Amelie Fried hat in der FAZ vom 13.3.2010, S. 3, einen bemerkenswerten Beitrag geschrieben. Es geht um den Mißbrauch von Jugendlichen in der reformpädagogischen Odenwaldschule. Dort sind, wie man dem Text entnehmen kann, eine erhebliche Anzahl von Jugendlichen sexuell mißbraucht worden. Der Text beschreibt in bewundernswert differenzierter Weise. Wie die Dinge waren; – einerseits, andererseits. Er beschönigt nichts, ermöglicht es, zu reflektieren, über Moral und Verantwortung nach zu denken. Das Beste daran: Er will sich erst ein Bild machen, bevor er urteilt. Und das ist, nach allen Zumutungen der katholischen Kirche zum Thema Verantwortungslosigkeit, schon mal eine wirkliche Leistung. Und sie zeigt, dass das Zeitalter von „Verantwortungsmaschinerien“ wieder einmal zu Ende geht.
Ein Vergehen ist ein Vergehen, sexueller Mißbrauch ist sexueller Mißbrauch, egal, ob er von Lehrkräften in mißverstandener Aufklärungsmoral vorgenommen wurde oder von katholischen Priestern, die in ihrer sexuellen Existenz alleine gelassen sind und wurden. Lediglich die brüderliche Nachsorge von Vergehen ist im katholischen StaatimStaat mit großzügiger Vergebung geregelt worden. Wahrscheinlich, kann man spekulieren, kennen auch die Kirchenoberen die Nöte der Sexualität,wenn sie unter dem Deckmantel von Hingabe an die christliche Kirche weggeleugnet wurde.
Sexualität ist ein Tatbestand menschlicher Existenz, das haben wir in den letzten 30 Jahren gelernt. Und jeder von uns hat sich an diese Frage, trotz aller öffentlichen Brandungen, selbst hin getastet. Es gibt nichts privateres als die eigene Sexualität, auch wenn die Zurschaustellung geschlechtlicher Merkmale niemals so weitgehend dem Verkaufsprozess unterworfen wurden wie derzeit. Die Entwicklung von Sexualmoral unter diesem Vorzeichen ist noch einmal ein ganz anderes Thema. Körperliche Praxis muss nicht zwangsläufig mit persönlicher Hingabe verbunden sein, kann auch einfache Praxis sein und sich, je nach kulturellem und sozialem Hintergrund, unterschiedlich, auf jeden Fall vielfältiger als wir, die Älteren das denken, entwickeln.
Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen durch Vertrauenspersonen sind ein besonders schwerwiegendes Kapitel. Daran halten wir fest. Und gerade in einem Internat entspricht das dem Inzest-Tabu im übertragenen Sinne. Das hat seinen Sinn, auch und gerade, wenn Sexualität von Jugendlichen besonders provokativ inszeniert wird, um seine eigenen Erfahrungen zu machen.
Wo also ist die Grenze zwischen Rechtmäßigkeit, tolerierbarem Umgang und Unrechtmäßigkeit? Ein öffentliches Verurteilungsritual bringt hier deshalb nicht weiter, weil zuerst das Ausmaß der Vergehen klar sein muss. Ist es ein Thema der sechziger bis, sagen wir, maximal neunziger Jahre, das sich in den nachfolgenden Jahren von selbst erledigt hat? Ist es ein Thema, das sich, möglicherweise, in der katholischen Kirche deshalb noch nicht erledigt hat, weil hier eben keine Selbstregulierung eintreten konnte (unterstellt, in der Odenwaldschule hätte es diese Selbstregulierung gegeben, weil der Überschwang der sexuellen Revolution abgeklungen war und die Grenzziehung von Recht und Unrecht wieder besser vollzogen werden konnte)? Das alles sind Spekulationen. Wenn es also eine rückwärtsgewandte Diskussion ist, geht es in erster Linie darum, das Leiden der Menschen anzuerkennen, die dadurch aufgeworfenen Selbstzweifel endlich einmal zur Geltung kommen zu lassen. Um damit eine, wenngleich zu späte Korrektur ihres Eigenbildes möglich zu machen.
In einer zweiten, gesellschaftlichen Diskussion kann es meines Erachtens nur darum gehen, die vorrechtlichen Zustände in der katholischen Kirche, die Anerkennung einer innerkirchlichen „Rechtsbarkeit“ zu korrigieren. Sagen wir es deutlich: Die katholische Kirche hat ihren Anspruch, höhere Moral in ihren eigenen Reihen zu reklamieren, verloren, weil sie aus Machtinteressen die Leugnung von Verantwortung zur obersten Maxime gemacht hat. Und deshalb ist die erste Konsequenz, die eine liberale Justizministerin vorzunehmen hätte, die Korrektur der Sonderrechte der katholischen Kirche, erst eigene Ermittungen anstellen zu dürfen, bevor Verbrechen in staatlicher Verantwortung untersucht werden.
Für aufgeklärte Menschen, die dem Gedanken der Reformpädagogik anhängen, lässt sich aus dem ganzen Deseaster nur ein Schluß ziehen: Reformpädagogik und ihre Ansätze ist ein weiterhin sinnvoller Ansatz, auch wenn, in diesem Falle von oberster Stelle, es von einigen zu einer nicht zu tolerierenden Grenzüberschreitung gekommen ist. Der Ansatz von Amelie Fried, diese Fragen öffentlich, ohne Rücksicht auf scheinbare Tabus, zu machen, ist ein wertvoller Beitrag. Die Reflektion von Verantwortung und Schuld ist letztlich eine Frage, die jeder Mensch für sich selbst verantworten muss. Die Frage, welches Verhalten strafrechtlich sanktioniert werden muss, spielt dabei auch eine Rolle, aber eben erst in einem zweiten Schritt, der von einer Mentalität des Hexenkessels, der Vorverurteilung, der Sündenbockmentalitäten und manch anderer Omnibusdiskussionen (Stichwort: Hart, aber fair die Diskussion, ob das Zölibat noch zeitgemäß ist, das ist eine Frage, die die Katholische Kirche gerne in Eigenverantwortung debattieren kann). Aber die Frage von Vergehen an Schutzbefohlenen, die ist tatsächlich von übergerdnetem Interesse und sollte auch von übergeordneten Stellen wahr genommen werden können.