Die Eurokrise ist eine Identitätskrise des demokratisch marktwirtschaftlichen Westens

Jetzt also noch Paul Kirchhof. In einem bemerkenswerten Beitrag in der FAZ vom 12.7. hat der Heidelberger Professor wieder einmal seine Visitenkarte abgegeben. Und auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verwiesen, der der Europäischen Union zugrunde liegen. Was ist in dem Streit um Euro, Eurobonds, Refinanzierung immenser Schuldenberge richtig und falsch?

Die Gesellschaft ist in Aufruhr. Angela Merkel hat in harten Verhandlungen, in denen sie einerseits Bremser (weil keine Kollektivierung von Schuldenlasten) und Schiedsrichter (weil größtes und derzeit erfolgreichstes Euroland, mithin bedeutendster Zahler) zugleich ist, Erfolg und Mißerfolg gleichzeitig errungen. Es fehlt schlicht und ergreifend am Maßstab für die Beurteilung des Ergebnisses. Wenn wirr dabei bleiben, das am letzten Verhandlungsergebnis festzumachen, lautet es: Angela Merkel ist hart geblieben, weil Schuldenkollektivierung wohl von der Zustimmung des deutschen Finanzministers abhängig ist. Sie hat nachgegeben, weil niemand erwartet, dass ein Finanzminister alleine den Dammbruch verhindern kann.

Die High Noon Situation in der aktuellen Krise verstellt den Blick darauf, was nach dem Schußwechsel kommt. Wenn einer der beiden Duellanten verletzt wird oder gar tot ist, wird auch der andere nicht glücklich. Zu sehr sind Wohl und Wehe beider Parteien voneinander abhängig.

Was also tun?

Im Grunde geht es um zweierlei: Wie finden wir einen Ausweg aus der aktuellen Krise, in der es schon längst keine Lehrbuchlösung mehr geben kann. Weder kann man eine ageschwächte Volkswirtschaft alleine damit sanieren, indem man sie weiter runterspart, noch kann man weiter einfach Schuldscheine schreiben.

Daneben ist die Krise aber auch eine Identitätskrise der westlichen Gesellschaften. These: Wir leben über unsere Verhältnisse, weil die upcoming countries, China, Indien, aber auch Brasilien und, darüber wäre zu debattieren, Russland, größer und dynamisch innovativer sind. Nur wenige haben etwas zu verlieren dort.

Der Westen, die USA haben es uns um die Jahrtausendwende vorgemacht, lebt über seine Verhältnisse. Daraus haben sich Interessensidentitäten von Politik und Finanzwirtschaft entwickelt. Die Finanzwirtschaft entwickelt alles, was Geld bringt. Viel Geld für sie selbst zuallererst. Und die Politik, die weiß, dass sie zumindest auch wegen der fortgesetzten Wohlstandsversprechen gewählt wird (die schon längst obsolet sind, sondern nur noch für bestimmte Soziographien gilt, ältere Menschen im öffentlichen Dienst eventuell, auf keinen Fall aber jüngerere), greift bei allem, was finanziert, zu. Und stöhnt gleichzeitig, dass der Schuldenberg, wie ein ständig anwachsender Schneeberg vor dem Schneepflug immer größer wird, bevor er nicht mehr zu bewältigen scheint.

Man könnte sagen, Größenwahn und Verantwortungslosigkeit der Politik sind ein wesentlicher Bestandteil des ganzen derzeit verhandelten Irrwitzes. Aber anstatt auf die Politik zu zeigen, geht es darum, sich selbst klar zu machen, dass wir nicht außerhalb stehen, sondern Teil des Problems sind. Und also, Teil der Lösung werden können oder aber Zuschauer in einem atemberaubenden, uns aber möglicherweise in den Abgrund stoßenden Spektakels sein könnten.

Wir stehen vor einer Identitätskrise des Westens. Der Beitrag Kirchhoffs hat eine der Säulen westlicher Demokratie wieder ins Spiel zurück gebracht, die lange vergessen war: Rechtsstaatlichkeit. Was heißt, kollektivierte Verantwortlichkeit. Da steht sie nun, neben dem heimlichen Wohlstandsversprechen der Nachkriegsdemokratien und dem Anspruch unserer Gesellschaften selbst, Demokratien zu sein. Also mit vom Volk gewählten Abgeordneten, Laien, einen Staat oder eine Staatengemeinschaft zu steuern, die sich zusammengeschlossen hat, des gemeinsamen Vorteils willen. Nachhaltiges, mittelfristig stabilisierten Wohlstand, Abwesendheit von Kriegen, zumindest innerhalb des eigenen Herrschaftsbereiches.

Das Ganze liegt jetzt auch noch zur Unterschrift beim Bundespräsidenten und zur Prüfung beim Bundesverfassungsgericht.

Eine Gesellschaft vergewissert sich selbst. Ausweg, also Sieg für die eine Seite, Niederlage für die andere, so meine These, gibt es keinen. ES geht darum, die Kuh vom Eis zu kriegen, ohne dass das Eis bricht. Und gleichzeitig geht es darum, den Irrsinn von Schuldverschreibungen ohne die Pflicht, diese einzulösen, einzudämmen.

Für mich zählt übrigens ein bisher nicht beachtetes Kriterium in der Diskussion: Die Qualität der Debatte und die Ernsthaftigkeit, in der sie geführt wird. Da sind wir doch ganz gut aufgestellt, weil die Gehässigkeit der Gegenseite gegenüber stark nachgelassen hat. Implizit haben alle verstanden, dass es darum geht, einen Ausweg zu finden. Explizit ist das noch nicht ganz der Fall. Schwierig: Wir können nicht absehen, wie das in anderen Ländern ist. Bei 50% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien beispielsweise, frage ich mich, wie diese Debatte geführt werden soll. Oder ist da große Anzahl der Spanier hier in Berlin Teil einer Antwort. Man kann mitreden oder weggehen. Und vielleicht sind all die in Berlin vielgescholtenen Spanier hier auch Teil einer Antwort: Indem sie in einer anderen westlichen Gesellschaft den Grundstein für ihr Leben gelegt haben, könnte es sein, dass sie in einigen Jahren zurückkehren. Mit einem Weltbild, das tatsächlich europäisch ist und nicht mehr nur spanisch.

Während in politischen und öffentlichen Debatten immer auf Entweder – Oder Lösungen fokussiert wird, ist es, nüchtern betrachtet, doch immer so, dass es auf die Feinjustierung der Lösung ankommt, darauf, alle beteiligten Fakten und Faktoren zu identifizieren und mit ihnen zurecht zu kommen. Reflexive Handlungsbereitschaft ist die Grundhaltung, die in der Hektik des politisch-medialen Betriebs nicht aufkommen mag. Beide Elemente gehören zusammen: Reflexivität, damit man erkennt, welche Elemente in die Entscheidung hineinspielen. Handlungsbereitschaft, weil Entscheidungen getroffen werden müssen, auch wenn sie aufgrund unzureichenden Wissens getroffen werden müssen. Es geht darum, sie später korrigierbar zu machen, Nebenfolgen einzupreisen und entsprechend die Entscheidungen zu korrigieren.

High Noon ist ein Schauspiel. Wir sollten es auf der Bühne belassen. Und begreifen, dass der Alltag anders tickt.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .