den Rest der Welt untertan gemacht hat. Rücksichtlos, unreflektiert, radikal, mit Krieg, Ausbeutung, Ignoranz (andere, eroberte Kulturen waren oft kultureller, aber vielleicht saturierter????). 

In Deutschland, dem Land tiefgründiger Reflektion en, wurde das zuerst auf der Documenta, später auf der Berlinale sichtbar. Es durchzieht inzwischen alle kulturelle Debatten: Ist der Holocaust ein singuläres Ereignis oder muss man den Holocaust einordnen in einer Reihe “unterbelichteter” historischer Ereignisse wie die Kolonialisierung der Welt. Diese Kolonialisierung ist verbunden mit der Verdrängung und Ausrottung anderer Kulturen und Ethnien. Deutschland mit seiner nachholenden Modernisierung hat diese Kolonialisierung zwar nur im “Miniformat” nachexerziert, aber die davon betroffenen Länder und Ethnien bwtrachten die bei Ihnen vollzogenen Untaten, Ausrottungen, Kriege, Verdrängungen wahrscheinlich als ebenso einmalig. 

Wie soll man, wie soll der Westen, wie soll jedes einzelne Land Europas, Portugal, Spanien, Frankreich, England, Niederlande, USA, Deutschland, um mal die großen Player der Weltunterwerfung zu nennen, mit ihrem kolonialen, bzw. die USA, mit ihrem Kolonisierungserbe umgehen? Die deutsche Rückgabedebatte ist da ja nur der Exzess dieser Geschichte. Und wir ahnen, dass die zusammengerafften Stücke der Berliner Museumsinsel, deren Erwerb wir krampfhaft, zumindest teilweise als rechtmäßig legitimieren wollen, von Rückgabe bedroht sind. Zumindest, wenn wir unser eigenes, angeblich regelbasiertes Denken, mal kritisch gegen uns selber anwenden. 

Wenn wir dieses regelbasierte Narrativ anderen andienen wollen, zeigen diese uns den Vogel. Zu Recht. Übrigens selbst beim Thema Israel. Der Westen hat nämlich bei der Gründung des Staates Israel seine eigene antiseministische Haltung dahingehend entsorgt, dass er in echter Eroberermanier, unter Berufung auf die jüdische Tradition, ein Stück eines inzwischen anders besiedelten Landes herausgeschnitten und als Staat Israel legitimiert hat. Sicher, ja, mit Berufung auf die Vereinten Nationen, aber machen wir uns nichts vor, der Versuch einer regelbasiert weltweit legitimierten Institution wie der Vereinten Nationen war auch eine westliche Erfindung. …. Deren Legitimität durch China, Indien und andere ja zunehmend infrage gestellt und deren Handlungsfähigkeit deswegen in einer wachsenden Anzahl von Fällen blockiert wird. Übrigens nicht nur von “Anderen”, sondern auch von der Schutzmacht des Westens, den USA, und von uns selber, wenn es uns nicht passt. 

Das westliche Denken ist ein statisches systemisches Denken. Feste Strukturen, Prinzipien, die wir zur Anwendung bringen wollen. (Schönen Gruss von Kant und seinem kategorischen Imperativ. Sowas leisten sich nur Deutsche! Und ketzerisch, ist diese Art radikalen Denkens und daraus abgeleiteten Handelns nicht die Sonne, aus deren Schatten  der exerzierte Nationalsozialismus und Stalinismus, deduktiv konsequent angewandte Ideologien erwachsen sind?) 

Freie Gesellschaften, Demokratie, scheint uns die Lösung für alle Art gesellschaftlicher Probleme. Schon dabei blenden wir die Dualität von Demokratie und liberalen Wirtschaftssystemen aus. Schließlich funktioniert Demokratie, das spüren wir zunehmend im Westen, nur dann als Erfolgsmodell, wenn damit ein Wohlstands- und kulturelles Teilhabeversprechen verbunden sind. 

Im anderen Fall, und das können wir in den USA und in Europa an jeder Ecke wahrnehmen, kommt die Demokratieverheisung an ihre Grenzen. Und an China sehen wir, dass das Wohlstandsversprechen auch in totalitären Gesellschaften seine Wirkung zeigt. Das Teilhabeversprechen wird dort über andere Kanäle (noch) gewährleistet. 

Warum dieser radikal selbstkritisch reflektive Wurf?

Meine These: Die westliche Art, die Welt zu betrachten, kommt an seine Grenze. Und zwar, das neu für den Westen, auch für die Mitte der westlichen Gesellschaften selbst. Es ist ein Sieger Narrativ, das die Sieger verblendet verzweifelt, auch den Verlierern aufzwingen wollen. 

Wir sind konfrontiert mit unserer abnehmenden Fähigkeit, die Welt mit unseren Augen zu interpretieren, ohne auf die Widersprüche zu stoßen. Der Umgang mit den Flüchtlingen an unseren Grenzen und unsere intellektuell unbefriedigenden Versuche, das irgendwie in moralisch befriedigender Weise zu tun (sprich, das Frontex machen zu lassen oder Uganda oder Erdogan oder sonst irgendjemanden, den wir mit jeder Menge Geld bestechen. …. ). 

Aber das funktioniert eben nicht mehr, wie wir an unseren erbitterten Debatten über den Umgang mit Flüchtlingen erleben, der in moralischen Kategorien einerseits, aber national unterschiedlich interpretiert, andererseits “gelesen” wird, wie man heute sagt. Italien war das “wg. Küste”, früher dran. Da konnte Merkel und wir das Problem noch elegant mit dem Erstberührungsländern lösen. Inzwischen hat sich die Geschichte vom Schlaraffenland Deutschland, Insel zwangsweise seeligen Nichtstuns, verselbständigt. 

Was ich sagen möchte: Unser harmonistisches Weltbild zerfällt vor unseren Augen. Es gibt nicht immer eine gerechte Lösung. Wir sollten nicht länger in abstrakten “Utopien” denken, nach ihnen streben. Denn das produziert insbesondere krasse Willkür in der Interpretation dessen, was instrumentell notwendig ist. Der Kommunismus in seiner Top Down Denke ist nur die konsequente Folge dieser politikzentrierten Sichtweise. Demokratische Systeme sind nicht per se gerechte und akzeptierte Systeme. Demokratische Systeme benötigen, wenn sie funktioneren sollen, einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, kulturelle Identität, einen stabile Mittelschicht, Checks and Balances zwischen verschiedenen Institutionen. 

Auch wenn das jetzt sehr simpel und nicht wissenschaftlich ist: Alles, was ich von der asiatischen Sichtweise verstanden habe (und China, behaupte ich, baut sein Modell der Welteroberung auch auf einem solchen “Next Steps” Denken auf), ist, dass sie eben in Ying und Yang, ich situativen Abwägungen denken und sprechen. Auch wenn sie sich, im Falle China, diffus auf ihre Geschichte als Weltmacht und Kulturnation berufen. 

Welche Schlüsse ziehe ich aus meinen Überlegungen? 

Wir müssen lernen, unsere Dichotomien hinter uns zu lassen. Der Kampf der Kulturen, der freie Westen gegen totalitäre Strukturen, ein Narrativ, dessen Überzeugungskraft schwindet. Das nationalistische Indien, Argentinien, das ganze mittel- und südamerikanische “Vorfeld” der USA, die Mitte der USA, Teil der freien Welt? Nein, Austragungsort verdeckter Machtkämpfe. 

Oder anders: Die Klimafrage wird eine Frage sein, die wir, die Bewohner dieses Planeten, nur gemeinsam bewältigen werden. Nicht gegen China, beispielsweise. Denn China, das sollten wir nicht vergessen, stellt gerade, weil sie skalieren können und aufholen wollen, mit billigen Solarmodulen und eFahrzeuge (gebaut mit westlichem KnowHow und Technologie) die Werkzeuge bereit, die weltweit skalieren hilft. Auch wenn sie unsere, westliche Windkraft- und Solarindustrie damit skalpiert haben. 

Die Schlußfolgerungen: Lasst uns die Prinzipien nicht vergessen, aber relativieren. Lasst uns nach fluiden Weltbildern suchen, um sie ringen, damit wir eine Welt in Veränderung besser verstehen, interpretieren und mitentwickeln können. Es gibt kein gut und böse, es gibt nur manchmal schwarz und weiß. Aber es gibt fruchtbar und unfruchtbare Koalitionen, Konstitutionen, Step by Step Lösungen. 

Wir müssen aus unseren Fehlern lernen lernen. Wir sollten besser werden. Aber wir  sollten nicht so tun, als ob wir getanes Unrecht ungeschehen machen können.

P.S. Mir helfen die Schriften Nassim Nicolas Taleb, insbesondere “Antifragilität” dabei sehr. Die Grundargumentation: Wir leben in einer komplexen, also unvorhersehbaren Welt. Komplexe Situationen bewältigt man nicht mit statischen Weltbildern, sondern mit differenzierten Adhoc Betrachtungen (Geschichte wiederholt sich nicht). Und schon gar nicht am “grünen Tisch”. 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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