Ein außerordentlich interessanter Beitrag aus der FAZ über das Griechenland, das sich aus der Krise herausentwickelt. Daraus lassen sich meines Erachtens folgende Schlußfolgerungen ziehen:
Griechenland war ein Land, das es sich gut gehen hat lassen, weil weder die wirtschaftlichen, noch die politischen Eliten sich um die Frage, das Land „gut“ aufzustellen, gekümmert haben. Stattdessen haben sie ihre Geschäftsmodelle abgesichert. Wenn nötig, durch Korruption.
Das ganze Problem entstand durch die Zusammenarbeit von Politik, Verwaltung und Unternehmen und Geld aus der EU. Die Frage ist also, wie es gelingen kann, dass ein Land ethisch-moralisch den richtigen Weg einschlägt. Es lässt sich immer argumentieren, dass man immer noch ein wenig weiter machen kann. Es geht um Angst vor der Veränderung. Und dass man immer auf „oben“ verweisen kann.
Was der Beitrag aber auch zeigt, ist, dass Patriotismus der Griechen, die überall in der Welt arbeiten, einer der wichtigen Faktoren ist, dass gut ausgebildete Griechen in das Land zurückkommen und dieses mit neuem Unternehmergeist inkubieren.
So hart das ist, man muss sagen: Die Krise war notwendig, weil das Land von sich aus nicht die Kraft hatte, den behäbigen Kurs zu korrigieren und das Land offener, wettbewerbsfähiger aufzustellen.
Auch wenn im Beitrag das einige anders sehen: Ich meine, damit ist die Crux eines komplexen politischen Systems beschrieben: Die Europäische Ebene ist eine Geldverteilungsebene und der Blick auf Subventionen kann den Blick dafür verstellen, was das Land braucht. Das fehlt in der Europäischen Diskussion, dass ernsthaft darüber diskutiert wird, dass politische Umverteilungsmechanismen Länder träge machen.
Was übrigens auch zu sehen ist, ist, dass die Menschen sich selber helfen. Wenn der Staat die Unterstützung nicht mehr sichern kann, wird es informell abgesichert.
Übrigens: Ich schreibe das alles nicht aus Chauvenismus. Der aktuelle Wahlkampf zeigt, wie schnell Politik, alle Parteien, auf diesen Modus „Fürsorglichkeit“ umstellen. Politik suggeriert den Menschen, sie könne Gerechtigkeit herstellen. Tatsächlich kann sie nur begrenzt Härten abfedern. Das Problem ist, dass sich Politik oft weigert, hinzusehen, ob die Rettungsmechanismen, Unterstützungsleistungen tatsächlich die Hilfen bringen, die sie sich erwarten. Das fördert die Unverantwortlichkeit von Entscheidungen. Das macht Politik anfällig, entschleunigt Prozesse, bremst die Wettbewerbsfähigkeit der Länder.
Wie kann man Politik dazu zwingen, die Maßnahmeneffizienz zum Thema zu machen, sich erhrlich zu machen, anstatt weiterhin Kulissen zu schieben.
Und, jetzt kommen wir zur großen Frage: Wie können wir gewährleisten, dass Europa ein Europa wird, das von seinen Bürgern Anstrengung, Leistung, Engagement fordert und sich nicht immer feiern lässt, wenn sie mit Geld aus Brüssel zurückkommen. Das nützt nämlich nichts!
Hier der sehr lesenswerte Beitrag aus der FAZ vom 18.9.2013
F.A.Z., Mittwoch, den 18.09.2013FEUILLETON 25
Die griechische Utopie
Dieses Feuilleton will auf das Griechenland-Bashing mit der Vernunft von Griechen antworten. Wir haben uns in Athen mit griechischen Unternehmern getroffen, die in ihrem Land das Gleiche versuchen, was die Nachkriegsdeutschen einst in ihrem Land taten. Sie glauben an ein Griechenland 2.0 – eine neue und soziale Version ihres Landes. Wir drucken dieses Gespräch auf mehreren Seiten. Von Frank Schirrmacher und Dirk Schümer
Unsere wichtigste Frage lautet natürlich: Hilft die Krise in irgendeiner Weise bei der Umstrukturierung dieses Landes? Hat sie auch positive Auswirkungen? Oder ist sie in der augenblicklichen Phase, 2013, nur schlecht, und es gibt gar nichts, was helfen könnte?
Achilles V. Constantakopoulos: Griechenland erlebt gerade das sechste Jahr in Folge eine Rezession, und die Menschen leiden. Ich verstehe den Gedanken, dass es auch positive Auswirkungen gibt. Die wichtigste liegt darin, dass wir nun zweimal nachdenken, bevor dasselbe wie in der Vergangenheit machen. Ich sehe Veränderungen in der Gesetzgebung und in der Mentalität, und wenn Sie mich vor sechs Jahren gefragt hätten, ob ich mir das in Griechenland vorstellen könnte, hätte ich wahrscheinlich „nein“ gesagt.
Welche Veränderungen meinen Sie?
Constantakopoulos: Zum Beispiel die Flexibilität im Arbeitsrecht, deutlich weniger Beschränkungen im Baurecht und bei Baugenehmigungen, aber zugleich die Einführung adäquaterer Umweltstrukturen, die das Wesen der Dinge betreffen und nicht einfach die Entwicklung anhalten. Die andere positive Auswirkung ist der Mentalitätswandel. Ich bin auf dem Lande aufgewachsen, wo Profit als etwas Schlechtes galt. Man musste sich rechtfertigen, wenn man ein erfolgreicher Geschäftsmann war.
Jetzt hat diese Mentalität sich verändert. Die Menschen begreifen, dass Unternehmen rentabel sein müssen und dass die Interessen der Unternehmer mit denen des Staates übereinstimmen. Ich sehe mehr Vertrauen zwischen öffentlichem und dem privatem Sektor. Deshalb bin ich etwas optimistischer. Das Gefühl von Stabilität wächst, und ich glaube, wir haben die Talsohle erreicht, es geht wieder aufwärts. Seit Jahren habe ich nicht mehr so viel Interesse bei internationalen Unternehmen und Investoren erlebt, die viel Geld für Studien, Forschung, Beratung und dergleichen ausgeben. Wenn jedes griechische Unternehmen ein oder zwei weitere Beschäftigte einstellte, wären wir aus der Sache heraus.
Vielleicht erzählen Sie uns ein wenig über Ihr Unternehmen.
Constantakopoulos: Costa Navarino ist ein neues Reiseziel im Mittelmeerraum. Wir wollten ein nachhaltiges, erstklassiges Touristengebiet in einem unentdeckten, aber leicht erreichbaren Teil der Welt schaffen und ihm einen Platz auf der Weltkarte sichern. Unser Ansatz folgt einem neuen Modell im Tourismus, das auf ganzheitlichen Erfahrungen, Nachhaltigkeit, Qualität, Authentizität und engen Synergien mit den lokalen Gemeinden basiert. Costa Navarino umfasst eine Reihe unterschiedlicher Einrichtungen mit einem breiten Spektrum ganzjähriger Aktivitäten für Erwachsene und Kinder, wie man dies im Mittelmeergebiet sonst nirgendwo findet. In Zusammenarbeit mit örtlichen Produzenten haben wir auch Nahrungserzeugnisse, Oliven und Weine, entwickelt, die das gastronomische Erbe der Region repräsentieren. In Costa Navarino befindet sich außerdem eine in Zusammenarbeit mit der Universität Stockholm und der Akademie von Athen betriebene Umweltbeobachtungsstation, die Fragen des Klimas und der Umwelt im Mittelmeerraum erforscht. Zugleich haben wir die Navarino Natura Hall geschaffen als interaktives Umweltausstellungszentrum für die messenische Natur. Mein verstorbener Vater begann schon in den 1980er Jahren mit dem Kauf von Land, aber mit der ersten Bauphase begannen wir mitten in der Krise 2010. Der Südwesten des Peloponnes gehörte zu den am wenigsten entwickelten Gebieten in Griechenland. Jetzt ist dieses Gebiet wahrscheinlich eine der wenigen Regionen mit solch einem Wachstum, in dem neue Hotels, Restaurants und Geschäfte eröffnet werden. Wir haben das Gefühl, dass es uns trotz der Krise gelingen wird, unsere Vision zu verwirklichen, nämlich ein neues, ökologisch hochwertiges Reiseziel im Mittelmeergebiet zu schaffen.
Wie viele Menschen arbeiten dort?
Constantakopoulos: In der Spitze erreichen wir 1100 Beschäftigte. Aber der Tourismus hat wahrscheinlich größere lokale Auswirkungen als jede andere Industrie. Pro Arbeitsplatz in Costa Navarino entstehen weitere 0,8 Arbeitsplätze in der Umgebung. Deshalb nehmen wir an, dass insgesamt 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Wir haben das Ziel, einen ganzjährigen Betrieb sicherzustellen. Im März haben wir mit Direktflügen aus Mitteleuropa begonnen, und wir hoffen, im nächsten Jahr im Februar mit den Flügen beginnen zu können. Ich glaube, der Tourismus ist eine der wichtigsten Industrien oder vielleicht die wichtigste, die uns helfen wird, die Krise zu überwinden. Wir dürfen nicht vergessen, 2013 war für den griechischen Tourismus das beste Jahr aller Zeiten.
Marco Veremis: Ich bin Gründer und CEO von Upstream, einem Technologieunternehmen, das Marketing-Software für Unternehmen herstellt, die das Mobiltelefon für ihre Kundenwerbung einsetzen wollen. Ich habe früher in London gearbeitet, mein Mitgründer Alex, der ebenfalls Grieche ist, in Boston. Als wir die Firma 2001 gründeten, wollten wir zu den ersten global agierenden Unternehmen auf dem Gebiet der „Mobilfunk-Marketing-Technologie“ gehören, und wir gründeten das Unternehmen hier, weil wir wussten, dass Griechenland im Technologiebereich eine recht hohe Qualität vorzuweisen hat. Wir haben drei starke Universitäten, vor allem die Technische Universität in Athen. In Griechenland neigen die Eltern immer noch zu einer „Überinvestition“ in die Ausbildung ihrer Kinder. Wir haben nicht nur ausgezeichnete Universitäten, sondern auch einige ausgezeichnete Professoren. Diese suchen die Talentiertesten heraus und schicken sie fast alle in eine der Spitzenuniversitäten. So findet man etwa am MIT, in Stanford, am Imperial College und in anderen Bildungseinrichtungen dieser Art zahlreiche Griechen. Die meisten studieren Ingenieurwissenschaften.
Diese Leute sind äußerst qualifiziert. Wir nutzen dieses Talent, das natürlich sehr viel billiger zu haben ist als etwa in Silicon Valley oder Boston oder London, um ein eigenes Entwicklungsteam zusammenzustellen. Vom ersten Tag an zielten wir auf einen globalen Markt, denn das Produkt, das wir herstellten, richtete sich an Unternehmen wie Nestlé, Coca-Cola, Vodafone oder die Deutsche Telekom – also an Großunternehmen. Wir waren von Anfang an zu 100 Prozent exportorientiert, aber die Entwicklungsabteilung und die Firmenzentrale waren und bleiben hier. Um Ihnen einen Eindruck zu geben, sei angemerkt, dass unsere Firma zu den fünf größten in diesem Bereich gehört. Wir beschäftigen 250 Menschen, von denen 80 Prozent Ingenieure sind.
Die krise als chance: wir machen uns an die arbeit
Wir haben neun Niederlassungen in aller Welt, wir verkaufen in 40 Länder, und 99 Prozent unserer Einnahmen kommen aus dem Ausland. Interessant ist, dass seit der Gründung unserer Firma in Griechenland ein Ökosystem aus Unternehmen, die ähnliche, also mit dem Mobiltelefon zusammenhängende Technologielösungen anbieten, ein Umsatzvolumen von etwa einer Milliarde Dollar erreicht hat, fast ausschließlich durch Exporte, und das ist mehr, als mit Olivenöl erzielt wird. Diese Branche beschäftigt zusammengenommen gut 3500 Menschen. Und ihr Wachstum übersteigt 50 Prozent im Jahr.
Sind diese Unternehmen von der Krise betroffen?
Veremis: Die Krise verändert die Situation, weil wir nun Leute erhalten, die früher in unproduktiven, nicht wirklich innovativen Technologiefirmen festsaßen. Sie exportierten nicht und hatten langfristig keinerlei Erfolgsaussichten. Diese Leute finden nun entweder eine Anstellung in kleineren, aber wachsenden, exportorientierten und innovativen Unternehmen, oder sie gründen eigene Firmen.
Deshalb bin ich ausgesprochen optimistisch. Heute steht uns zum Beispiel Venture-Kapital zur Verfügung, in Griechenland sind es gegenwärtig etwa 100 Millionen Dollar, die von vier Fondsgesellschaften stammen. Vor zehn Jahren war die Summe noch gleich null.
Pessimistisch bin ich allerdings im Blick auf die immer noch rückständigen Einstellungen. Es gibt eine Gruppe von Menschen, die beginnen, Unternehmen aufzubauen oder bestehende Unternehmen zu verbessern. Ich denke, das ist eine Folge der Krise. Es gibt große Vorteile im Blick auf die Qualifikation des Personals. Dennoch ist die schöne Welt, die sich da entwickelt, noch eine Randerscheinung. Sie spiegelt sich noch nicht in der immer noch vorherrschenden Funktionsweise des Staates oder im Denken der Menschen. Das erkennt man an den Wahlumfragen. Da gibt es immer noch Diskrepanzen, und das ist äußerst deprimierend für die wenigen Leute, die eigentlich optimistisch sind, aber pessimistisch werden, wenn sie sich umschauen und sehen, dass die kritische Masse noch nicht erreicht ist.
Yiannis Retsos: Ich bin Managing Director der Electra Hotels and Resorts, eines Familienunternehmens, das seit 1963 sechs Hotels in Griechenland betreibt. Ich bin außerdem Präsident des Hellenischen Hotelverbands. Für die Unternehmen war diese Krise meines Erachtens eine große Chance zu einer Restrukturierung nahezu aller Aspekte: des operativen Geschäfts, der Kosten und der Schulden. Als die Krise 2008 begann, erzählten uns die griechischen Politiker, unser Land sei sehr gut geschützt und „krisensicher“. Deshalb hielten viele auch weiterhin an dem Glauben fest, uns könnte nichts passieren. Wer sich dagegen an die Arbeit machte und sein Unternehmen umbaute, um es auf die unausweichlich herannahende Krise vorzubereiten, der befindet sich heute in einer weitaus besseren Lage. Auf diese Weise konnten wir in unserem Unternehmen seit 2008 und selbst noch 2012 profitabel bleiben – trotz des deutlichen Rückgangs der Einnahmen in den letzten vier Jahren. Wir haben auch in der Krise nie Verluste gemacht.
Sehen Sie Chancen in der Krise?
Retsos: Ich denke, eine Krise lässt sich per definitionem von niemandem sonderlich gut erkennen. Es geht um die jeweils aktuelle Bedeutung des Wortes. In Griechenland hatten wir 2008 ein Bruttoinlandsprodukt von 300 Milliarden, und 2012 waren es weniger als 200 Milliarden. Innerhalb von vier Jahren verflüchtigte sich fast ein Drittel des BIP. Wir haben heute 1,5 Millionen Arbeitslose, die höchste Arbeitslosenquote in der EU, das entspricht fast einem Drittel der Erwerbspersonen.
Sie werden verstehen, dass das Klima in der Gesellschaft wirklich schlecht ist. Wenn Sie in Griechenland leben und an dieser Wahrnehmung festhalten, werden Sie alles sehr negativ sehen. Aber ich denke, die Krise bietet auch Chancen, und man sollte versuchen, sie zu finden.
Der größte Vorteil liegt vielleicht darin, dass der öffentliche Sektor an Bedeutung verloren und der private Sektor an Bedeutung gewonnen hat. Griechenland war praktisch in allem von seinem öffentlichen Sektor abhängig: in der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Erhöhung der Einkommen. Früher liehen wir uns Geld, vor allem nach 2001, als wir in die Eurozone eintraten. Statt dieses Geld in neue Projekte und innovative Ideen zu investieren, steckten wir es in den Konsum und insbesondere in den staatlichen Sektor, der weiter gewaltig anwuchs. Jetzt erleben wir dank der Krise zum ersten Mal, dass der private Sektor stärker wird. Unsere Regierung hat viele Jahre nur über Reformen geredet, und die Politiker von einer neuen Politik. Aber sie handelten ohne jede Strategie. Heute hat der private Sektor eine Vision. Danach Vision soll Griechenland in acht Jahren, nach der Zahl der Gäste und der Höhe der Einnahmen zu den zehn wichtigsten Tourismusländern gehören. Das ist unsere Vision. Wir haben eine klare Strategie, wie wir das erreichen wollen. Wir nehmen die dafür notwendigen Reformen in Angriff und machen uns an die Umsetzung dieser Strategie. Deshalb sind wir sehr zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden.
Es gibt also wirklich einen Wandel.
Retsos: Die Zeit ist günstig für die Entwicklung neuer Produkte. In diesem Jahr erwarten wir 17 Millionen Gäste. Das war das Ziel, das wir uns zu Beginn des Jahres gesetzt haben. Im Augenblick bin ich recht zuversichtlich, dass wir diese Zahl übertreffen werden. Ich persönlich erwarte für dieses Jahr eine Zahl von 17,5 Millionen Gästen. Aus dem Tourismus erwarten wir in diesem Jahr direkte Einnahmen in Höhe von 11 Milliarden Euro. Multipliziert man das mit 2,5, um die Effekte auf die übrige Wirtschaft zu berücksichtigen, sprechen wir von etwa 25 Milliarden Euro Einnahmen im Zusammenhang mit dem Tourismus. Das ist eine gewaltige Zahl.
Das entspricht einem Achtel der gesamten Wirtschaftsleistung.
Retsos: Noch mehr sogar. Wir erwarten, dass diese Zahl bis 2021 auf 54 Milliarden ansteigt und dass wir 300 000 neue Arbeitsplätze schaffen können, ebenfalls eine gewaltige Zahl. Das größte Problem, das wir im Tourismusbereich hatten und das, wie erwähnt, ein Problem unseres Landes war, ist die Tatsache, dass wir nie eine Strategie hatten. Unser Land hatte nie ein klares Markenimage. In der Wahrnehmung potentieller Besucher war und ist Griechenland nur Sonne und Meer. Es gab daher nur ein einziges Produkt. Dieses Produkt bot man den Reiseveranstaltern an. Und sie verkauften es in aller Regel ohne ein Markenimage. Wenn die Türkei oder Zypern ein ähnliches „Sonne-und-Meer-Produkt“ billiger anboten, gingen die Touristen lieber dorthin. Wir wissen aber, dass wir eine Vielzahl von Produkten anbieten könnten: Sport, Abenteuertourismus, religiösen Tourismus, Kreuzfahrten, Kongresse usw. Unser Ziel als Branche ist es, diese Produkte zu identifizieren, ihnen ihre Identität zu geben und sie dann im Ausland anzubieten. Dazu müssen wir mit unserem öffentlichen Sektor zusammenarbeiten, vertreten durch das Ministerium für Tourismus und die nationale Tourismusorganisation.
Der öffentliche Sektor liebt die Tourismusverwaltung. Wird sie derzeit restrukturiert oder wirklich verbessert?
Retsos: Naja. (Gelächter) Es ist sehr leicht, etwas gegen den öffentlichen Sektor zu sagen. Sie können jeden Griechen fragen, alle reden schlecht über den öffentlichen Sektor. Wir wissen, dass es sehr schwierig ist, etwas zu verändern, das über viele Jahre sehr solide aufgebaut worden ist, wenn auch leider auf die falsche Weise. Wir sehen in manchen Bereichen, dass der öffentliche Sektor sich zu ändern versucht, aber das wird viele Jahre dauern und große Anstrengungen erfordern. Aber auch viel Bereitschaft seitens der Regierung.
Und es wird nicht schlimmer?
Retsos: Es kann gar nicht noch schlimmer werden. Es hat einen Punkt erreicht, an dem es nicht noch schlimmer werden kann. Aber die Veränderungen werden sehr schmerzhaft sein und viel Zeit in Anspruch nehmen.
der mentalitätswandel: erfolg ist nicht verwerflich
Wir im privaten Sektor versuchen, diesen Prozess zu unterstützen, indem wir Verantwortung und Pflichten übernehmen. So haben wir kürzlich ein zu 100 Prozent privates Unternehmen geschaffen, das seit März unter dem Namen „Marketing Greece“ arbeitet. Es ist das erste Unternehmen dieser Art in der Welt. Wir haben eine Absichtserklärung und eine Übereinkunft mit dem Ministerium geschlossen, aber wir werden nicht vom Ministerium finanziert und haben keine Verpflichtungen ihm gegenüber. Dieses Unternehmen versucht nun, das neue Markenimage des Landes und entsprechende Teilmarken zu schaffen und eine Marketingstrategie zu entwickeln, um diese Produkte im Ausland bekannt zu machen und für sie zu werben. Wenn das geschehen ist, wird das Ministerium es übernehmen, für diese Marke zu werben und sie zu verkaufen. Wir selbst wollen mit dieser Werbung nichts zu tun haben. Ich bin in dieser Sache sehr zuversichtlich. Ich habe in den letzten vier Monaten gesehen, wie die Sache vorankommt und wie viel Arbeit bereits geschafft ist. Es ist gewaltig. Seit Jahrzehnten haben wir so etwas nicht mehr gesehen, und nun scheint innerhalb von vier Monaten eine ganz neue Welt vor uns auf.
Wäre das ohne die Krise möglich gewesen?
Retsos: Auf keinen Fall. Seit 1990 oder sogar schon länger gab es diesen Wunsch, diesen Traum. Vor 25 Jahren diskutierte der private Sektor erstmals über die Möglichkeit, solch ein Unternehmen zu schaffen. Aber letztlich hat nur die Krise dies möglich gemacht. Die Menschen in Griechenland warten verzweifelt darauf, dass sich etwas ändert, dass etwas Neues kommt, an das sie glauben können. Das erleichterte uns die Arbeit, und nun können wir unser neues Projekt vorstellen, damit die Leute sagen: Okay, das gefällt uns, und wir vertrauen euch. Wir sind bereit, in „Marketing Greece“ zu investieren. Das Unternehmen ist nicht gewinnorientiert, und das dort investierte private Geld wird niemals eine Dividende erwirtschaften. Aber wir erwarten, dass wir das Geld in unseren eigenen Unternehmen zurückbekommen, weil die Branche insgesamt wächst.
Das ist der Tourismus. Und was ist mit dem Rest der griechischen Gesellschaft?
Retsos: Ich bin zuversichtlich, dass die Mentalität in Griechenland sich verändern wird. Natürlich wird das nicht so schnell gehen, solange es Menschen gibt, die nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Einen Menschen, der Schwierigkeiten hat, seine Miete zu zahlen oder seine Kinder zu ernähren, kann man nicht auffordern, positiv zu denken. Solch ein Mensch kann keine strategische Vision haben, die Griechenland in fünf oder zehn Jahren sieht. Ich meine aber, die Leute, die das können, sollten es aktiver tun. Sie sollten positiver denken, um die Dinge zu verändern, damit die Menschen, die ich eben beschrieben habe, früher bessere Zeiten erleben.
Aris Kefalogiannis: Ich bin CEO von Gaea und außerdem Vizepräsident des Verbandes der griechischen Olivenöl-Hersteller. Ich soll etwas zum Optimismus sagen? Nun, ich wache von Natur aus jeden Morgen sehr optimistisch auf. Aber mein Optimismus schwindet, wenn ich mich in meinen Wagen setze und auf dem Weg ins Büro die Nachrichten höre. Im Büro werde ich dann wieder sehr optimistisch, weil es uns als Unternehmen sehr gutgeht. Dann fällt mein Optimismus wieder ein wenig, wenn ich mich ins Auto setze, um nach Hause zu fahren. Dort vermeide ich es, mir im Fernsehen die Abendnachrichten anzuschauen, weil ich dann nachts viel besser schlafen kann.
Sie schlafen gut, weil Sie sich von den ausgezeichneten griechischen Erzeugnissen ernähren …
Kefalogiannis: Gaea hat die Vision, eine international bekannte griechische Marke zu sein. Die beste griechische Marke, um im Einklang mit der Tradition antiker Qualität griechische Nahrungsmittel und unser kulturelles kulinarisches Erbe international zu fördern: die Art, wie wir an unserem griechischen Tisch essen, Dinge miteinander teilen und das Leben genießen – unsere Esskultur eben. Zugleich wollen wir auch die sehr gesunde griechisch-mediterrane Kost fördern, wobei wir unter Wohlbefinden eine Gemütsverfassung verstehen, in der man gesund ist, und Lebensmittel dienen der Gesundheitsvorsorge. Man genießt das Leben, und dazu gehören schmackhafte Lebensmittel, denn die griechisch-mediterrane Kost ist Teil der Lebensfreude. Wir sind mit dieser Vision sehr erfolgreich. Unsere Werte spiegeln sich in unseren Produkten, in den Beziehungen zu unseren Konsumenten, unseren Kunden, unseren Lieferanten – und selbst zu unserem eigenen Team, weil unser Unternehmen sich insofern von traditionellen griechischen Unternehmen unterscheidet, als es kein Familienbetrieb ist. Unser Unternehmen stützt sich auf eine breitere Basis von Anteilseignern, die sich wiederum auf ein Team von Leuten stützen, die an die Vision glauben. Die dritte Säule des Erfolgs unseres Unternehmens bilden daher unsere Leute.
Wie viele Menschen arbeiten in Ihrem Unternehmen?
Kefalogiannis: Im Augenblick sind es 54. Wir sind ein kleines oder mittleres Unternehmen. Aber wir haben Hunderte von Partnern für unsere Produkte in der Landwirtschaft. Wir sehen uns in der ganzen Welt um, wo griechische Qualitätserzeugnisse in den Supermärkten nicht präsent sind. So gehen wir vor.
Ich sehe Ihre Produkte in Deutschland jetzt überall.
Kefalogiannis: Auf Deutschland entfallen 22 Prozent unseres Absatzes. Es ist unser wichtigster Markt. Und das kam so: Die Stiftung Warentest hat zweimal innerhalb von fünf Jahren in deutschen Supermärkten angebotenes Olivenöl getestet, und beide Male waren wir das beste abgefüllte Olivenöl auf dem deutschen Markt.
Es war derselbe Test, in dem auch herauskam, dass uns ein anderes Land mit seinem Olivenöl betrügt.
Kefalogiannis: Der erste Test war tatsächlich entscheidend für uns. Das veränderte unser Schicksal in Deutschland, obwohl wir auch vorher schon recht erfolgreich waren. Deutschland ist ein Markt, auf dem man langfristig Erfolg haben kann, wenn man den Verbrauchern etwas wirklich Wertvolles für ihr Geld bietet. Aber ganz allgemein beruht unser Erfolg auf dem Export. Unsere Erzeugnisse gehen zu 82 Prozent in den Export und zu 18 Prozent auf den griechischen Markt. Als Unternehmen waren wir deshalb nicht direkt von der Krise betroffen.
Sie haben gesagt, dass es Ihnen gutgeht. Aber als Bürger dieses Landes – geschah oder geschieht es Ihnen da, dass Sie morgens aufwachen und Sie haben das Gefühl, die ganze Gesellschaft könnte zusammenbrechen?
Kefalogiannis: Auf jeden Fall. Wir haben dieses Gefühl. Zumindest habe ich persönlich dieses Gefühl. Ich mache mir große Sorgen. Wie gut es einem Unternehmen auch gehen mag, es kann nicht in einer Gesellschaft überleben, die zugrunde geht. Trotzdem bin ich optimistisch, weil ich diesen Mentalitätswandel sehe, der das Wichtigste von allem ist, was im Augenblick geschieht; er kommt zwar nur langsam voran, aber er kommt voran. Neulich habe ich die Ergebnisse einer großen Studie über das Vertrauen der Griechen in Institutionen gelesen. Vor ein paar Jahren, vor der Krise, standen an letzter Stelle auf dieser Liste die Unternehmen. Jetzt stehen sie an zweiter Stelle. Das ist ein erstaunlicher Wandel. Ich glaube, auch die Wahrnehmung der Werte ist in einem Wandel begriffen. Die griechische Wirtschaftskrise ist das Ergebnis einer Gesellschaft, die den Sinn für Werte verloren hat, eine Vision, die sich an Werten orientiert. Wir brauchen eine neue Vision, und wir müssen den Werten in unserer Gesellschaft wieder einen Platz geben, damit eine wirkliche Erholung beginnen kann. Aber ich glaube, das geschieht gerade, und wenn dieser Prozess beginnt, wird er sich beschleunigen. Weil ich Marketing mag, glaube ich, dass diese ganze schlechte Reklame für unser Land in den letzten Jahren ein Bewusstsein geschaffen hat. Und ich glaube, wenn wir jetzt, wo wir nicht mehr in aller Welt für die größten negativen Schlagzeilen sorgen, die Reformen etwas beschleunigen und wieder Wachstum erzielen, lässt sich dieses Bewusstsein in etwas Positives verwandeln.
Niemand würde uns glauben, dass ein griechischer Unternehmer das sagt.
Kefalogiannis: Der letzte, aber ebenfalls äußerst wichtige Punkt betrifft die Innovation. Eigentlich dürfte kaum jemand denken, dass Innovation in unserer Branche Bedeutung besitzt. Aber wir haben in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität in Athen ein großes Forschungsprojekt begonnen. Und wir bringen ein neues Produkt auf den Markt, das eine weltweite Innovation darstellt – dank der starken Forschungsabteilung und der Professoren dort. Es gibt also ein paar gute Köpfe, die Griechenland helfen können. Wir haben gerade einen Nuss- und Fruchtriegel auf den Markt gebracht, der auf die alten Griechen zurückgeht, eine Kombination aus Feigen, Walnüssen und Sesam. Das ist ein modernes Produkt.
Ein antiker griechischer Energieriegel, legales olympisches Doping gewissermaßen.
Yiannis Olympios: Ich bin CEO und Mitbesitzer von V+O Communications. Wir sind eine Firmengruppe, die im Bereich Marketingkommunikation arbeitet. In unserer Firmenzentrale in Athen sind wir 140 Leute aus acht Nationen, und wir arbeiten für etwa 150 Kunden in sechs Ländern. Vor drei Jahren haben wir in Athen begonnen, und jetzt besitzen wir Niederlassungen in Tirana, Sofia, Belgrad, Bukarest und Nikosia. Ich habe noch nie eine Zeit derart beschleunigten Wandels erlebt wie jetzt. Während der Staat sich zurückzieht, verlangt ein aktiverer und selbstbewussterer Verbraucher mehr von der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft und dafür weniger vom Staat. Politiker und Regulierer werden nun von außen kontrolliert und gedrängt, die letzten Zugangsbarrieren zu beseitigen, die den Oligopolen die Macht erhalten und den Konsumenten Wahlmöglichkeiten und Wettbewerb vorenthalten haben. Die Unternehmen müssen sich nun selbst regulieren und reif werden für einen positiven Kreislauf aus kleineren Margen, transparenteren Produktionsprozessen und ehrlicheren Angeboten. Die Medien entwickeln sich von Agenten des Stillstands zu Katalysatoren des Wandels. Während die überkommenen und oft korrupten Filter der Medien und des Staates an Größe und Einfluss verlieren, beginnt der griechische Bürger auf andere Geschichten zu hoffen. In der griechischen und weltweiten Presse wird viel geschrieben über den „riesigen korrupten und teuren öffentlichen Sektor“, aber wenig über die Korruption im privaten Sektor, die dafür die Anreize schuf oder die staatliche Korruption erst hervorgebracht hat. In vielen Branchen erzielte man jahrzehntelang Gewinnmargen, wie man sie in keiner anderen europäischen Volkswirtschaft erzielte. Die Wirtschaft besaß kartellartige Strukturen, in denen viele internationale und griechische Unternehmen frei von jeder Regulierung waren. Es ist schon aufregend, dass mit dem Schrumpfen des Zentralstaats Griechenland kreativer wird; und das Kapital folgt der Kreativität, das tut es immer. So wird ein neues, mutigeres Land entstehen.
griechenland 2.0 durch innovation und wachstum
Es wird viel Geld bewegt, und der teure Privatisierungsplan Griechenlands hat das Land ins Schaufenster des globalen Investmentshops gestellt. Vor zwei Jahren haftete den Interessen der Investoren etwas leicht Raubtierhaftes an. Anonymes, ungeduldiges, von der Aussicht auf schnelle Gewinne angezogenes Geld kreiste über Griechenland. Diese Regierung hat viel Zeit und Energie darauf verwendet, ernsthafte, langfristig orientierte Investoren mit geduldigem Kapital zu Investitionen zu bewegen. Erste Anzeichen sind zu erkennen, und ich bin sicher, es wird weitergehen.
Aber wie nehmen Sie das wahr? Die übliche Sicht entspricht zum Beispiel einer Schlagzeile, die vor zwei Wochen zu lesen war: Die Menschen können nicht einmal mehr ihre Medikamente bezahlen. Wie sehen Sie das? Ist das die Regel? Oder übertreiben wir?
Olympios: Sie sprechen da zwei Fragen an. Die erste betrifft die Tatsache, dass Griechenland sich am Rande einer, nach europäischen Vorstellungen, humanitären Krise befindet. Das gefühllose und ganz aufs Fiskalische fokussierte Troika-Programm hat das soziale Netz zerrissen und Zehntausende von Griechen in eine Abwärtsspirale ohne Boden gezwungen. Wir reden hier von ganz normalen Menschen, die nichts mit dem Griechenland von gestern zu tun hatten, die nicht von der kapitalistischen Vetternwirtschaft profitiert und nicht im öffentlichen Dienst gearbeitet haben. Das ist uneuropäisch und nicht zu rechtfertigen. Es ist einfach falsch. Der zweite Punkt betrifft die Tatsache, dass die soziale oder humanitäre Frage eine Seite der Krise darstellt. Sie wird von einer blutdürstenden internationalen Presse überzeichnet, die nur nach stereotypen Bildern sucht. Ich war noch nie so stolz, ein Grieche zu sein. Es gibt eine neue, lebendige Kultur des Gebens, ehrenamtliche Betätigung, Graswurzelbündnisse und patriotische Empfindungen. Der innovative Charakter und die Qualität griechischer Lebensmittel mit neuen Produzenten in ländlichen Teilen Griechenlands treten immer deutlicher zutage; Griechenland 2.0 wird langsam sichtbar. Wenn man den guten Willen und das Interesse hat, die Medienblase zu durchstoßen, sind die frischen Triebe gut zu erkennen.
Hat sich die Transparenz verbessert?
Olympios: Auf jeden Fall. Die Party ist vorüber, jemand hat das Licht angemacht, und nun sehen wir, dass die Person, das Unternehmen, der Politiker oder das Produkt vor uns nicht so „hübsch“ oder „attraktiv“ ist, wie wir geglaubt hatten. Die Kluft zwischen ihnen und uns hat sich geschlossen.
Was ist mit der strategischen Lage Griechenlands? Wenn Sie sich die Europakarte anschauen, all diese Balkanländer, die erst kürzlich nach Europa gekommen sind, wie Bulgarien, oder noch nicht dazugehören, wie Albanien und das Kosovo – alle liegen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Griechenland, das seit langem schon Mitglied der EU ist. Könnte es nicht ein großer Vorteil für die griechische Wirtschaft sein, hier zu sein, gewissermaßen wie ein Schiff auf einem Ozean?
Olympios: Allerdings. Das ist ganz offensichtlich ein Vorteil, weil ein großer Wirtschaftsraum zwischen diesen Balkanländern entsteht, und es gibt auch einen kulturellen Vorteil. Nordgriechenland profitiert vom Verkauf von Zweitwohnungen, die Städte dort sind Wochenendreiseziele für viele aus der Mittelschicht der Balkanländer. Thessaloniki könnte ein Schmelztiegel der Balkankultur werden. In meinen Augen muss Griechenland die Subjektivität feiern und ein weniger homogenes, stärker internationales, für Menschen und Ideen offeneres Land werden, sonst wird jede Diskussion über Wirtschaft, Wachstum oder Kreativität und Ausdruck von Anfang an unterminiert.
Und in Griechenland selbst? Hat sich das Klima dort auch verändert?
Olympios: Es hat sich verändert. Mein Lieblingsbeispiel ist die griechische Kultur. Viele Jahre kontrollierte der Staat über seine Subventionen den künstlerischen Ausdruck. Abgesehen von wenigen ganz Großen in der griechischen Kulturszene nach der Diktatur, den heiligen Kühen, die Ausdruck und Meinung unter Kontrolle hatten, gab es für viele andere nur wenige Chancen. Die Zensur der Ideen und des Ausdrucks war normal aufgrund der Anerkennung des einen zentralen Mainstreams und homogenen geistigen Raums in der hässlichen Beziehung zwischen Politik und künstlerischem Ausdruck. Heute sind sowohl die Politik als auch die Kirchenführung unseres Landes weitaus
Die Deutschen müssen begreifen, dass die Griechen keine „schlechten Deutschen“ sind. Das ist ein falsches Etikett. Die Griechen gehören einer anderen Kultur an.
liberaler und kosmopolitischer. Sie haben auf dem Rücksitz Platz genommen und scheinen zu begreifen, dass Kreativität sich nicht kontrollieren lässt. Ein mutiges Beispiel aus jüngster Zeit ist die Entscheidung des Premierministers, den Bau einer Moschee in Großathen zu genehmigen. Es ist eine Schande, dass die Griechen, die seit vielen Jahren in aller Welt Religionsfreiheit genießen und sich selbst ihrer Gastfreundlichkeit rühmen, nicht einmal den muslimischen Griechen erlaubt haben, in der Hauptstadt eine Moschee zu errichten. Der Premierminister hat begriffen, dass Fortschritt nur durch Toleranz möglich ist.
Hören wir einen Mann, der sein Geld auf dem Lande verdient.
Stellios Boutaris: Tatsächlich, ich bin im Weinbau tätig. Ich möchte auf Ihre erste Frage zurückkommen, ob die Krise gut oder schlecht für Griechenland war. An diesem Tisch hier können wir sagen, dass sie gut war. Aber diese Antwort gilt mit Einschränkungen, denn es gibt beträchtliche soziale Probleme. Andererseits ist die Krise insofern gut, als sie uns alle zwingt, darüber nachzudenken, was wir getan haben, zum Beispiel im Bereich des Weinbaus. Dass Griechenland in allen Zeitungen so lange auf der ersten Seite zu finden war, ist sehr gut, bei jeder schlechten Geschichte suchen die Leute auch nach einer guten. Der Wein war für Griechenland eine gute Geschichte. Es klingt paradox, aber in Deutschland hat sich der Absatz griechischen Weins in den letzten zwei Jahren verdreifacht. Das ist doch widersinnig. Aber der Absatz ist gewachsen. Plötzlich gibt es da so etwas wie einen griechischen Vorteil. Und wir reagieren schnell. In unserer Branche blickten die meisten Weinerzeuger ins Ausland, begannen zu exportieren, zu reisen, die Kosten zu senken und neue Produkte zu entwickeln. Wer sich nicht schnell genug um Innovationen bemühte, flog aus dem Markt.
subventionen und andere absonderlichkeiten
Ich möchte auch auf die Frage zum öffentlichen Sektor zurückkommen. Nach meinen Erfahrungen funktioniert er heute besser. Ich habe es in meiner Branche mit drei staatlichen Stellen zu tun. Eine davon ist der Zoll. Seit sechs Monaten ist der Zoll nun vollständig auf Computer umgestellt, und alles ist besser geworden. Die zweite Stelle ist das Finanzamt. Ich muss sagen, die Schließung des örtlichen Finanzamts und seine Verlegung in die Hauptstadt unseres Landes sind eindeutig besser für den Staat und eindeutig besser für mich als Steuerzahler. Vielleicht ist es nicht so gut für die örtlichen Steuerhinterzieher. Die dritte Stelle ist das Landwirtschaftsministerium, das plötzlich mit uns zusammenarbeiten will. Sie möchten, dass es uns gutgeht. Sie fragen uns, wie es um unseren Absatz steht, oder bringen Formulare vorbei und helfen beim Ausfüllen. Unglaublich.
Wissen Sie, wie das klingt? In gewisser Weise haben wir Ähnliches bei der Wiedervereinigung erlebt, als die ostdeutsche Staatsverwaltung mit dem Kapitalismus konfrontiert wurde. Plötzlich und aus heiterem Himmel begannen sie sich für die Menschen zu interessieren.
Constantakopoulos: In einer Auslandsvertretung gab es einen sehr ineffektiven Beamten, der für die Visavergabe zuständig war. Ein Minister – den Namen möchte ich nicht nennen – fragte ihn, warum er nicht mehr Visa erteile. Er antwortete: „Ich dachte, ich bin hier, um die Grenzen zu schützen und dafür zu sorgen, dass möglichst wenige kommen.“ (Gelächter.) So ging das früher zu.
Boutaris: In der Landwirtschaft hatten wir in den vergangenen zwanzig Jahren in Griechenland unglücklicherweise diese Subventionskultur, die den landwirtschaftlichen Sektor vollkommen ruiniert hat. Eigentlich ist es das Natürlichste von der Welt – die Pflanzen wachsen. Alles wächst. Wir sind mit solchen Verhältnissen gesegnet. Aber diese Leute warteten nur auf Subventionen …
Aus Brüssel.
Boutaris: Aus Brüssel oder vom griechischen Staat. Da hat sich inzwischen viel verändert. Heute haben wir ehrgeizige junge Landwirte, die wirklich etwas von ihren Erzeugnissen verstehen. Sie bauen Weintrauben an. Heute kann ich sagen: „Wenn ich Ihre Trauben kaufen soll und wenn Sie einen guten Preis haben wollen, brauche ich die beste Qualität.“ Sie verstehen, dass das Endergebnis von der Frucht abhängt, die sie anbauen. Früher hieß es: „Ich verlange bei jeder Qualität einen guten Preis und schere mich nicht darum, was Sie dann aus meinem Erzeugnis machen.“ All das war die schädliche Folge der „Subventionskultur“. Das konnte nicht überleben.
Wie ist die Stimmung auf dem Lande?
Boutaris: Wenn Sie dorthin gehen, haben Sie den Eindruck, alles wäre normal. Das gehört zu den Absonderlichkeiten in Griechenland. Wenn Sie abends hinausgehen, scheinen alle glücklich zu sein. Auch haben die Menschen auf dem Land eigene Häuser. Alle lebten zusammen und besaßen gerade einmal fünf Hektar Land mit Pfirsichbäumen, das ihnen ein Zusatzeinkommen bot. Diese einfache Lebensweise hält auch noch die griechische Gemeinschaft zusammen, vor allem auf dem Land. Wir haben aber auch immer noch bulgarische und albanische Arbeiter. Die Griechen sind immer noch nicht bereit, in der Landwirtschaft zu arbeiten.
Ich war auf dem Peloponnes, als dort gerade die Zitrusernte im Gang war. Überall Busse mit Arbeitern aus Rumänien oder Albanien. Ich sah keinen einzigen Griechen auf den Feldern, und das lässt sich den Deutschen nur schwer erklären.
Boutaris: Ich muss allerdings sagen, dass ich in diesem Jahr zum ersten Mal drei Griechen so um die 50 hatte, die gekommen waren, weil sie die 35 Euro Tageslohn unbedingt brauchten. Aber die Jüngeren wollen immer noch nicht, und das hat mit der Mentalität in den Familien zu tun. Ein Vater, der ein Arbeiter oder ein Bauer ist, möchte nicht, dass seine Kinder dasselbe werden. Er möchte, dass sein Kind Rechtsanwalt wird. Auch das hat sich in letzter Zeit verändert. Nun ist der Vater stolz, wenn sein Sohn auf dem Hof arbeitet.
Man hat wirklich das Gefühl, dass Sie alle in einem einig sind: Es gibt immer noch eine unglaubliche verborgene Kraft in diesem Land. Das spüre ich jedenfalls.
Boutaris: Ich sage immer, wir werden die nächste boomende Wirtschaft sein. Aber meine Freunde meinen, ich scherzte nur.
Angelos Stergiou: Als ich 2011 als Arzt und Unternehmer nach Griechenland zurückkam, zitierte ich mit Vorliebe Louis Pasteur: „Veränderung nützt dem Verstand, so dass er vorbereitet ist.“ Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, ich habe fast mein ganzes Leben in Hagen verbracht. Später habe ich Naturwissenschaften und Medizin in Amerika studiert. Deshalb bin ich Veränderungen gewohnt und glaube, darauf vorbereitet zu sein. Ich denke, die Deutschen müssen begreifen, dass die Griechen keine „schlechten Deutschen“ sind. Das ist ein falsches Etikett. Die Griechen gehören einer völlig anderen Kultur an. Sie könnten fragen, warum nicht mehr Griechen in der Landwirtschaft arbeiten oder warum sie ihr Geld auf der Insel Mykonos ausgeben, obwohl sie sich lieber fragen sollten, wie sie morgen an das nötige Geld kommen können, um ihre Rechnungen oder Medikamente zu bezahlen. Die meiste Zeit machen sie sich nicht solche Sorgen. Das ist eben unsere Kultur; wir sind anders. Ich glaube allerdings, mit der Krise verändert sich auch diese Seite unserer Persönlichkeit, weil sie uns gelehrt hat, dass wir die Dinge nicht für selbstverständlich halten dürfen.
Betreiben Sie Ihre Geschäfte mit dieser Mentalität?
Stergiou: Die Unternehmensgruppe, die ich 2012 gegründet habe, die Sellas Life Science Group und die Sellas Clinicals, ist ein einzigartiges Geschäftsmodell. Wir sind das einzige auf klinische Versuche spezialisierte Unternehmen in Griechenland. Das Ganze begann 2011. Damals kehrte ich als Vizepräsident eines großen amerikanischen Pharmaunternehmens hierher zurück, aber tatsächlich geschah das aus zwei romantischen Gründen. Der eine war die Tatsache, dass meine damalige Verlobte und jetzige Ehefrau hier lebte. Der zweite lag in dem aufrichtigen Wunsch, etwas Gutes für Griechenland zu tun. So gingen wir in den Gesundheitssektor, wo wir klinische Forschung und Entwicklung betreiben. Wir arbeiten für Pharmaunternehmen wie Janssen, CILAG, Amgen und anderes sowie für mittelgroße Unternehmen. Wenn sie ein Produkt auf den Markt bringen wollen und klinische Tests durchgeführt werden sollen, müssen die Produkte an Menschen getestet werden. Wir besetzen genau diese Marktnische in Griechenland und sind die einzige auf diesem Gebiet tätige Spezialfirma. Wir bieten Patienten bei schweren Erkrankungen den Zugang zu innovativen und einzigartigen Behandlungsmöglichkeiten, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten – und alles nach den strengen EU-Richtlinien. So werden neue Medikamente zahlreichen Patienten zugänglich, die dringend darauf angewiesen sind. Sind wir bislang erfolgreich gewesen? Ja. Wir haben Innovation und Unternehmergeist des angeblich „undisziplinierten Griechen“ mit harter Arbeit und Effizienz kombiniert. Das Ergebnis sind solide Produkte und hohe Gewinnaussichten. Unser Managementteam besteht aus Griechen, Deutschen, Schweizern, Kanadiern und Amerikanern. Wir verfolgen diesen offenen, freigeistigen Ansatz, um das Unternehmen voranzubringen. Wir haben aus geschäftlichen Gründen auch bereits ein Standbein in der Schweiz. Offensichtlich suchen nicht alle griechischen Unternehmen mit Niederlassungen in der Schweiz nach einer Steueroase. Die Schweiz ist das Mekka der Pharmabranche. Schlecht daran war, dass wir als Griechen ein negatives Stigma trugen, das wir nur unter Schwierigkeiten überwinden konnten. Oft lautete die erste Frage, ob wir „griechische Statistik“ betrieben. Aber lassen Sie mich eines sagen: Das haben damals Politiker gemacht. Es spiegelt nicht die Mentalität griechischer Unternehmen.
Auch Goldman Sachs war an der griechischen Statistik beteiligt.
Stergiou: Genau. Die Griechen haben das nicht allein gemacht. Und die Sache hat inzwischen ein abruptes Ende gefunden. Eine weitere gute Entwicklung: Deutsche möchten mit Griechen zusammenarbeiten. Nach meiner persönlichen Meinung sind viele Deutsche philhellenisch eingestellt. Sie möchten mit uns zusammenarbeiten. Ich bin erst ein paar Jahre hier, aber ich kann sagen, es gab eine Menge Schmutz in Griechenland. Jetzt hat sich nach großen Schmerzen und Opfern der Staub gewissermaßen gelegt. Deshalb können wir heute die wahren, hell strahlenden Diamanten erkennen.
In Griechenland erwartet man nicht unbedingt Firmen aus dem IT-Bereich oder der Medizinbranche …
Stergiou: In Griechenland dreht sich nicht alles nur um Tourismus und Reedereien. Ich bin sehr stolz, dass wir beträchtlich gewachsen sind. Großunternehmen aus den Vereinigten Staaten, aus China, die führenden pharmazeutischen Unternehmen – wir treten jetzt in Geschäftsbeziehungen zu ihnen. Griechenland kann sich als spezieller Markt für Medizin- und Forschungsexpertise positionieren. Wir besitzen ein beträchtliches intellektuelles Kapital. Die Bevölkerung hat einen hohen Bildungsstand, mit einem Schwerpunkt auf Mathematik und Naturwissenschaften. Im Medizinbereich sind Griechen aus der Diaspora hierher zurückgekehrt, weil man ihnen Stellungen angeboten hat: Was sie bisher außerhalb Griechenlands taten, tun wir nun in Griechenland.
Ist die Medizinbranche ein Krisengeschäft?
Stergiou: Wir stellen eine Zunahme der Depressionen und der Selbstmorde fest – aber wir müssen uns diese Zahlen sehr genau anschauen, bevor wir Schlüsse daraus ziehen. Wie Sie sich vorstellen können, sind hohe Depressionsraten und eine hohe Zahl sexuell übertragener Krankheiten wahrscheinlich sowohl direkt als auch indirekt mit der Wirtschaftskrise verbunden. Die Menschen sind weniger vorsichtig. Wenn man HIV zum Beispiel früh genug entdeckt, kann man es sogar heilen. Wir verwenden den in Europa zugelassenen HIV-Test, mit dem sich mit einer Sicherheit von 99,8 Prozent innerhalb einer Minute feststellen lässt, ob man infiziert ist oder nicht. Letztes Jahr wurden mehr als 200 Prostituierte mit diesem Test als HIV-positiv erkannt. In einer Krise braucht man dringend solche Innovationen.
wiederentdeckter stolz und neuer chauvinismus
Bedauern Sie es, nach Griechenland zurückgekommen zu sein?
Stergiou: Ganz und gar nicht. Ich habe eine Weile gebraucht, um die griechische Mentalität zu verstehen, obwohl ich selbst Grieche bin. Ich glaube, wir müssen sehr darauf achten, nicht wieder in die alte Falle zu gehen und mit dem Strom zu schwimmen oder, wenn ich so sagen darf, die Dinge auf griechische Art zu tun. Man muss unbedingt an der Ethik festhalten, die man außerhalb Griechenlands gelernt hat, und sein Unternehmen dann so führen, wie man es gewohnt ist, um diese Dinge dann hier in die Kultur einzubringen. Wenn man das tut, hat der Himmel keine Grenzen.
Was ist das Positive daran, Grieche zu sein? Deutsche sind vielleicht nicht kreativ genug… Die Griechen wohl? Was können sie an Besserem bieten? Sind sie bessere Deutsche vielleicht oder bessere Europäer?
Stergiou: Es war kein Zufall, dass die Medizin in Griechenland geboren wurde. Das ganze Denken und die ganze DNA der Medizin stecken in uns. Wir haben dieses innovative Denken. Wir sind in vielerlei Hinsicht kreativer, und ich bewundere die Griechen dafür. Wenn es ein Problem gibt, werden wir drei, vier, fünf Lösungen dafür finden.
Veremis: Ich kann ein wenig vergleichen, weil ich im Verkauf eine Menge Leute unterschiedlicher Nationalität in mehr als 40 Ländern habe. Und ohne Vorurteil: Die Griechen sind am anpassungsfähigsten.
Wenn in Deutschland eine ähnliche Situation herrschte wie jetzt in Griechenland, hätten wir wahrscheinlich keine Demokratie mehr. Die Politiker haben es unterlassen, den Deutschen zu erklären, dass nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa sich neu strukturiert. Danach wäre Griechenland, anders als wir jetzt meinen, nicht das letzte, sondern das erste Land. Es könnte ein Vorbild sein. Darum die Frage: Was hat Europa falsch gemacht?
Veremis: Im politischen Sinne besteht Europa heute im Vergleich zur Zeit vor zehn Jahren aus sehr viel introvertierteren Ländern und aus sehr viel chauvinistischeren Bürgern, die allenthalben nach Unterschieden statt nach Gemeinsamkeiten suchen. Wenn Sie mich fragen, lautet die entscheidende Frage nicht, was die Deutschen über die Griechen oder die Spanier denken, sondern was sie über sich selbst denken. Was wollen sie in zehn Jahren sein? Die Krise hat die gesamte Konstruktion einer ernsten Belastungsprobe ausgesetzt. Und die Reaktion war in erster Linie von Introversion geprägt. In einer von Introversion geprägten Situation fällt natürlich der stärksten Partei, das heißt Deutschland, die Verantwortung, aber auch die schwierige Aufgabe zu, Führung anzubieten. Ich glaube nicht, dass die Deutschen auf so etwas vorbereitet waren. Wie Sie sagen, können die Bürokraten in solch einer Situation unendlich viele Entscheidungen treffen. Jetzt muss Europa entscheiden, ob es sich zu einer Föderation weiterentwickeln will oder ob wir alle unseren eigenen Weg gehen sollen. Zumindest die Spielregeln müssen festgelegt werden, weil es sonst unmöglich ist, irgendeine Politik zu verfolgen. Ich glaube, auf politischer Ebene ist dieser neue Chauvinismus der große Fehler, den Deutschland begangen hat – die Art wie Deutschland oder die deutschen Medien (wie die Bürger denken, weiß ich nicht) den Süden und vor allem die Griechen dargestellt haben. Das weckte Erinnerungen an den Krieg. Das wirbelte viel von der trüben Geschichte auf, und vor allem sorgte es für die Polarisierung und die Animosität – alles, was mit so viel Sorgfalt und Weisheit nach 1945 geheilt worden war. Auf politischer Ebene hat man damit Monstren aufgeweckt.
Kefalogiannis: Ich möchte nur einen weiteren Faktor hinzufügen, der mit dem zeitlichen Rahmen zusammenhängt. Ich glaube, der Versuch, solch ein Programm, das mit politischen, sozialen und ökonomischen Aspekten zu tun hat und so viele Reformen erfordert, in anderthalb bis zwei Jahren durchzuziehen und den Menschen zu versprechen, 2012 könnten wir auf die Märkte zurückkehren und alles wäre wie zuvor – dieser Versuch war von Anfang an ein großer Fehler. Der Schock war gewaltig, aber wenn die Griechen das gewusst hätten: Gut, die Dinge werden sich ändern; wir werden leiden, aber es gibt einen Zehnjahresplan, und danach werden wir in zehn Jahren das und das erreicht haben – dann wäre die Mentalität ganz anders. Ich glaube, dann wären die Menschen eher bereit, sich den Notwendigkeiten zu beugen. Von Anfang an gab es eine große Lüge seitens der EU und seitens der griechischen Regierung; und von Woche zu Woche machte man andere Versprechungen. Die Griechen waren und sind vollkommen verwirrt. Sie wissen nicht, was sie erwartet. Der Zeitrahmen war ein großer Fehler, für den wir jetzt den Preis zahlen.
Wir nähern uns immer deutlicher dem Problem des öffentlichen Sektors. Wir alle sind uns einig: Weniger staatliche Behinderung, weniger staatliche Kontrolle, weniger unnötige Bürokratie sind gut. Aber wenn man Polizei, Krankenhäuser und Infrastruktur vernachlässigt, kann die Wirtschaft nicht gedeihen. Wie findet man hier das richtige Gleichgewicht?
Kefalogiannis: Der Staat soll kein Privatunternehmen sein. Der Staat soll die Wirtschaft unterstützen. Hier in Griechenland hat der Staat viele Jahre alles gemacht. Das bis vor kurzem und in gewissem Maße bis heute wichtigste Problem lautet: Der Umgang mit dem griechischen Staat erfolgt auf direkter persönlicher Ebene. Man muss hingehen und jemanden treffen. Das wird nicht auf elektronischem Weg erledigt. Wenn man aber alles persönlich erledigen muss, wird daraus ein persönlicher Handel. Wenn das Handeln beginnt, geht es in Korruption über, und dann geht es noch einen Schritt weiter. Man kann den Staat nicht abschaffen. Was wir abschaffen müssen, ist der persönliche Umgang mit dem Staat. Er muss unpersönlich werden.
Nach der Peitsche also ein wenig Zuckerbrot?
Kefalogiannis: Ich glaube nicht einmal die Peitsche. Es sollte von Anfang an eine klare Vision geben. Diese Vision wurde nicht geboten, weil Europa solch eine Vision leider nicht hat. Wir alle wissen, die wirtschaftliche Elite hing zu 100 Prozent mit der politischen Elite zusammen, weil sie durch den Umgang mit dem griechischen Staat erst entstanden war. Sie ist immer noch da. Sie widersetzt sich immer noch dem Wandel, und sie ist ein Hindernis für das neue Griechenland.
Olympios: Ich glaube, es sollte eine klarere und aufrichtigere Diskussion über Verantwortung geben. Die Brüsseler Eliten reden über den öffentlichen Dienst in Griechenland und stellen den Durchschnittsgriechen klischeehaft als steuerhinterziehenden und faulen nichteuropäischen Bürger dar, aber sie vermeiden es, über die eigene Verantwortung und die der griechischen Politiker und Wirtschaftseliten zu sprechen. Die griechischen Politiker machen ihren Gegnern und der Troika Vorwürfe. Sie verheimlichen die Wahrheit immer noch vor der Öffentlichkeit, um die patriarchalische Gesellschaft zu schützen, die es ihnen erlaubt, Entscheidungen für die Öffentlichkeit statt mit ihr zu treffen. Mehr als fünfzehn Jahre lang surfte Griechenland auf der Welle des Materialismus. Überschwemmt von nicht verdientem Geld und dem Gefühl, ein Anrecht darauf zu haben. Es war wahrscheinlich der am wenigsten hellenistische Ort auf der Welt …
Ich persönlich spüre die zersetzende Kraft einer Umwelt, in der die schlimmste, materialistischste Seite des Charakters Applaus erntet, statt isoliert zu werden. Ich habe Dinge getan, die ich bedauere, und ich hätte ganz sicher ein besserer und verantwortungsbewussterer Bürger sein können. Dass „alle es getan haben“, ist keine Entschuldigung für ethische Elastizität. Ich glaube, es gibt ein kollektives und eigenständiges Schuldgefühl, das den Grund für das Ausbleiben ernsthafter sozialer Eruptionen darstellt.
Hätte die europäische Gemeinschaft etwas anderes tun können? Oder ist es ein Systemfehler?
Olympios: Natürlich. Es kann sich unmöglich um ein ausschließlich griechisches Versagen handeln. Es ist auch ein europäischer Unfall, ein Systemversagen. Der Unfall fand gewissermaßen in Zeitlupe statt, viele sahen ihn schon Jahre vorher kommen. Aber der Fairness halber muss man sagen, dass der Fehler immerhin in Griechenland begangen wurde. Dass Eurostat die Griechen nicht erwischte, ändert ja nichts daran, dass man durch die Manipulation der Statistik Diebstahl beging, und wenn man beim Stehlen erwischt wird, verdient man auch, als Dieb behandelt zu werden.
Es muss in Brüssel Leute gegeben haben, die davon wussten …
Olympios: Natürlich wussten sie es. Aber nochmals, der Wandel darf nicht nur institutioneller Art sein, und die Reform muss auf der Ebene der Person, der Gemeinde, des Unternehmens und der Politik stattfinden. Ein neuer Bürger kann nicht auf einer Ebene allein geschaffen werden.
Gibt es etwas, das unmittelbar helfen könnte?
Boutaris: Wenn Spezialisten in die griechische Wirtschaft kommen und wirklich etwas von der griechischen Wirtschaft verstehen und wenn sie die besten Praktiken aus Deutschland oder Europa übernehmen und an die griechischen Bedingungen anpassen, dann kann das schon eine große Hilfe sein. Aber die ganze Brüsseler Bürokratie ist unerträglich für ganz Europa. Dort liegt das eigentliche Problem.
Olympios: Man muss ein Sicherheitsnetz schaffen. Man muss andere Prinzipien und moralische Orientierungen in den Mix aus Maßnahmen und Politik einbringen. Man muss einsehen, dass das soziale Gefüge nicht ohne Rücksicht auf die Kosten erschüttert werden darf. Obwohl Griechenland weitaus mehr Ziele erreicht als verfehlt hat, wieso gerät die Troika in Panik wegen der geringsten Rückgänge in den Steuereinnahmen aus einer finanziell bereits ausgelaugten Öffentlichkeit, ist aber nicht ebenso alarmiert wegen sozialer Krisen? Wieso brauchen wir besondere finanzielle Hilfe, aber keine soziale? Wie europäisch ist es, dass das Programm keine sozialen Richtgrößen enthält? Dass es das von ihm ausgelöste Leid nicht berücksichtigt? Wir müssen auch die Lernerfolge berücksichtigen und die Härte der Umstände anerkennen.
griechische werte: Familie, nachbarschaft, kirche
Boutaris: Nur reales Wachstum kann neue Arbeitsplätze bringen. Man könnte zu jedem Unternehmen gehen und sagen: Ihr könnt fünf Leute umsonst haben. Ich zahle dafür.“ Aber das würde nichts nützen. Wir müssen echte, nachhaltige Arbeitsplätze schaffen.
Sie alle haben während der Krise keine Leute entlassen, sondern neue Arbeitsplätze geschaffen?
Kefalogiannis: Wir haben jedenfalls unsere Belegschaft vergrößert.
Boutaris: Haben Sie die Löhne gesenkt?
Kefalogiannis: Nein, wir haben die Löhne nicht gesenkt, und wir haben niemanden entlassen.
Constantakopoulos: Wir mussten einige gehen lassen, aber wir haben andere eingestellt. Jetzt bauen wir gerade eine zweite Niederlassung auf einem 100 Hektar großen Grundstück. Wir erwarten, dass wir in unmittelbarer Zukunft weitere Arbeitsplätze schaffen können.
Retsos: Sie sprechen hauptsächlich über neugegründete Unternehmen. Mein Unternehmen ist 50 Jahre alt, und ich kann Ihnen versichern, dass wir zwar Leute ausgewechselt haben, aber die Belegschaft blieb gleich groß und wurde in manchen Fällen sogar vergrößert.
Gibt es andere im privaten Sektor, die von der alten Staatswirtschaft in Griechenland profitiert haben, und sind sie heute noch mächtig?
Veremis: Es gibt Leute, die direkt profitierten, weil sie das Sagen hatten. Aber es gibt eine ganze Klasse von Menschen, die bedeutende Opfer gebracht haben. Sie hatten anfangs einen guten Job und eine Familie mit drei oder vier Kindern, arbeiteten sich im Management ihrer Unternehmen hoch und sind nun seit vier Jahren arbeitslos. Diese Leute sind ein anderer Fall als die Arbeitslosen aus den unteren Schichten. Sie haben eine ausgezeichnete Ausbildung, waren vor fünf Jahren noch aufstiegsorientierte Manager, ihre Kinder gingen auf Privatschulen, alles lief bestens, und plötzlich ist ihre Welt vollständig zusammengebrochen. Es gibt viele Leute dieser Art. Ich kenne eine ganze Reihe von ihnen persönlich.
Boutaris: Auch Unternehmer, die einen gesunden Betrieb führten. Mit 40 bis 50 Mitarbeitern und einem Umsatz von 10 Millionen Euro, und plötzlich ist all das verschwunden. Bauunternehmen und Firmen im Umkreis der Bauindustrie sind verschwunden.
Veremis: Manche gehen nach Qatar oder Dubai, weil sie hochqualifizierte Ingenieure oder Architekten sind.
Constantakopoulos: Wir brauchen Wachstum. Aber man kann durch Einsparungen kein Wachstum erzeugen. Es muss etwas Wachstum geben. Wenn man einer alten Dame die Pension kürzt, wären diese 20 oder 50 Euro mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent in den Konsum gegangen. Man streicht also in Wirklichkeit die Wirtschaft zusammen.
Boutaris: Da ist viel Zeit verloren worden.
Constantakopoulos: Viele Menschen haben ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihren Haushalt verloren. Was tun wir für sie? Ich glaube, das Beste, was wir als Land, als Branche, als Gesellschaft tun können, ist die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze. In der Zwischenzeit und bis wir einen Zustand erreicht haben, in dem alle Menschen ein ausreichendes Auskommen finden können, müssen alle ihr Teil beitragen und helfen. Ich kenne Hilfsorganisationen, die man anrufen kann, um ihnen zu sagen: „Ich habe hier zehn Äpfel übrig.“ Dann verbinden sie einen mit jemandem, der sie brauchen kann. Es ist unglaublich genial, das auf individueller Ebene zu lösen. Ich habe ein halbes Brot übrig, und du kannst es haben … Da wird viel getan und überlegt, wie wir uns gegenseitig helfen können. Zum Beispiel auch die Kirche und andere Institutionen: Man geht in den Supermarkt und kauft etwas, und dann kann man an den Kassen der meisten Supermärkte in Griechenland etwas in einen besonderen Korb legen, an dem steht: Wir brauchen Nudeln oder Milch usw. Da gibt es auf ehrenamtlicher Ebene einen gewaltigen Einfallsreichtum. Der Hunger wird dadurch in Griechenland auf einem Mindestmaß gehalten. Die Gesellschaft hält wirklich zusammen. Das hat auch mit den griechischen Werten zu tun, die Familien unterstützen sich gegenseitig. Die Dörfer kümmern sich um ihre schwächsten Mitglieder, ebenso die Nachbarschaft, und die Kirche spielt eine wichtige Rolle. Andererseits werden die Regeln des Marktes vom größten Player bestimmt. Der größte Player war bisher der Staat. Das ist nun anders. Wirtschaftliche Probleme können gelöst werden; aber wenn die Wirtschaftskrise sich in eine soziale Krise verwandelt, kann uns das 30 Jahre zurückwerfen.
Wie dünn ist die Eisdecke der Zivilisation?
Constantakopoulos: Ich weiß nicht, wie dünn sie ist; aber es gibt diese Decke eindeutig. Wir brauchen Strukturreformen, aber andererseits brauchen wir auch Wachstum. Wir leben jetzt seit sechs Jahren in der Rezession – oder sollte ich besser sagen: Depression? Das ist zu viel. Rezession bedeutet, dass Ihr Nachbar sein Haus verliert. Depression bedeutet, dass Sie selbst Ihr Haus verlieren.
Braucht Griechenland weniger Sparpolitik?
Stergiou: Worum ich persönlich mir wirklich Sorgen mache, ist der europäische Pragmatismus. Konnten die Leute in Brüssel die Probleme der überschuldeten Länder nicht voraussehen? Wären wir die Probleme früher angegangen, wie in der Präventivmedizin, stünden wir heute nicht da, wo wir jetzt stehen. Wenn Brüssel mit all seinen Kontrollen und Regulierungen nicht vorhersehen konnte, was geschehen würde, mache ich mir große Sorgen über das, was da in Brüssel geschieht. Und ein zweiter Punkt: Wenn jemand Krebs hat, und ich denke, wir haben festgestellt, dass Griechenland Krebs hat, was macht man dann? Man wendet sich an den besten Arzt. Der sorgt für die bestmögliche Behandlung und eine gute Prognose. Aber genau das hat Brüssel nicht getan. Was soll mit Italien geschehen? In Griechenland hat man gewissermaßen durch Versuch und Irrtum einen Sparansatz erprobt. Aber, medizinisch gesprochen, hatte die Behandlung schwere und fürchterliche Nebenwirkungen. Das hat den Extremisten den Boden bereitet. Da gibt es die rechtsgerichtete Partei „Goldene Morgenröte“ mit Wurzeln in der griechischen Junta und Idealen, die aus der dunklen Zeit Nazi-Deutschlands stammen. Sie gewinnt an Zustimmung – nicht weil die Griechen rechtsgerichtet wären, sondern aus Verzweiflung. Das erschreckt mich sehr, weil die Dinge rasch aus dem Ruder laufen können. Es gibt auch linksextreme Gruppen, die gleichfalls nationalistisch gefärbt sind. Da kann es leicht zu Unruhen kommen. Die Lage wird sich nicht bessern, falls Brüssel nicht endlich aufwacht – falls wir nicht die richtige Behandlung finden. Griechenland braucht ausreichend Zeit für die Anpassung und einen realistischen Finanzierungsplan, wenn es diesen Krebs überwinden soll. Gebt uns mehr Zeit für die Umsetzung der Veränderungen. Wir Griechen sind ein stolzes Volk und mögen es nicht, auf Rettungsaktionen und politische Entscheidungen angewiesen zu sein, während unsere Wirtschaft zugrunde gerichtet wird. Unterstützt uns mit Würde!
Deutschland ist nicht in der Position, Lehren zu erteilen. In Deutschland wird die Entwicklung sicher nicht denselben Verlauf nehmen wie in Griechenland, aber wir werden dieselben Symptome sehen. Unsere Gesellschaft hält nicht zusammen; wir haben weder diese Familienbande noch starke Kirchen. Unsere gesamte Identität basiert auf dem Reichtum des Landes in den sechziger und siebziger Jahren.
Stergiou: Was wir in Griechenland brauchen, sind weniger staatliche Bürokraten, die diese harten Entscheidungen treffen. Wenn jemand nicht nachts aufwacht, weil er Angst hat, dass der Haushalt nicht ausgeglichen ist, oder als Unternehmer, dass er am nächsten Morgen nicht die Rechnungen bezahlen kann … Solche Leute sollten ein Land führen, weil sie die Frustration wirklich verstehen. Mir wären erfolgreiche Unternehmer lieber, die wirklich mit Lösungen aufwarten, die die Dinge in die Hand nehmen und entscheiden, was möglich und was nicht möglich ist. Stattdessen haben wir heute Politiker, die noch nie in ihrem Leben ein Unternehmen geführt haben.
Constantakopoulos: Die Griechen haben den Schmerz erlebt. Sie haben Verluste hinnehmen müssen. Ihr Stolz hat gewaltig gelitten. Wir haben Politiker ins Gefängnis wandern sehen. Wir haben Unternehmer ins Gefängnis wandern sehen. Das ist keine nur theoretische Möglichkeit. Es gab Leute, die sich für unantastbar hielten. Dieses Gefühl gibt es nicht mehr. Diese Angst ist als solche schon sehr gut für das System.
Suchen Politiker zum Beispiel Ihren Rat?
Olympios: Die Distanz zwischen Politik und Wirtschaft ist deutlich kleiner geworden.
Kefalogiannis: Wenn wir Griechenland einen Augenblick vergessen, glaube ich, dass die ganze westliche Welt sich in einer Krise befindet. Die kapitalistische Welt ist in eine Sackgasse geraten. Wir brauchen ein neues Modell. Ich glaube, das neue Modell wird aus den Unternehmen hervorgehen. Die Unternehmen sind die Moleküle der modernen Gesellschaft. Sie arbeiten in der Gesellschaft, aber sie verstehen, dass der Erfolg von der Gesundheit und vom Erfolg der ganzen Gesellschaft abhängt. Dieses Modell, so glaube ich, wird zur Wiedergeburt eines Kapitalismus der sozialen Verantwortung und zu einem Wandel der Mentalität führen. Wir sollten aufhören, alles von den Politikern zu erwarten. Wir müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen. Jeder von uns sollte seinen Teil dazu beitragen, die Gesellschaft der Zukunft zu gestalten.
Olympios: Ich glaube, die Politiker haben eine klare Rolle zu spielen. Was uns fehlt, ist eine kosmopolitische Sicht der Dinge, die über Griechenland, Deutschland, Italien und Frankreich hinausreicht; wir brauchen einen ganzheitlicheren europäischen Ansatz. Wir haben zum Beispiel in Griechenland dreißig Jahre lang darüber diskutiert, ob in Athen eine Moschee gebaut werden darf. Das ist beschämend. Die muslimische Gemeinde Athens hat keine Moschee, obwohl die Griechen in aller Welt ihre schönen Kirchen haben. Aber gerade jetzt haben viele Politiker einiges zu bieten. In ganz Griechenland finden sich gute Beispiele, aber das sind Politiker der unteren Ebene, Stadträte und Bürgermeister, die ihre Stadt aufräumen, die sich für vollständig wiederverwendbare Produkte und Energieeffizienz einsetzen.
die lösung? weniger staatliche bürokratie
Constantakopoulos: Eines unserer größten Probleme liegt darin, dass nur sehr wenige ernsthafte junge Männer oder Frauen Politiker werden möchten. Möchten Sie, dass ihr Sohn oder Ihre Tochter in die Politik geht? Ich weiß nicht, wie viele ja sagen würden, wenn ich diese Frage in meiner Nachbarschaft stellte. Wer wird unser Land führen, wenn wir die Politiker in den Augen der Presse und zukünftiger Generationen so schlecht machen?
Das ist in Deutschland genauso. Niemand will mehr Politiker werden.
Boutaris: Weshalb sollte man Politiker werden, wenn man nicht gelegentliche ein „Gut gemacht“ oder „Bravo“ hört. Wenn jemand nicht in die Politik geht, um dort sein Geld zu verdienen, sollte er wenigsten manchmal ein „Gut gemacht“ hören.
Retsos: Stelios, dein Vater ist Bürgermeister von Saloniki – er muss einige Erfahrung haben. (Gelächter) Ich lese viel über ihn – sehr Gutes.
Boutaris: Er bemüht sich. Aber alles braucht viel länger als erwartet. Wenn es etwas gibt, das ihm Probleme bereitet, dann sind es die Verfahren und Strukturen. Das ist das größte Problem. Die Verfahren sind langsam und schwer zu überwinden; sie sorgen dafür, dass nichts getan wird, sofern es nicht jemanden, einen Politiker, gibt, der die Dinge vorantreibt. So ist das gesamte staatliche System aufgebaut.
Darf ich Ihnen eine letzte historische Frage stellen, über die in Deutschland viel diskutiert wird? Auf dem Gipfel in Cannes sagte Papandreou, er wolle ein Referendum über den Euro abhalten. Erinnern Sie sich daran?
Mehrere zusammen: Natürlich . . . (Gelächter.) Wer könnte das vergessen?
Damals intervenierte Habermas, weil Schäuble gesagt hatte: „Das wird den Markt ruinieren.“ Und im Anschluss hatten wir eine lebhafte Debatte über die Frage, ob nicht Gesellschaft und Demokratie wichtiger seien als die Märkte. Meine Frage lautet deshalb: Hatte Papandreou recht oder unrecht?
Olympios: Ich bin der festen Überzeugung, dass er hundertprozentig recht hatte. Sicher, der Zeitpunkt war falsch gewählt, und die Durchführung war schrecklich, aber ich kenne keine andere Idee, die Griechenland stabilisiert, die Verbindung zu Europa gestärkt und die Furcht vor einem Austritt Griechenlands beseitigt hätte, so dass billigeres Geld und Privatisierung rasch hätten vorankommen können, ohne das Land in Gefahr zu bringen. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass 70 bis 80 Prozent für den Euro gestimmt hätten, und das heißt, sie hätten die Sparmaßnahmen akzeptiert. Vor allem aber hätten die einzelnen Bürger, die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Medien und andere Eliten ganz individuell die Verantwortung für die Zukunft übernommen, ganz ohne Bluff und ohne utopische Versprechungen, die die öffentliche Debatte korrumpieren. Ich war erschrocken über die europäische Reaktion und kann bis heute nicht erkennen, welche fiskalpolitischen oder sozialen Vorteile der Verzicht auf das Referendum gehabt haben soll.
Veremis: Aber die Ausführung war grauenhaft. Selbst wenn der Gedanke interessant gewesen sein mag. Wer eine Volksabstimmung gewinnen will, muss sie sorgfältig vorbereiten und die Frage korrekt formulieren.
Wenn Sie ein Referendum abgehalten hätten, denn damals war die gesamte Europäische Union schockiert von der Vorstellung, Griechenland könnte austreten, dann hätten die Europäer und die Deutschen Wege finden müssen, die Griechen zu überzeugen. Das wäre so etwas wie eine Rationalisierung gewesen.
Retsos: Man zieht seine Pistole nur, wenn man auch bereit ist zu schießen. Papandreou zog zwar seine Pistole, aber er glaubte nicht, dass er sie einsetzen müsste. Wir wissen, dass es von Anfang an nur ein Bluff war und, wie ich meine, ein verheerender Bluff.
Wir danken Ihnen für diese Diskussion. Efcharisto!