Jens Bisky hat die Arroganz der Wessis auf einen guten Punkt gebracht. Warum haben wir heute eine Kanzlerin, die alle Westmachos in den Sack gesteckt hat? Weil sie sich alleine auf ihren Instinkt verlassen hat, anstatt Karrieren zu planen und sich schon in Siegerpose zu bringen. Beim Andenpakt hatte nur einer Ehrgeiz und ernsthafte Lust, dicke Bretter zu bohren, das war Roland Koch. Und es spricht für ihn, dass er jetzt in der Wirtschaft dicke Bretter bohrt. In unternehmerischer Verantwortung, nicht wie so viele, als Mietmaul. Warum kann man nicht unterschiedliche Kulturen, und die Kulturen der ehemaligen DDR sind auch solche, wahrnehmen in ihrer Andersartigkeit? Dieser Schuß, Herr Steinbrück, ging also wieder mal daneben.
Süddeutsche Zeitung,
Meinung, 07.08.2013
Kanzlerkandidatur
Steinbrücks halbes Europa
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Von Jens Bisky
Michael Ballack war kein Führungsspieler, und Angela Merkel fehlt die
Leidenschaft für Europa. Klar, den Ostdeutschen geht etwas ab. Bevor man noch
darüber streiten kann, ob diese Behauptungen überhaupt stimmen, werden schon
Begründungen angeboten, Erklärungen aus der Tiefe des historischen Raums.
Ballack, so schrieb Günter Netzer vor Jahren, sei in einem Land aufgewachsen,
in dem das Kollektiv zählte, „das hat den Weg für Genies verstellt“. Der
Kanzlerin beschied nun Peer Steinbrück auf einer Veranstaltung des Berliner
Tagesspiegel, dass auch sie keine europäische Führungsspielerin sein könne:
„Ich halte daran fest: Die Tatsache, dass sie jedenfalls bis 1989/90 eine ganz
andere persönliche und politische Sozialisation erlebt hat als die, die diese
europäische Integration seit Anfang der 50er-Jahre erlebt haben, beginnend mit
den Montanverträgen, das spielt in meinen Augen schon eine Rolle.“ Sie könne
nichts dafür, er wolle ihr keinen Vorwurf machen, aber so sei es.
Es gab einmal eine Sozialdemokratie, die Menschen ermutigte, die
Beschränkungen ihres Herkunftsmilieus hinter sich zu lassen. Hält Steinbrück
das für unmöglich, wenn einer in der DDR groß wurde? In ostdeutschen Ohren
klingen seine Sätze wie ein Echo aus den frühen Neunzigerjahren, als einem die
Defizite eines Heranwachsens in der DDR ständig vorgehalten wurden. Man hat
gelernt, solche rhetorischen Entmündigungstechniken zu parieren. Der Vorwurf –
ihr könnt nichts dafür, dass ihr es nicht könnt – langweilt meist. Er bezeugt
vor allem eine unglaubliche intellektuelle Bequemlichkeit. Es sollte sich
herumgesprochen haben, dass die Neugier auf die verschlossenen Länder und
Möglichkeiten in der DDR besonders groß war, gerade weil Rom, Paris und Athen
unerreichbar zu sein schienen. Gewiss, diese Sehnsucht galt nicht den
Montanverträgen und nur am Rande dem deutsch-französischen Schüleraustausch.
Sie war auf einen Kontinent des Wohlstands, der Offenheit und der Vielfalt
gerichtet, halb touristisch, halb ein Traum von Freiheit.
Wie es sich im Wahlkampf gehört, attackiert die CDU die verunglückten Sätze
des SPD-Kanzlerkandidaten. Ihm falle wohl nichts mehr ein als Diffamierung. Die
Linkspartei verteidigt die Ostdeutschen gegen Herabsetzung. In der Aufregung
droht das größte Ärgernis unterzugehen: Steinbrücks Sätze verraten ein
halbiertes, nostalgisches Europa-Bild.
Die Europäische Union kennt zwei Gründungserzählungen: Sie geht zum einen
zurück auf die Montanverträge, die deutsch-französische Verständigung nach dem
Krieg. Wenigstens ebenso wichtig aber für die gegenwärtige Gestalt der Union
waren die osteuropäischen Freiheitskämpfe, die im Epochenjahr 1989 gipfelten.
Die stärkste Leidenschaft für die Europäische Union trifft man heute, mitten in
der Krise, in Polen und im Baltikum oder unter nicht nationalistischen Ungarn,
in jenen Ländern, die sich die Zugehörigkeit zur EU erkämpfen mussten, unter
Menschen, die im sowjetischen Machtbereich sozialisiert worden sind.
Die beiden Gründungserzählungen harmonieren nicht notwendig, die
Ost-West-Spannung ist bis heute zu spüren. Unvergessen bleibt der unverschämte
Satz, mit dem Jacques Chirac osteuropäische Regierungschefs zurechtwies, die
Bushs Irak-Krieg unterstützten: „Sie haben eine großartige Gelegenheit
verpasst, den Mund zu halten.“ Der kluge Sozialdemokrat Martin Schulz,
Präsident des Europaparlaments, ein strikter Gegner des Irak-Kriegs, ist
dennoch der Meinung, dass „solche Arroganz, wie sie in diesem Satz zum Ausdruck
kommt, niemals den Umgang der Mitgliedstaaten beherrschen darf“.
Zu Beginn des vergangenen Jahres stritten Nicolas Sarkozy und der polnische
Ministerpräsident Donald Tusk um die Teilnahme Polens an den
Fiskalpakt-Gipfeltreffen. Frankreich wollte Polen ausschließen, das aber ein
selbstverständliches Interesse daran hatte, dabei zu sein, wenn Beschlüsse
gefasst werden sollten, die auch seine Zukunft betrafen. Nach heftigem
Schlagabtausch wurde ein Kompromiss gefunden. Deutschland hat in solchen
Streitfällen die Aufgabe der Vermittlung. Ob Angela Merkel, die ein gutes
Verhältnis zu Tusk wie Sarkozy hat, dabei immer angemessen agiert, welche
Risiken ihre Europapolitik birgt – darüber soll und muss gestritten werden.
Besitzt aber Peer Steinbrück das nötige europapolitische Fingerspitzengefühl?
Ein deutscher Bundeskanzler, der das Europa nach 1989 allein der
Montanvertragsperspektive unterwirft, agiert nicht auf der Höhe der Zeit.
Immerhin wurde ein Großteil der Europäer politisch und persönlich ganz anders
sozialisiert.
Jens Bisky
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geboren 1966 in Leipzig, Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft in
Berlin; Promotion mit einer Arbeit über die „Poesie der Baukunst“. Nach dem
Studium Feuilletonredakteur bei derBerliner Zeitung, seit 2001 im Feuilleton der
Süddeutschen Zeitung; dort unter anderem verantwortlich für Sachbücher und
Hörbücher und Berichte über kulturpolitische und Berliner Themen. Bücher zur
Zeitgeschichte („Geboren am 13. August“, „Die deutsche Frage“). Im Jahr 2007
erschien „Kleist. Eine Biographie“.