Frankreich: Deutschland – Agendapolitik. Deutschland auch bald wieder?

Dass es mit Frankreich dahin geht, wissen wir schon. Was das für Europa heisst, können wir theoretisch abschätzen. Dass man das Ganze aber auch auf Deutschland umschreiben könnte, hätte es nicht mal dieses kurze Fenster an Nüchternheit gegeben, das mit Agendapolitik den Anfang von Wettbewerbsfähigkeit gemacht hätte, wäre auch in Deutschland alles ähnlich. Nein, mit einer Ausnahme. Die Lohnzurückhaltung und der weiterhin vorhandene Wille der Bürgerinnen und Bürger, einen Beitrag fürs ganze zu leisten, der Leistungswille, der ist bemerkenswert. Obwohl er von der Politik weitgehend ignoriert wird.

Mit Blick auf die Europawahl stellt sich eigentlich eine Frage: Traut man einem hybriden Gebilde wie diesem Europa tatsächlich gemeinsames Handeln zu? Oder kommt dann so ein politischer Blödsinn raus wie der Umgang mit dem Aussenhandelsüberschuss. Als ob ein trägeres Deutschland besser wäre für ein gemeinsames Europa. Nein, es wäre nur besser für ein homogener absteigendes Europa.

Wann übernimmt Politik eigentlich wieder die Führung? Oder ist Demokratie nur ein Modell für wachsende Gesellschaften?

Und die französisiche Reflektion über die Malaise Françoise:

FAZ, DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2013
FEUILLETON
Nichts geht mehr in Frankreich
Mit einigen ökonomischen Reformen wird es nicht getan sein. Frankreich durchleidet eine tiefe Krise seiner nationalen Identität und Zivilisation.
PARIS, 13. November

Sollte man die Dinge vielleicht nicht etwas leichter nehmen? Man könnte sich zum Beispiel darüber freuen, dass die Zivilgesellschaft nicht das Handtuch wirft, dass die Bretagne aufmuckt und die Schüler gegen die Ausweisung ihrer Schulkameradin Leonarda rebelliert haben. Jede Woche bringt neue Überraschungen, es ist wie ein Taumel. Minister, die in der Öffentlichkeit aufeinander losgehen wie der Fischhändler und der Schmied im kleinen gallischen Dorf der Astérix-Comics; Persönlichkeiten (343, alle männlichen Geschlechts) veröffentlichen einen Aufruf „Finger weg von meiner Nutte!“ (die Regierung hat die Absicht, die Kunden von Prostituierten mit Strafen zu bedrohen); der Philosoph Michel Serres ruft dazu auf, die englische Sprache zu boykottieren; und bald werden die Fußballer streiken, weil sie keine höheren Steuern zahlen wollen. Erwähnt sei schließlich auch diese gänzlich neue Kunst des Regierens: lautstark schmerzhafte Maßnahmen anzukündigen, um sich beim kleinsten Widerspruch zurückzuziehen und sich dann auch noch selbst zu beglückwünschen, weil man so flexibel sei und zuhören könne.

Dennoch veranlassen diese ersten schwermütigen Novembertage mich eher dazu, einen schonungslosen Blick auf mein Land zu werfen: Frankreich treibt traurig seinem Schiffbruch entgegen. Das Ansehen des Präsidenten hat einen Tiefpunkt erreicht, der Premierminister ist farblos, die Regierung gelähmt, die Wirtschaft dümpelt vor sich hin, und die soziale Unzufriedenheit hat einen Höhepunkt erreicht. Die Steuern sind so hoch wie noch nie, die Reichen und die Jungen machen sich davon, das Land zieht sich auf sich selbst zurück, und der Front national floriert. Nicolas Sarkozy machte Angst und trieb zur Verzweiflung; François Hollande lässt uns erstarren.

Seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und sein Mangel an Mut machen ihn zum unbeliebtesten Präsidenten in der gesamten Geschichte der Fünften Republik. Ohne Kapitän und ohne Alternative auf der Rechten, wo die Parteioberen sich gleichfalls wechselseitig zerfleischen, zeigt das französische Schiff eine gefährliche Schlagseite. Das Klima an Bord ist verdorben, Mannschaft und Passagiere sind äußerst aggressiv, aus Angst, herabgestuft oder deklassiert zu werden. Der Philosoph Alain Finkielkraut mosert in seinem neuesten Buch „L’identité malheureuse“ und weint dem alten Frankreich nach. Die Prozesse wegen Islamfeindlichkeit, Homophobie und Absonderlichkeiten jeglicher Art lassen sich gar nicht mehr zählen. Nichts geht mehr.

Man glaubt, mit etwas Schweiß und Tränen, mit Reformen wie anderswo, könnte Frankreich wieder Tritt fassen. Ich glaube das nicht. Natürlich, ein wenig Wachstum könnte nicht schaden. Aber das Übel liegt tiefer; es liegt auf einer anderen Ebene: Die Krise ist vor allem psychologischer Natur. Es ist eine Identitäts- und Zivilisationskrise. Frankreich fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, und die Franzosen spüren, dass die „französische Ausnahmestellung“ und das französische Modell am Ende sind, vor allem deren zwei Säulen, die republikanische Schule sowie das bislang sehr großzügige Gesundheitssystem und das System der sozialen Sicherung.

Die demographischen Veränderungen und der Aufstieg des Islam beunruhigen sie und bringen sie aus der Fassung. Im Inneren wie im Ausland hat Frankreich kein gemeinsames Projekt und keine universelle Botschaft mehr. Vorbei die Zeiten, als es „die Menschheit zivilisierte“. Europa wird kein großes Frankreich sein, und die globalisierte Welt zuckt nur die Achseln angesichts der Schandtaten der Grande Nation – eine Katastrophe für ein Land, das es gewohnt war, bewundert zu werden. Ohne Orientierungspunkte und Gewissheiten tastet das Land sich voran, die Regierung schiebt alles auf die lange Bank, und die Bevölkerung schimpft: Die Nase voll von den Steuern, die Nase voll von allem, schwelt der Brand – bis zum nächsten Ausbruch. OLIVIER GUEZ

Aus dem Französischen von Michael Bischoff.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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