Die gläubige Moderne. Zur Ratlosigkeit der Menschen und der Politik

Gestern abend war ich (Westdeutscher) in der Kneipe, mit meiner Freundin (Ostberlinerin), einer ihrer langjährigen Freundin (Westberlinerin), allesamt grünes Umfeld. Aber halt unterschiedliche Biographien. Wir haben dann über China geredet, dass chinesische Filme für uns oftmals nicht decodierbar sind und dann fiel das Stichwort: Im Chinesischen ist immer alles so unspezifisch, sie legen sich nicht fest,sie sind so unentschieden, bis zum letzten Augenblick. 
Das Leben ist ein langer, träger Fluß. Warum tun wir uns so schwer, das zu akzeptieren?
Ich wandt (wendete??) ein, dass dann a) Merkel doch eine echte Chinesin sei, und b) dass das vielleicht gar keine Unentschiedenheit sei, sondern eine andere Haltung: Dass nämlich der Mensch eben nicht immer Herr seiner Geschichte sei. Und deswegen wären vielleicht auch die Filme wie ein „langer, träger Fluß“ daher kämen. Bei der Berlinale gab es ja einen Film zum Jangtse oder zum Gelben Fluß, bei dem es nicht, wie im westlichen Film, immer einen Helden (manchmal auch einen gescheiterten Helden) gab, sondern vor allem eben das Leben, die Welt, die an einem vorbei zieht. Ausgang offen! Und vieles, was im Westen scheinbar sinnhaft gedeutet wird, ist eben gar nicht sinnhaft (oder wird erst im Nachhinein, als Ideologie, sinnhaft interpretiert).
Wer hätte das gedacht: Aus dem politischen Alltag würden mir viele Beispiele einfallen, die darauf hinauslaufen, dass die scheinbaren Eindeutigkeiten (SPD als die Gerechtigkeitspartei) zerfallen, wenn man sie auf ihr Gehalt hin prüft. Ist die Politik unter Merkel wirklich ungerechter als unter Rotgrün? Da würden viele Rotgrüne, HartzIV-schamrot abwinken. Weil, gerecht waren die ganzen Arbeitsmarkt und Finanzmarktreformen nicht, aber notwendig. Um Deutschland globalisierungsreif zu machen. In politischen Debatten, im Moment tobt ja wieder die rotrotgrüne Gerechtigkeitsfalle, wird das immer erfolgreich verdrängt. Und, meine Hypothese, die Hartzreformen, also der Ausdruck eines „neoliberalen“ Rotgrün, sind jetzt in veröffentlichten Bewußtsein langsam in den Hintergrund gerückt. Darauf setzen Linke bei Rot und Grün. 
Die einzig wirklich mächtige und erfolgreiche Politikerin ist Angela Merkel. Nur die politische Öffentlichkeit weigert sich, daraus Konsequenzen für ihr Weltbild zu ziehen. 
Trotzdem hat natürlich niemand ein Rezept gegen Angela Merkel, das personifizierte Abwägen, oder, im linksgrünen Politsprech, die Inkarnation des Unpolitischen. 
Ein immer sehr entschiedener Gabriel dagegen, Klartextsprecher und ausgestattet mit allem, was sich der Politikberater so wünscht, scheitert. Und zwar kläglich. Weil sich in einer zunehmend heterogenen Welt, dem Zerfall der bürgerlichen und klassischen Öffentlichkeit (schönen Gruß an Habermas), eine entschiedene Haltung immer wieder (und gerade in der SPD) an Grenzen stoßen muss. Keine Partei kann und will den globalisierten Kapitalismus abschaffen, er ist der Treibsatz unseres Geschäftsmodells. Und die Mühe, darüber zu debattieren, wo man den Kapitalismus zähmen kann, machen sich (wenn man den ganzen linksdogmatischen Überbau weglässt) höchstens Sven Giegold Gedanken oder der sehr eloquente, aber dann, qua Tiefe, doch nur als Fachpolitiker wahrgenommene Gerhard Schick. 
Die Frage ist nämlich nicht, ob man eine gerechte Gesellschaft will (das würden auch alle CDUler hier im Lande unterschreiben, die CSU sowieso), sondern was welche Gerechtigkeitsmaßnahmen kosten und was sie bringen. 
Seit sich der Sozialismus abgeschafft hat, erodiert auch die schöne soziale Marktwirtschaft.
Unbestreitbar ist unsere westliche Welt in Schieflage geraten. Gestern abend in der Diskussion bemerkte die Westberliner Freundin, als die Mauer noch stand, war sie begeisterte Anhängerin der Sozialen Marktwirtschaft. Aber jetzt wäre es ja der reinste Kapitalismus. Richtiger Kapitalismus, das nur nebenbei, geht anders, siehe die USA, aber unzweifelhaft sind die Schieflagen viel größer geworden.
Jetzt komme ich nochmal mit dem Weltbildgedöns. Ist da nicht die chinesische Haltung, zu erzählen, aber eben nicht zu entscheiden, viel wirklichkeitsnäher? Viel WISSENSCHAFTLICHER? Weil es am Ende doch nicht die ein oder zwei ausschlaggebenden Hebel gibt, die mam stellen muss, sondern die ganze gesellschaftliche Realität ein multifaktorielles Geschehen ist? Und das Ende eben offen ist. Und nicht, wie uns unsere Chefideologen und Weltbilderklärer aus Politik oder Medien glauben machen möchten MANMADE, oder gar POLICYMADE ist? Was nicht heißt, dass Politik nicht AUCH eine Rolle spielt. Und was bedeutet, dass Politik besser oder schlechter sein kann (next step wäre dann, abzuklären, welche Politik für wen welche Folgen zeitigt.
Was heißt das alles?
Führung heißt Vertrauen. Dazu braucht man keine Evaluation, sondern Mut und Wachheit. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Formeln, an denen sie sich orientieren können. Und Menschen, denen sie vertrauen. Und auf keinen Fall IMMER MEHR POLITISIERUNG!
1) Wir leben in einer Zeit der Mythen, nicht in einem Zeitalter der Wissenschaftlichkeit. Der herrschende Mythos beschwört, Globalisierung wäre gut, es wird für alle besser dadurch. Für viele Menschen, ich nenne ein paar Beispiele, die älteren Menschen, die noch das Nachkriegswestdeutschland im Hinterkopf haben und weiterhin an die Politik glauben, die Menschen in der Provinz, die schlecht gebildeten Menschen, die Menschen, die an der Rigorisität der „Eine Schule für alle heißt Bessere Chancen für jeden“ gescheitert sind, und noch ein paar andere, die längst nicht mehr verstehen, was Politiker mit distinguiertem Code und einem elaborierten Fachwortschatz verhandeln, stellt sich der entfesselte Kapitalismus (die Linken tun dann immer so, als sei das ein bewußt geschaffenes Konstrukt, nicht auch Ausdruck der Wirklichkeit) eben als Verliererstrasse dar. 
Jüngere betrachten das übrigens großteils anders: Sie sind illusionslos geworden. Die Einen gehen garnicht mehr davon aus, dass die Politik sie rettet, die nehmen das selber in die Hand. Und die anderen: Gucken nicht hin. Oder versacken.
Nein, Abschottung ist natürlich keine Lösung und auch eine AFD an der Macht könnte nur das Geschäftsmodell ruinieren und die Menschen enttäuschen, ebenso wie die Front National in Frankreich. Aber es gibt mehr und mehr Menschen, die gut finden, dass da mal jemand diesen Schönsprech, dass bald alles besser werde, beendet. 
Als weitere Extension der Ratlosigkeit zieht ja die Politik immer wieder das Volk zu Rate. Volksentscheide, Volksbegehren, und und und, werde als „Best in Town“ Lösungen verkauft. 
Aber manchmal stelle ich mir die Frage, ob diese Flucht ins Volk nicht Flucht aus der Verantwortung ist. Flucht vor möglichen Fehlern. Führung, bedeutet, qua Person Risiken zu übernehmen, damit möglicherweise zu scheitern. 
Meine Schlußfolgerung: Die Flucht in die alten, ideologischen Links-Rechts-Schemen scheitert, weil die Populisten von überall herkommen können (Spanien ist da ein Beispiel, dass es auch von Links geht, redet da jemand drüber im „linken Spektrum“, wie peinlich das ist?). Wer die Links-Rechts-Debatte befeuert, treibt das politische System weiter in eine Entwicklung, dass links und rechts viel abbröckelt. Womöglich, bis es zu spät ist.
Was not täte (und worauf sich der politische Wettstreit konzentrieren müsste), wäre, neue Formeln auszuprobieren, neue, meinetwegen ideologische, nach vorne gerichtete Orientierungen. 
Und die müssten davon abrücken, den Menschen zu erklären, man müsse sie, die Politiker, nur wählen, dann werde alles gut. Es wird anders, vielleicht auch weniger schlecht, aber dass es gut wird, glaubt niemand mehr. 
Die prosperierende Nachkriegszeit ist definitiv zu Ende!
Wie lautet die alternative Formel zum „Wir schaffen das“ von Angela Merkel? 
„Wir schaffen das“, das ist Merkels Ansage, aufladbar, unideologisch, aus einer Haltung des Selbstbewußtseins und der Stärke. Bernd Ulrich stochert ja immer wieder rum in der Zeit, um die Zeitläufte richtig zu verstehen (und vor allem: Merkel richtig zu interpretieren). Warum bildet sich derzeit keine neue unorthodoxe, globalisierungsakzeptierende Linksliberale. Oder aktiv globalisierungsakzeptierende gesellschaftliche Mitte (das wäre Merkel mit Klartext)? Warum wagt niemand den Sprung ins kalte Wasser der Wirklichkeit? 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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