#DisruptHealthGovernance. Eine Provokation

In Deutschland kommt alles von oben. Aber wie lässt sich in diesem Land eine Bewegung für mehr Bewegung und offenem, aber verantwortbarem  Ausgang organisieren?

Wenn wir diejenigen, die direkt an den Fleischtöpfen des G-BA sitzen, ausblenden, wissen alle, dass es so nicht weitergehen kann: 

Wir beobachten und staunen über unseren Gesundheitsminister. Jens Spahn macht ganz viel richtig. Indem er ganz viel falsch macht. Er verstopft die ganze Lobbymaschine mit so vielen Gesetzen, dass die Abwehrfront bröckelt.

Gut so. Aber das wird teuer. Und in einem der Gespräche, die ich an der #HealthInnovationFront geführt habe, bemerkte meine Gesprächspartnerin, dass ja Spahn immer mehr Zentralisierung und Politisierung betreibt. Da ist nix mit Marktwirtschaft, mit mehr Spielräumen, Verantwortung, da werden Kleinsträume der Innovation eröffnet. Apps auf Rezept.

Aber verändern darf sich sonst nichts.

Das SGB V entrümpeln!

Franz Knieps hat in G+S 1/2020 einen bemerkenswerten Beitrag geschrieben: “Brauchen wir eine Generalüberholung des SGB V – Perspektiven für eine Neukodifizierung?”. Darin konkretisiert er seine lange gepflegte These, man müsse dieses Gesetz mal gründlich entrümpeln.

Gut so!

Seine Quintessenz, die aus den Erfahrungen aus der Zeit zum Ende des 20. Jahrhunderts gespeist sind: Wir brauchen einen Enquete-Kommission, die sich zusammensetzt und Reformansätze für das Gesundheitssystem entwickelt. Er hat dazu einige wichtige und richtige Kriterien benannt, es sind die weitgehend unbestrittenen Kriterien des Deutschen Gesundheitswesens, diskriminierungsfreier Zugang für alle, orts- und einkommensbezogen.

Wir stimmen in vielen Fragen analytisch überein. In einem Punkt aber widerspreche ich: Ich kann mir in der aktuellen Situation nicht vorstellen, dass eine Enquetekommission mit lauter Querdenkern besetzt ist (was sein müsste). Und dass die Politik, und das betrachte ich parteienübergreifend, die Kraft finden würde, diese Vorschläge dann auch umzusetzen. Und zwar wirklich. Und nicht nur als Worthülse. Der Innovationsfonds des Bundes ist, systemisch betrachtet, auch nur ein Bundesillusionsfonds. Wer den politischen Betrieb kennt, weiß, dass im Zuge der Koalitionsbildung und Kompromissfindung oftmals die Substanz auf der Strecke bleibt.

Eine solche Kampfansage gegen das Bestehende (Und das wäre die Neufassung des SGB V) ergäbe den totalen Sturm. Corona hat ja dazu geführt, dass die Verteidiger des Status Quo Auftrieb erhalten. Die Fleischtöpfe werden also weiterhin von Spitzenverbänden, legitimiert durch die Politik, administriert durch wachsende “wissenschaftliche” Stäbe, bewacht. Nur: Die Politik soll mehr Fleisch liefern.

Der politische Diskurs geht dahin, dass wir mit unserem Gesundheitswesen gut dastehen. Das stimmt ja, ist aber weniger eine Folge der guten Planung, sondern der schleppenden Umsetzung von Veränderungen: Zu viele Krankenhausbetten waren im Pandemiefall eine große Sicherheit. Aber diesen Zustand jetzt zum Normalzustand zu machen, hieße, den Ausnahmefall zum Maßstab der Regel zu machen.

Öffentlich widerspricht der Restitution des Bestehenden niemand.

Not macht wendig!

Die einzige Hoffnung für Innovationsspielräume: Die bittere Rechnung kommt noch. Und zwar doppelt. Jens Spahn hat uns schon vor Corona gezeigt, wie schnelle Kompromissbildung geht: Mit dem Öffnen des Geldhahns. Und mit Corona, das tatsächlich tiefe Löcher in die Kassen gerissen hat (die sich bei Kassen und Krankenhäusern erst noch zeigen werden), beschleunigt sich dieser Trend noch zusätzlich.

Medizinischer Fortschritt, neue, “systemische”, also ergebnisorientierte und kollaborative Therapie sowie digitale Innnovation können eine ungeheure Power, eine enormes, dauerhaftes Veränderungspotential entwickeln. Aber nur, wenn sie sich konstitutionell (gesetzlich und honorartechnisch) und institutionell (Wettbewerb, Übernahmen, Veränderungen müssen möglich sein) freigesetzt werden können.

Das Deutsche Gesundheitswesen, die deutsche Gesundheitspolitik lebt in statischen Vorstellungswelten. Sie simuliert, dass sie alles in Griff hat. Und sie glaubt, dass man diese Funktionsweise auch weiterhin gesetzlich festschreiben kann.

Klaus-Dieter Gorr, einer der Grenzgänger des Gesundheits- und Versicherungswesens, hat in einer Graphik gezeigt, dass die Idee gesetzlicher Strukturierung längst nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Die gesetzlichen Vorgaben sind längst ein Labyrinth geworden.

Um in Bildern zu sprechen: Gesundheit, das ist ein Haus, in dem ständig aus- und umgebaut wird. Wir alle, Bürger, Versicherte und Patienten, gehen ständig in diesem Haus aus und ein.

Was uns auffällt: Die Bewohner des Hauses, Ärzte, Apotheker, Pflegerinnen und Pfleger, Physio- und Psychotherapeuten, haben längst aufgegeben, dabei mitzureden, wie der ganze Hausentwurf besser werden könnte. Praktischer. Effektiver. Effizienter, die Gänge, die Abläufe. Jeder guckt, wie er seine Schäfchen ins Trockene bringen kann.

Ja, vieles im Gesundheitssystem funktioniert noch. Weil sich Menschen engagieren, weil Institutionen arbeiten, die noch vorhandene Spielräume nutzen.

Und trotzdem: Alle stöhnen darüber, dass mehr politische Kontrolle mehr Formalisierung, Standardisierung, Entschleunigung, Belastung des “Frontpersonals” mit Bürokratieaufgaben bedeutet. Mehr “Von Außen”, mehr Vorgaben, führen dazu, dass innen “Dienst nach Vorschrift” gemacht wird.

Ich komme zu Franz Knieps Idee zurück: Vor diesem Hintergrund bezweifle ich, dass Politiker, die sich lieber wegducken oder/und sich mit realitätsfernen Ideologiegeschützen wie “Bürgerversicherung” ins Reich der Gleichheit wegbeamen, Wissenschaftler, die sich in einem gutachterbudgetgesättigten Reich mentaler Selbstbeschneidung bewegen (von wegen freie Wissenschaften), Unternehmen, die, wenn sich im größeren Maßstab nichts bewegt, eben die Optimierung des eigenen Geschäftsmodells betreiben und Journalisten, deren Mutterhäuser ums Überleben kämpfen und die längst aufgegeben haben, in die Komplexität des Gesundheitswesen einzudringen, tatsächlich Bewegung in Debatte bringen können.

Wir brauchen keinen Umbauplan für das Gesundheitswesen 2035.

Aber wir brauchen für die verschiedenen Bereiche des Gesundheitssystems politische Leitlinien, wohin die Reise geht. Und Öffnungen, damit Institutionen Lösungen und Wege finden können.

Die Innovationsforschung (oder auch die Beobachtung von GAFA in der Wirklichkeit) zeigen, dass Innovation ein Prozess ist. Dass er in mittelfristigen Zeiträumen gedacht werden muss. Dass Disruption (alle Postmarxisten unter uns erinnern sich: Der Umschlag von Quantität in Qualität) und kontinuierliche Innovation Hand in Hand gehen. Nicht entweder – oder sondern, erst das eine, dann das andere.

Es bleibt dabei. Die Überarbeitung des gesamten SGB V würde den perfekten Sturm induzieren. Und so komme ich jetzt mit meiner Grundidee um die Ecke: Politik muss keinen detaillierten und kleinteiligen Plan haben, wie das Gesundheitssystem 2030 oder 2035 aussieht, sondern eine Idee und Leitplanken, wie sie die Akteure im System stärkt, damit diese mehr Verantwortung übernehmen können.

Was wir brauchen, ist ein Rechtsrahmen, die institutionelle Ordnung und die Geldflüsse so mit „systemischer Eigendynamik“ auszustatten, die Dinge besser zu machen. Also effektiver zu organisieren und Neues, neue Therapieansätze, digitale Instrumente zu nutzen.

Eine antifragile Logik für das Gesundheitswesen.

Nassim Nicolas Taleb hat mit “Antifragilität” oder “Skin in the game” einige Bücher publiziert, der der gängigen Logik, Rettung käme immer von oben, widerspricht. Statt eine Zentrale Rettungsstrategie benötigt es Verantwortlichkeiten auf unterer Ebene, die Lösungen generieren können. Denn nicht das beste Papier, sondern die beste praktisch Performance ist der Erfolgsmaßstab. Nur lässt sich das nicht prospektiv definieren, die Dinge, Angebote, Leistungen, Institutionen müssen ja erst erfunden werden.

Aber es lohnt sich doch, solche Ansätze aus der System-, Risiko und Insittutionsforschung zu verfolgen: Das Gesamtsystem als lockeres Zusammenspiel von sich erneuenden Subsystemen.

So könnten wir verschiedene Governancebereiche definieren, die in unterschiedlicher Verantwortlichkeit liegen. Das verhindert ein Oligopol bei der Meinungsbildung (über die der Zugriff auf sämtliche Fleischtöpfe erfolgt).

Solche Themenbereiche könnten also sein:

  • Versorgungsplanung: Regionalisieren
  • Honorierungsfragen: Ambulante und stationäre Versorgung zusammenfassen, Regionalbudgets ausweisen, die Honorierungsfrage regionalisieren.
  • Regionale Budgetzuweisung: Verbindliche Fachplanung und Budgetzuweisung durch Fachkommission und Politik
  • Kostenerstattung von Arzneimitteln: Bundesebene/G-BA, Arzneimittelpolitik
  • Behandlungsrichtlinien, Weiterentwicklung aktueller therapeutischer Strategien: Fachliche Zentren (angebunden an Universitätskliniken/Fachgesellschaften)
  • Digitalisierung: Fachkommission oder Bundesbehörde, unabhängig von den Leistungserbringern: Definition von Schnittstellen und Standards
  • Krankenversicherungslandschaft: Schrittweise Öffnung, Wettbewerb nicht um Zuzahlung, sondern um Qualität und Patientenorientierung ausrichten. Im PKV-Bereich: Mehr Transparenz und Wettbewerb um Bestandskunden forcieren.

Und in dieser Bereichsologik kann man dann eine SGB V-Gesamtlogik auflösen in 5-7 Innovationsstrategien. Und statt zu entrümpeln, neu auszurichten und die Auflösung des SGB V in 5-7 Veränderungsstrategien zu überführen.

Die Rolle der Bundespolitik würde sich dann stark ändern. Es bleibt die Verantwortlichkeit für Grundsatzfragen, das Rahmenwerk für die Institutionelle Ordnung, das Monitoring der Gesamtentwicklung und die daraus abgeleiteten notwendigen Korrekturen. Und die Regelung der Geldzuflüsse. Was sie für sich entdecken müsste, wäre die Mutmacher Funktion. Spahn kann das schon ganz gut. Da sollten die anderen Parteien mal nachziehen.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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