Europa zusammen wachsen lassen.

Jetzt, ein halbes Jahr vor der Europawahl fängt die politische Klasse wieder an zu hyperventilieren. Europa machen, lautet die Parole. Und sie dient dazu, die unterschiedlichen Blickwinkel der nationalen Eliten, aber auch den im Unterschied zu ihrer politisch-ökonomischen Elite differierenden Blickwinkel der Normalbürger draußen zu überdecken.

Es werden dabei gerne historische Rückgriffe genutzt, etwa, wenn Helmut Schmidt und andere die Friedensfunktion der Europäischen Union beschwören. Das ist richtig, aber in seiner unbedingten Undifferenziertheit auch falsch. Es kommt nämlich letztlich nicht darauf an, ob die politische Klasse für oder gegen den Euro, für oder gegen mehr zentrales Europa ist. Sondern es geht darum, die Wahrnehmung vieler Menschen und die realen politischen Handlungsoptionen, also die Draußen und die Drinnensicht, zusammen zu denken.

Man sollte sich schon ein genaues Bild machen vor der Debatte. Auch wenn man nach draußen dann einfacher argumentieren muss.

Vielleicht muss man aber auch nur aus einem anderen Blickwinkel argumentieren. So in etwa:

Viele Menschen, gerade, wenn sie nichtakademische Berufe ausüben, und das ist immerhin die Mehrheit der Deutschen, fühlt sich von der Globalisierung bedroht. Lehrberufe, aber auch andere Berufe, die noch vor einigen Jahren mit mittlerem Schulabschluss gute Karrieren ermöglicht haben, Bankkaufleute beispielsweise, werden mehr und mehr Opfer der Globalisierung und neuer Technologien. Die Arbeitsplätze werden weggeschafft. Und nur nebenher sei angemerkt, dass das ja auch bei Wissensberufen längst der Fall ist. Die Konkurrenz von Bildungseliten in China, Indien, Brasilien und anderen Ländern, verlagert auch „anspruchsvolle“ Arbeitsplätze.

Diese neue Konkurrenz bedroht sie, weckt Existenzängste.

Wer aufmerksam den europapolitischen Debatten lauscht, vernimmt vor allem eine Botschaft: Europa muss stärker, wettbewerblicher werden, sich besser aufstellen. Nur Menschen, die akademisch gebildet sind, haben, so der Technologensprech, dem sich längst die Politiker angeschlossen haben, noch eine Chance. Ältere ja auch nicht.

Wenn wir eine gefühlte Innen-Außen-Grenze ziehen würde (also, wer ist drinnen in der Gesellschaft, wer ist draußen), würden sich viele wundern. Der deutsche Mittelstand fühlt sich in großen Teilen längst nicht mehr als die Mitte der Gesellschaft, sondern als bedrohte Minderheit. Und zwar umso mehr, je weniger international der oder diejenige aufgestellt ist. Und zusätzlich um so mehr, je älter er ist, obwohl er viel besser abgesichert ist als es die jüngere Generation jemals sein wird.

Es geht nicht um die objektive, sondern die gefühlte Lage. Fragen Sie mal ihren Arzt oder Apotheker. Die Kampagnen sozialdemokratischer Politiker auf die, sicherlich gut alimentierte, Klientel haben ihre mentale Wirkung hinterlassen. Die sprachlose Alternativlosigkeit, mit der Angela Merkel zur Sache geht, tut ein übrigens. Der Generationswechsel der CDU/CSU ein Drittes. Was ist bitte heute noch konservativ an der CDU? Sind nicht auch die Bocksprünge Seehofers eher albern, ein Auslaufmodell, mit der er Rache an der kalten Verachtung der bayerischen CSU an ihren Bonn-Berliner Vertretern nimmt. Das Herr im Haus Prinzip, jetzt einmal andersrum. Und die Autobahnmaut, das ist Westentaschenpopulismus.

Und selbst der Daimler Mitarbeiter oder die Lufthansa Stewardess, oder der Pilot, müssen sich seit Jahrzehnten Kostensenkungsprogrammen unterwerfen, durch die ihr fiktives Pensionsanspruchsniveau immer weiter in die Ferne rückt (die Ironie der Geschichte: Gegenüber objektiven Wohlstandsverlusten der nachfolgenden Generationen sind das alles Peanuts).

Rotgrün hat mit den Agendareformen harte Schnitte gemacht. Man kann sich drüber streiten, ob es die Gesetze selber waren oder das „Fordern“ vor dem Fördern, das die Menschen auf Trab gebracht hat. Die einen, noch stärker anzupacken, die anderen, gegen eine laue politische Klasse anzugehen, die längst nichts mehr erklärt. Die SPD will jetzt alle Reformen wieder rückwärts abwickeln, die CDU mimt den Schutzheiligen des Volkes. Von unten betrachtet ist das auch „Feigheit vor der unangenehmen Wahrheit“. Es fehlt die Führung. Die Bescheidenheit von Angela Merkel und die badisch preußische Dienstauffassung eines Wolfgang Schäuble ehrt diese. Halt geben sie aber nicht. Weil Frau Merkel nichts erklärt und weil Wolfgang Schäuble mit seiner Messerschärfe lediglich Intellektuelle und informierte Menschen erreicht.

Was ist die Alternative? Die Alternative liegt nicht im Entweder-Oder. Oder vielmehr: Das Entweder-Oder bietet nur eine kurze Alternative. Die AfD ist schon in ihrer professoralen Aufstellung nur als Protestfigur tauglich. Wer den Debatten über den Euro folgen kann, der wird sich am Ende sicher eher bei Merkel gut aufgehoben fühlen. Die Unterwanderung der AfD mit populistischen und dumpfdreisten Rechten ist zwar nicht gestoppt, aber bindet die Kräfte.

Was ich sagen will: Die Debatte, ob mehr oder weniger Europa, trifft nicht die Befindlichkeit der Menschen. Die kann das nämlich gar nicht entscheiden. Und sie will das auch gar nicht entscheiden. Die Bürgerinnen und Bürger hätten gerne Politiker, die mit ihren Beschreibungen ihre Wahrnehmung treffen, nämlich, dass der Druck immer stärker wird, dass Renten bröckeln, Einkommen bröckeln (natürlich ohne die 1 % Spitzeneinkommen, aber das ist noch mal eine andere Geschichte), die Zukunft ungewiss ist. Und sie möchte, dass jemand den Druck wegnimmt (das macht Merkel, wird aber nur übergangsweise klappen). Oder jemand, der überzeugt, voraus geht.

Das Problem ist doch, dass sie keiner Person vertrauen können. Alles so Politsprech, ohne Ecken und Kanten, vorgetragen von einer smarten, jungen Generation mit austauschbarer Freundlichkeit. Keine Ecke, kein Profil, keine Identifikationsfigur. Das fehlt. In Deutschland gibt es dann noch den „Merkel ist sicher“ Modus. In Europa ist da längst Fehlanzeige. In den anderen europäischen Ländern auch.

Es stimmt, dass wir nur die Alternative der Flucht nach vorne haben. Mehr Export, um auf der Welle engerer globaler Arbeitsteilung weiter vorneweg zu sein. Alles richtig. Aber in der Art, wie es (nicht) erklärt ist und mit der subkutanen Botschaft, Nichtstudierte sind
ohnehin die Verlierer, und da gehören schon viele Handwerker dazu, greift das nicht.

Am Ende ist es ein kulturelles Problem. Die Bilder, der Auftritt, die Argumentationsweise geht an der Mehrheit der Menschen vorbei. Die Politprofis schaffen es nicht, die gefühlte Lage der Bevölkerungsmehrheit aufzunehmen. Sie bleiben in ihren Erklärungen formal, oberflächlich und blutleer.

Es ist kulturelle Klassenherrschaft. Und nur, wenn die herrschende politische Klasse das versteht und darauf reagiert, wird sie weiter herrschend bleiben.

Egal, ob da auf der politisch-bürokratischen Ebene in Brüssel etwas geändert wird oder nicht.

Es geht um die Haltung. Und genau an der mangelt es.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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