Die Krise der Moderne, die erste

DEUTSCHLAND UND DIE WELT

Berlin-Kreuzberg, 23.7.2014. Von Deutschland aus betrachtet ist alles ok. Sitze gerade im Cafe, Sonne, südliche Gefühlswelten. Im Radio des von einer türkischen Unternehmerfamilie betriebenen Cafes läuft „An Tagen wie diesen“, die quasi deutsche Nationalhymne. So sonnig, so friedlich.

Krisen brechen, befürchte ich, immer unverhofft aus.

DIE WELT, VOM WESTEN AUS BETRACHTET

Wenn wir die Weltlage betrachten, sieht es anders aus. Ich muss nur Stichworte nennen, Ukraine, Russland, Syrien, Libanon, Irak, Afghanistan, die Welt, so scheint es, ist „out of control“. Man müsste sagen, „Out of western control“.

Kontrolliert werden wir dagegen vom Hort der Freiheit. Die USA mit ihrer hübschen Freiheitsstatue hat 100 Mrd. $ investiert, um die Welt auszuspionieren. Wir brauchen gar keine Talibans mehr, der Feind, scheint es, sitzt mitten unter uns.

Vor diesem Hintergrund klingen die Töne der TTIP Befürworter wirklich putzig. Abbau der Handelsbeschränkungen. Das müsse sein, um weiter Wirtschaftswachstum zu generieren. Angeführt werden dann diese Blinker, die in USA gelb und hier rot sind oder umgekehrt. Ja, wenn wir solche Handelshemmnisse beseitigen müssen, können wir auch noch ein bißchen warten.

Dann ist die europäische Zivilgesellschaft gefragt, den amerikanischen Imperialisten, das sind nicht alle Amerikaner, sondern diese Freihandelsfixierten, mal richtig eines mitzugeben. Freiheit geht vor Handelsfreiheit, Selbstachtung vor roten Blinkern für alle.

IT’S TECHNOLOGY, STUPID

Ich sitze im Cafe, mein iPad hält mich „allways on!“, ein Mini iPad habe ich mir zusätzlich zugelegt, weil es als Navi besser taugt und zum Lesen leichter ist. Ich genieße diese Moderne, die technische. Seit ich denken kann, macht sie mir das Leben leichter. Zum Denken muss ich schreiben, meine eigene Handschrift konnte ich nie lesen, so wurde dieses technische Hilfsmittel zu meinem achten Sinn.

Das Tempo technologischer Entwicklung ist atemberaubend. Und faszinierend. Die Entwicklungssprünge, auch wenn sie sich in unschönen Folgen niederschlagen. Dieser Tage können wir in der Zeitung lesen, dass Microsoft jeden zehnten Arbeitsplatz weltweit abbauen will. Obwohl die Branche boomt. Das ist Wettbewerb, hart. Und nicht gerecht. Microsoft hat den Mobile-Trend verschlafen, offensichtlich hilft jetzt nicht einmal mehr ein sehr gut funktionierendes Produkt (Mein Handy ist ein Nokia, das Betriebssystem ist super, Kosten-Nutzen-Relation super, wenn man nicht die gesamte App-Vielfalt auf dem Handy nutzen will oder muss. Oder irgendwo Kosten-Nutzen-Relationen anlegen will.)

Naturwissenschaftliche Forschung und Entwicklung machen also große Sprünge, Bocksprünge, die unser Leben umkrempeln. Nie war im Bewusstsein der Menschen mehr Ungleichzeitigkeit als heute, könnte man titeln, um den täglichen Wahnsinn zu beschreiben.

Die Natur- und Ingenieurswissenschaften boomen. Eine Krise DER Wissenschaften gibt es also nicht. Klar, die wichtigsten Entwicklungen (die MP3 mal ausgenommen, aber es gibt schon einen Grund, warum immer über dieses Thema geredet wird, es kommt halt nichts Spektakuläres nach) werden in den USA entwickelt, Chapeau, während Europa noch seinen Träumen nachhängt, wie das Ganze menschenverträglich, politisch korrekt und gesellschaftlich legitimiert stattfinden könnte.

So ein Bullshit! Wie lange darf man eigentlich seinen eigenen (Tag)Träumen nachhängen, ohne wahrzunehmen, das dieses alles, also das deutsche und europäische Politiktheater, auf einer ziemlich kleinen Nebenbühne des Welttheaters stattfindet? Die Schauspieler spielen offensichtlich weiter, bis sie die Pensionsgrenze erreicht haben. Sehen die nicht, dass gar niemand mehr zuguckt? Außer den Feuilletonredakteuren, also bezahltem Publikum.

DIE KRISE DER MODERNE IST EINE KRISE DER GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN

Die Krise der Moderne, so meine These, ist eine Krise des westlichen Weltbildes, damit zugleich eine Krise der Geisteswissenschaften, also der Philosophie, der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, der Gesellschaftswissenschaften und ihrer praktischen Anwendungen, der Politik. Und in gewisser Weise, insofern sie nicht ganz gezielt als „Schocker“, als Bazooka, eingesetzt werden, auch eine Krise der Beratungsdisziplinen, die sich daraus entwickelt haben. Oftmals werden dort Lehrbuchweisheiten zusammengetackert und als Erkenntnisse verkauft, die dann andere umsetzen sollen. „Richtige Erkenntnisse“, wenn es schief geht, haben die anderen in der Umsetzung versagt.

Meine These:

Das wissenschaftliche Weltbild, ich werde erläutern, was das heißt, hat sich der Köpfe der Menschen in einem Umfang bemächtigt, der mich immer wieder staunen lässt.

Wissenschaftliche Erkenntnis, ich verweise auf einen Beitrag, den ich ketzerisch nach eine Debatte mit Hermann Ott geschrieben habe, wird quasi religiös verklärt als unabhängige, objektive Erkenntnis. Als ob die Behäbigkeit, die manchmal auf deutschen Lehrstühlen zu finden ist, nicht auch ein subjektives Moment repräsentieren würde. Nein, Wissenschaften, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften produzieren eine bestimmte Sicht der Dinge, eine die auch relevante Erkenntnisse zeitigt, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, es ist an der Zeit, den religiösen Charakter, den Wissenschaftlichkeit, den Papierkonzepte inzwischen in sich tragen, zu relativieren. Es ist eine Sicht der Dinge. Und wir sollten uns mit der Frage beschäftigen, wo diese Sicht der Dinge ihre Beschränkungen hat.

Ich will das einmal mit ein paar schlaglichtartigen Thesen tun:

1) Das wissenschaftliche Denken führt uns alltäglich in die Irre, weil es uns ständig auf die Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen schickt. Die meisten Zusammenhänge in der realen Welt, in der die Randfaktoren also nicht „0“ gesetzt werden können, sind komplexerer Natur. Es gilt in der Realität also, mit komplexen Systemen, die zudem verschiedene Aggregatzustände durchlaufen können, umzugehen. Dazu liefert uns aber die wissenschaftliche Denke keine substanziellen Anhaltspunkte.

2) Wer politische Diskussionen verfolgt, stellt fest, dass politischen Debatten vor Wahlen auch diesem Entweder-Oder-Muster folgen. Wenn man näher hinsieht, stellt man aber fest, dass die etablierten Parteien einschließlich der Grünen, längst einem einheitlichen Weltbild huldigen, das auf denselben Studien derselben Wissenschaftlern basiert, niemand verschrecken will und in denen immer alles positiv erscheint. Win-Win-Situationen allerorten. Papiergewordene Schönwetterlandschaften.

3) Wenn man der Frage weiter nachspürt, was die Kerngedanken dieser modern konstituierten Welt sind, kann ich zwei ausmachen:

Einmal der Hang, für alles eine Lösung zu finden, die Welt also als beherrschbar zu definieren.

Zum anderen der Wunsch nach konfliktfreier Regulierung, Interessenausgleich. Das Habermas’sche Paradigma des „herrschaftsfreien Diskurses“ mit der Idee, dass es Wahrheit jenseits von Interessen geben könnte (eine Idee, der wahrscheinlich weltweit nur wir Deutschen mit unseren Denkern, also Hegel und Kant anhängen). Aus dieser Idee „Interesselosen Denkens und Handelns“ leitet sich auch das Humboldtsche Wissenschaftsideal ab, aus dem dann der Elfenbeinturm wurde. Der ist sicher inzwischen geschleift, Reste von Elfenbein werden allerdings noch gelagert, manche nutzbringend, manche weniger.

4) Als letzten Spross dieser modernen, rationalen Welt hat diese, zumindest in Deutschland (und damit stellt sich die Frage, ob das eine systematische Ursache hat), eine neue Partei hervorgebracht, die diesem rationalistischen und idealistischen Weltbild huldigt. Die Idee: Wenn man lange genug mit den Menschen redet, kann man Konsens herstellen, WIRKLICHEN Konsens, im Sinne Habermas. Nun hat Habermas auch zahlreiche Anhänger unter den Sozialdemokraten. Aber die haben ja immerhin ihre Restarbeiterklasse als Anker. Die sagt ihnen dann schon, wenn sie es zu arg treiben.

Diese neue deutsche Partei, das sind die Grünen. Sie sind idealistisch, romantisch und rationalistisch zugleich, eigentümliche Mischung. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin Mitglied dieser Partei. Insofern ist das auch ein Teil Lebensreflektion eines Siebenundfünfzigjährigen.

Wer grüne Programme liest, gewinnt den Eindruck, es ist doch alles ganz klar, die Probleme der ganzen Welt sind gelöst, schließlich haben die Grünen darüber dreißig Jahre debattiert und sind zu einem Schluß gekommen. Wer sich mit der Politik der Grünen beschäftigt, stellt fest, dass auch in der Umsetzung immer der Eindruck erweckt wird, man könnte alle Probleme und Konflikte der Welt lösen, auch konfliktfrei lösen, wenn man sie, also, die Grünen, mal hinlassen würde.

Mein Beleg? Man muss nur einmal hingucken, wie die Grünen mit dem Thema „Hartz“-Gesetze umgehen, war richtig, so die Kommentierung, aber wenn wir es alleine gemacht hätten, hätten wir es sozialverträglich und wirklich richtig gut gemacht. Und nicht wie die blöden Sozialdemokraten. Das würde ich mir doch gerne einmal ausbuchstabieren lassen. Oder, anderes Beispiel, der Ukraine-Konflikt. Jetzt tobt der Kampf zwischen denen, die angeblich Putin-Versteher sind (Trittin ist da im Verdacht) und denen, die im Majdan schon das neue Leipzig sehen (Die Familie Fücks – Beck steht da unter Generalverdacht). Jeder, der nicht in die Medien will, weil er eine Botschaft verkaufen muss, weiß, dass die Situation komplexer ist. Ohne Putin also keine Lösung. Und der Maidan, da sind auch alle möglichen Menschen unterwegs. Wenn die USA 5 Mrd. $ in die politischen Entwicklungen investiert haben, dann wollen sie manchmal auch Abkürzungen für ihr Geschäft, Return on Investment. Die Schleifspuren dieser Abkürzung heißen dann Korruption, Gewalt, Kriminalität, rabiate Einflussnahme. (Das Verhalten der Europäer kann man jetzt bei den Boykott-Fragen studieren. Kein Ruhmesblatt!)

DIE MODERNE WISSENSCHAFTLICH KONSTRUIERTE WELT HAT KEINE ANTWORTEN MEHR.

Das wirkliche Leben ist voller Widersprüche, die Papierwelten der Wissenschaftler sind immer clean. (Ich lasse das jetzt einmal stehen. Da ist nicht ganz widerspruchsfrei. Wissenschaftliche Studien schiffen immer um die Umsetzungsprobleme rum. Auf der andern Seite ermächtigt uns die wissenschaftliche Denkweise, immer mehr Faktoren zu benennen, die man in Zusammenhang mit einem Problem bringen kann. Und dadurch das Problem theoretisch nicht mehr lösen kann. Nur: Dieser Widerspruch ist irgendwie noch fast nicht benannt. Ich fahre im alten Text fort:) Die Folge unseres “wissenschaftlichen Weltbildes”: Wir fühlen uns immer mehr außerstande, die Entwicklung der Welt zu steuern oder wenigstens zielgerichtet zu beeinflußen. In jeder Situation kann man viele Argumente, Faktoren etc. benennen, warum dieses oder jenes nicht geht. Um dann zu dem Schluß zu kommen (den freilich niemand ausspricht), dass nichts geht.

Man kann es auch anders beschreiben. Wissenschaftlich inspirierte, distanzierte Analyse- und Beschreibungsverfahren haben sich die gesellschaftlichen Definitionshoheit erobert, können aber keinen substanziellen Beitrag zur Lösung dieser Fragen leisten. Sie sind zu Legitimationswissenchaften und damit zu Ideologie verkommen.

Was wir aber bräuchten, wären Ideen, wie wir in komplexen Situationen besser handeln könnten.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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