Manchmal hilft der Blick zurück. Und rundrum. Die Debatte zur Sexuellen Revolution und dem Feminismus könnte wieder interessant werden. Weil, wie bei jeder Entwicklung, eine Trendumkehr irgendwann im anderen Extrem ausschlägt und es dann zur Begrenzung auf der anderen Seite kommt.
Also: Wo existieren moralische Grenzen in einer Gesellschaft, in der Sexualität grenzenlos verfügbar scheint? Der Beitrag zeigt, welch absurde Formen der sexuellen Selbstbefreiung hat. Wie er kommerziell aufgegriffen, verwertet und von der Gesellschaft verdaut wird. Und in einer selbstgewählten Unterwerfung junger Frauen in die Rolle der Sexualobjekte endet.
Frauenquälen für die ganze Familie
Sexismus, so glaubte man, ist heute kein Problem mehr. Doch das ist ein Irrtum. Der Unterschied zu früher: Viele Frauen machen bereitwillig mit.
Von Jörg Thomann
„Ich möchte es tun“, sagt Lauren, „damit meine Mama stolz auf mich ist.“ Lauren trägt ein bauchfreies gelbes T-Shirt und rote Hotpants. Sie ist eine von etwa einem Dutzend junger Frauen, die an diesem Abend im Londoner Mayhem-Nachtclub bei einem Talentwettbewerb mitmachen möchten – und zwar bei der „Babes on the Bed“- Show. Der Reihe nach begeben sie sich auf das auf der Bühne plazierte Bett, wo sie sich lasziv räkeln und ihre Körper verrenken. Im Blitzlicht der Handy-Kameras und unter dem Gejohle des aufgeheizten, angetrunkenen Publikums folgen sie den Kommandos der Moderatorin, sich von der ohnehin spärlichen Kleidung zu trennen. Lauren wird den Wettbewerb nicht gewinnen und daher auf den Preis verzichten müssen: ein freizügiges Fotoshooting für das Männermagazin „Nuts“. Ob ihre Mutter trotzdem stolz auf sie ist?
Die sechs jungen Damen, die sich ein Loft in Köln-Ehrenfeld teilen, werden ebenfalls von Kameras beobachtet, sind aber – noch – voll bekleidet. „Trauriger Abschied von Larissa“, sagt eine Männerstimme, „sie hat sich entschlossen, ihr Abitur zu machen, und verlässt die Wohngemeinschaft.“ Die verbleibenden Bewohnerinnen der „Model-WG“ des Privatsenders Pro Sieben hingegen dürfen weiter von der großen Karriere träumen. Vor den Augen der Fernsehzuschauer putzen sie die Wohnung und warten auf die Nachricht, wer von ihnen diesmal für die Fotosession ausgewählt wird, bei der viel Kristallschmuck und noch mehr nackte Haut präsentiert wird. Denise darf wieder nicht mitmachen. Dabei könnte gerade sie, schimpft Mitbewohnerin Tessa, „so viel aus sich machen“, etwa mehr Make-up auftragen. Das Bild Larissas, der angehenden Abiturientin, wird derweil von der Wand abgehängt.
„Sexismus ist ein altmodischer Begriff geworden“, hat vor kurzem die „taz“ geschrieben: „Er riecht streng.“ Als die britische Journalistin und Feministin Natasha Walter ihrem Verleger mitteilte, welchen Untertitel sie sich für ihr neues Buch wünsche, fragte dieser besorgt, ob das nicht ziemlich altmodisch wirke – „Die Rückkehr des Sexismus“. Den hat die Frauenbewegung doch längst niedergerungen, glauben viele. Auch Natasha Walter hat es geglaubt, als sie vor zwölf Jahren ihre optimistische Bestandsaufnahme „The New Feminism“ veröffentlichte. Die jungen, selbstbewussten Frauen, so ihre Beobachtung, wollten sich von niemandem, also auch nicht von anderen Frauen, mehr vorschreiben lassen, wie sie sich zu kleiden und wie sie zu leben hätten; statt auf den privaten Bereich sollte sich der Feminismus daher besser auf konkrete Verbesserungen in Politik, in der Gesetzgebung und in der Arbeitswelt konzentrieren. Heute ist Walter nicht mehr so zuversichtlich. „Ich habe mich, zumindest teilweise, geirrt“, sagt sie im Gespräch. Den Untertitel ihres neuen Buchs, das jetzt in Großbritannien erschienen ist, hat sie gegenüber dem Verlag durchgesetzt.
Als großen Erfolg kann der Feminismus für sich verbuchen, dass das weibliche Keuschheitsgebot gefallen ist, dass Frauen ihre Sexualität nicht mehr verleugnen müssen. Heute kann man sich von all der unverleugneten Sexualität um uns herum regelrecht erschlagen fühlen: In etlichen Sendern und Magazinen entblößen junge Frauen ganz selbstbestimmt ihren Busen. In Amerika sorgt die blutjunge Sasha Grey für Furore, die von ihrem befreienden und lustvollen Dasein als Pornodarstellerin erzählt. Poledancing, der in Striptease-Schuppen geborene Stangentanz, gilt nun als Lifestyle-Sport für Geschäftsfrauen wie für Popstars. „Jede Nacht kommen hier Mädchen rein, die nur Unterwäsche tragen“, erzählt der Besitzer des Nachtclubs, in dem Natasha Walter die eingangs beschriebene „Babes“-Wahl erlebt hat; Achtzehnjährige steckten ihr Erspartes nicht mehr in ein Auto, sondern in eine Brust-OP. Die Pornographie hat sich im Mainstream eingenistet und lockt im Internet auch die Jüngsten rund um die Uhr. Die „Hypersexualisierung“ der Gesellschaft sei als Zeichen der weiblichen Emanzipation und Macht verstanden worden, sagt Walter. Tatsächlich aber sei sie nicht nur verwurzelt in fortschreitender Ungleichheit, sondern produziere noch mehr Ungleichheit.
Zum Sexismus gehörten aus traditioneller feministischer Sicht klare Opfer und Täter, wobei Erstere immer weiblich und Letztere immer männlich waren. Was am heutigen Sexismus irritiert und ihn womöglich als solchen unkenntlich macht, ist die Bereitwilligkeit, mit der sich viele Frauen daran beteiligen: Sie hätten ja, heißt es stets, die Wahl. Genau diese Entscheidungsfreiheit bezweifelt Natasha Walter. In Werbung, Filmen, Musik und Medien werde ein ganz bestimmtes Bild der weiblichen Sexualität gefeiert, dem sich junge Frauen nur schwer entziehen könnten – vor allem Frauen aus eher prekären Verhältnissen, denen die Gesellschaft kaum Aufstiegschancen bietet. Es werde ihnen vermittelt, „dass der Weg zur Selbstverwirklichung der Frau unvermeidlicherweise über die Perfektion ihres Körpers führt“. Walter hat mit Frauen gesprochen, die sich von dem Frauenbild, das der regelmäßige Pornokonsum in den Köpfen ihrer Partner erzeugte, unter Druck gesetzt fühlen; mit Mädchen, die das promiske Geschlechtsleben ihrer Freundinnen abstoßend finden, das aber nicht zu sagen wagen, um nicht als prüde zu gelten; mit Prostituierten, die mit dem Mythos aufräumen, sich in einem schillernd-verruchten Gewerbe zu betätigen statt in einem so tristen wie hochgefährlichen Job; und mit Männermagazin-Redakteuren, die ihre halbpornographischen Hefte als harmlos anpreisen, aber auf die Frage, ob sie ihre eigene Tochter gern darin sähen, herumdrucksen.
Wenn eine Mutter ihrer Tochter vermittelt, Nacktfotos in einem schmierigen Magazin seien erstrebenswert, dann ist die sexuelle Befreiung der Frau irgendwie missverstanden worden. Die junge Frau, die oben ohne für die „Bild“-Zeitung posiert, macht im Grunde nichts anderes als Britney Spears, wenn diese in Strapsen auf der Bühne herumturnt, auch wenn die eine damit 500 Euro verdient und die andere Millionen. Als Akt der Emanzipation jedoch oder gar als Ausdruck weiblicher Macht über den Mann lässt sich beides nur mit viel Phantasie deuten. Mädchen, die so aussehen, als verbrächten sie mehr Zeit auf der Sonnen- als auf der Schulbank, scheint ein Ausbildungsplatz weniger wichtig als schöne Bikinifotos. Natasha Walter berichtet von einer Umfrage unter weiblichen Teenagern aus dem Jahr 2006, wonach mehr als die Hälfte der Befragten ein Leben als glamour model reizvoll findet – ein Berufsbild, das in England Frauen wie Katie Price verkörpern und das sich mit dem hiesigen Partyluder vergleichen ließe.
Das Phänomen des glamour model ist bei uns nicht ganz so populär, wohl aber das nicht weniger beunruhigende der Casting-Show. 21 312 Frauen haben sich für die neue Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ beworben, 2000 standen in Köln für das Casting Schlange: Die ganze Straße, spottete Stefan Raab in „TV Total“, „voller aufgetakelter Schlampen“. Mit einem frauenfeindlichen Spruch decouvriert Raab den frauenfeindlichen Charakter dieser Sendung, die ihre Protagonistinnen unter dem Vorwand, sie aufs harte Business vorzubereiten, dauerhaft demütigt.
Halbnackt müssen sie in einer Bar aus Eis stehen, mit einer Kröte in der Hand posieren und – natürlich – an der Stange tanzen, bis sie blaue Flecken kriegen. Immer wieder sieht man die Mädchen (denn stets ist nur von „Mädchen“ die Rede) weinen. Die – überwiegend weibliche – Zuschauerschaft hingegen darf lachen über die Möchtegernmodels, ob sie nun über die eigenen Beine oder über die deutsche Sprache stolpern. Die Klum-Show weist verblüffende Parallelen auf zur Dramaturgie des klassischen Teen-Horrorfilms: Eine Gruppe junger Leute, bevorzugt Mädchen, wird von bösen Mächten gequält, wobei die Perfidie stetig gesteigert wird. Nach und nach bleiben sie auf der Strecke. Am Ende ist eine übrig, doch an ein Happy-End mag man nicht glauben; es soll ja eine Fortsetzung geben.
Dank „Germany’s Next Topmodel“, so formulierte es der Feminist Harald Schmidt in seiner Laudatio auf die Börne-Preisträgerin Alice Schwarzer, „spart sich Vati den Weg in die Münzkabine am Hauptbahnhof, denn er kann jetzt in aller Ruhe vor dem Fernseher minderjährige Mädchen in Unterwäsche über Zechenhöfe stöckeln sehen“. Aber nicht nur Vati schaut zu, auch die Tochter und sogar der kleine Bruder: Das Finale der jüngsten Staffel verfolgten 37,3 Prozent der Zuschauer zwischen drei und 13 – Frauenquälen für die ganze Familie.
Andere Castingshows sind nicht nachsichtiger mit ihrem Personal, das fast immer weiblich ist. Im „Sommermädchen 2009“, ebenfalls ein Pro-Sieben-Einfall, waren die Kandidatinnen fast ausschließlich im Bikini zu sehen; wer ausschied, wurde vom Juror ins Wasser gestoßen. Die RTL-Konkurrenz „Mission Hollywood“ mit Til Schweiger demonstrierte, wie Julia Voss in der F.A.Z. schrieb, den „Aufstieg von sexueller Belästigung zum Unterhaltungsgenre“. Nacheinander sollten die Kandidatinnen den Striptease aus „9 1/2 Wochen“, den gespielten Orgasmus aus „Harry und Sally“ und den Frauenkuss aus „Eiskalte Engel“ vorführen. Ein Schauspielschüler hätte demnach einzig die Apfelkuchen-Penetration aus „American Pie“ nachspielen dürfen, aber mit Männern werden solche Shows ja kaum gemacht.
Von den Castingshows, kritisiert Natasha Walter, lernten Frauen, das Aussehen und das Verhalten anderer Frauen permanent zu bewerten – und sie erlebten, dass jene, die dem vermeintlich objektiven Anspruch an weibliche Attraktivität nicht genügen, aussortiert werden. Ein gesundes Selbstbild entsteht so nicht. Laut der „Bravo“-Studie 2009 sind nur noch 56 Prozent der befragten Mädchen zwischen elf und 17 Jahren mit ihrem Aussehen zufrieden und nur 54 Prozent mit ihrem Gewicht.
„Living Dolls“ hat Walter ihr Buch betitelt, dessen Cover eine Barbiepuppe vor einem Frauenschoß zeigt. Kleine Mädchen, schrieb Simone de Beauvoir 1949, hätschelten ihre Püppchen so, wie sie selbst gern gehätschelt würden, und würden in ihrer Vorstellung selbst zu Püppchen. Daran, glaubt Natasha Walter, selbst Mutter einer neun Jahre alten Tochter, hat sich seitdem nicht viel geändert, nur seien die Kräfte des Marktes viel stärker geworden. Tatsächlich ist seit dem Ende der neunziger Jahre eine gewaltige Welle rosa Glitzerkrams in die Spielzeugläden geschwappt. Selbst Familien, die sich für fortschrittlich hielten, fänden nichts dabei, ihre Kinder mit „mittelalterlichen Werten“ großzuziehen, wundert sich Walter: jedes Mädchen eine Prinzessin, jeder Junge ein Krieger. Walter befürchtet, dass aus den Mädchen, die mit Disney-Prinzessinnen, Puppen und Kosmetiksets konditioniert werden, geradezu zwangsläufig Frauen würden, die sich über ihr Äußeres definieren: „Sie wachsen auf mit einer sehr verengten Sicht darauf, was es heißt, eine Frau zu sein.“
Den Feministinnen gibt Walter durchaus eine Mitschuld an der Entwicklung: „Wir waren selbstzufrieden und nicht wachsam genug“, sagt sie. Mit ihrem neuen Buch will sie dazu beitragen, den Begriff des Sexismus zurückzuerobern: „Wir müssen beim Namen nennen, was passiert.“ Vor kurzem hat ihre Tochter sie gefragt, warum ihr Buch so ein schreckliches Cover habe. Es sei, hat sie geantwortet, in gewissem Sinne auch ein schreckliches Buch.
Die Neue Feministin
Natasha Walter wurde 1967 in London geboren. Ihr Vater war ein bekannter britischer Anarchist, ihre Mutter Sozialarbeiterin und Feministin. Nach ihrem Studium unter anderem in Cambridge und Harvard arbeitete sie als Journalistin für „Vogue“, „The Observer“, „The Independent“, „The Guardian“ sowie für die BBC. 1998 erschien ihr Buch „The New Feminism“, dessen Thesen sie in ihrem neuen Werk „Living Dolls – The Return of Sexism“ teilweise revidiert. 2006 gründete sie die Organisation „Women for Refugee Women“, die sich um Frauen und Kinder kümmert, welche in Großbritannien Asyl suchen. Mit ihrem Partner, einer Tochter und einem Sohn lebt Natasha Walter in London. „Living Dolls“ ist erschienen im Virago-Verlag und kostet 12,99 Pfund.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.02.2010, Nr. 5 / Seite 47