Wir müssen lernen, unsere Ideale und die Mittel und Wege dorthin besser abzuwägen
Erstmal ist großer Dank notwendig. Omid Nouripour und Ricarda Lang legen ihre Ämter nieder. Sicher tragen sie Mitverantwortung für den beispiellosen Absturz der Grünen in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger. Aber sie sind eigentlich eher Opfer der verloren gegangenen Debattenkultur unter den Grünen, insbesondere Ricarda war in ihrer Vorstandsrolle mit Spott, Verachtung und Hass konfrontiert. Sie hat das mit bewundernswerter Gelassenheit und viel Witz und sehr selbstbewußt angenommen und dabei immer eine gute Figur gemacht. Dafür herzlichen Dank.
Das Problem der Grünen ist damit allerdings nicht erledigt. Denn die Aufarbeitung ist unterblieben. Und da sind die beiden Fraktionsvorsitzenden, die Bundestagsfraktion und die Ministerriege ebenso beteiligt gewesen.
Mehr Streit um Lösungswege
“Kein interner Streit”, diese Parole hat dazu geführt, dass aus dem Blick geraten ist, was immer mehr Menschen empört: Immer mehr Menschen sagen, wir müssen die ungesteuerte Zuwanderung stoppen, er überfordert die Kindergärten, die Schulen, den Arbeitsmarkt, die Menschen. Und die notwendige Zuwanderung qualifizierter und arbeitswilliger Menschen kann nicht durch den missbräuchlichen Gebrauch des Wortes “Asyl” kompensiert werden; – zumal, wenn die Menschen monate- und jahrelange “geparkt” und versorgt werden.
Und in Richtung aller, die einwenden, die Fluchtfrage wäre nicht der entscheidende Punkt, sondern die mangelnde Infrastruktur, die schlechten Schulen, die Löcher in der Gesundheitsversorgung, die Überlastung der Schulen durch zu viele Kinder mit zu wenig sprachlichen und mentalen Voraussetzungen. Aus Sicht der Menschen, die jenseits der Metropolen wohnen und leben: Sie fühlen sich durch die metropolen Eliten der Politik nicht mehr vertreten. Und dieses Phänomen zieht sich leider durch alle “Mitte-Parteien”.
Die Krise der Grünen spiegelt die Krise der etablierten Parteien wieder
Was tun, diese Frage stellt sich für alle Parteien der Mitte, einzelne und punktuelle Gewinne einzelner Landespolitiker, Kretschmer und Woidke, können darüber nicht hinwegtäuschen. Sie stellt sich aber vor allem an die Grünen, die über Jahrzehnten die politische Agenda definiert haben. Keine Partei verfügt über so viele Kompetenzen, die politische Öffentlichkeit zu definieren und zu organisieren. Framing, Narrative, alle Grünen Mandatsträger und – trägerinnen können diese Begriffe und die dahinterstwhenden Konzepte “im Schlaf“ herunter buchstabieren. Was uns Grünen allerdings schwerer fällt, ist, anzuerkennen, dass wir die Fähigkeit zum Agendasetting aktuell verloren haben:
- Das kulturelle Rollback: Land gegen Stadt, Ausbildung gegen Akademiker, Diskurskultur gegen Stammtisch. Wer sich bemüht, das politische Wirken aller Mitteparteien aus dem Blick der “Regionen” zu betrachten, erkennt ein anderes Bild: “Produzierende Unternehmen” sind der beständigen Verlagerung der Arbeitsplätze ausgesetzt, entweder Lohnverzicht oder der Arbeitsplatz ist weg. Die Debatte um öffentlichen Nahverkehr scheint auf dem Land ein Witz: Ohne Auto geht nix. Das wird auch so bleiben. Und die Kulturkämpfe um Queer, Sternchen, Groß-”I” oder Schutzräume gegen Microaggression, da greift sich die Landbevölkerung an den Kopf.
- Ein Thema, das noch nicht wirklich verstanden ist: Künftig geht es nicht nur darum, welches Thema wir in den Mittelpunkt stellen, sondern welches Thema wir mit welchen Instrumenten adressieren wollen. Denn eines hat das Heizungsgesetz, aber auch das dauernde Nachbessern in Sachen Energie- und Klimapolitik, aber auch der gesamte sozialpolitische Ansatz gezeigt: Zu viel Micromanagement, zu viele Eingriffe in das Marktgeschehen, zu wenig berechenbare Leitplanken, an denen sich Unternehmen im In- und Ausland ausrichten könnten. Insofern ist der “Machtwechsel” zu Robert Habeck und Franziska Brantner der erste Schritt. Als zweiter Schritt muss eine grüne Selbstreflektion erfolgen, wie aus den zahlreichen Herausforderungen, der Selbstbehauptung des freien Westens, der Klimafrage, der Migrationsfrage, der Frage, wie die Wirtschaft wieder ins Laufen kommt, unter einen Hut gebracht werden können. Und da, das kann man vorgreifen, wird ein Abwägen zwischen den zahlreichen Themen und Lösungsansätzen dringend notwendig; – von daher ist der Austritt der gesamten grünen Jugendspitze mit ihrer klaren quasisozialistischen Überzeugung konsequent und richtig.
Das heißt: Ein erster Schritt ist gemacht. Aber die größeren Schritte, sich und die Rolle grüner und von Politik generell in einer offenen Gesellschaft in der globalisierten Welt neu wahrzunehmen und den Instrumentenkoffer neu zu adjustieren, der liegt noch vor uns.
Es wird also spannend. Ich bin froh, dabei zu sein!