Eine freche, aber wahrscheinlich zutreffende Analyse der FAZ. Die einen träumen weiter,die anderen fallen zurück auf alte Muster. Keiner hat eine Lösung, die greift oder überzeugt (wäre mal meine Progrnose)
FAZ, DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2013
FEUILLETON
Auf Whistleblower allein sollten wir uns nicht verlassen
Informatik und Staatsbürgerkunde: Ein Sammelband zum überwachten Netz dient als Debattenmusterkoffer
So angestochen, aufgescheucht oder indigniert sich die verschiedensten Öffentlichkeiten derzeit über das Abgreifen und Sammeln von Bürgerdaten seitens kommerzieller wie staatlicher Informationsgroßmächte zeigen, so selten wird doch, um all diese Nervositäten in etwas Argumentförmiges zu überführen, auf jene gemeinfreien Datenbestände zurückgegriffen, die man Zeitgeschichte nennt. Mit Volkszählungsboykottkämpfen wie den westdeutschen von 1983 oder 1987 vergleicht das, was gerade passiert, kein Mensch, und der später verfassungsjudikativ zusammengestrichene gesamtdeutsche Anschlag auf Privatsphäre samt Post- und Fernmeldegeheimnis von 1998 kommt in den Debatten um Merkels Handy nicht mal als leises Echopfeifen vor – nachgeborene Netznutzer kennen das Wort, mit dem er seinerzeit angekündigt wurde, „Lauschangriff“, nur noch als Eigenname einer Reihe von CD-Beilegern in der angesehenen Heavy-Metal-Fachzeitschrift „Rock Hard“.
Von Informatik und abstrakter Staatsbürgerkunde (Wie gründlich zerfressen Geheimdienste die Gewaltenteilung?) statt von sozialer, politischer oder gar ökonomischer Nahvergangenheit reden nun auch die Diskutanten in einer Publikation über „Überwachtes Netz“, die Markus Beckedahl und Andre Meister sachgerechterweise heute zunächst als e-book, zwei Wochen später dann auf Papier in die Debatte werfen.
Edward Snowden eröffnet mit einer tadellosen Predigt darüber, dass wir unseres Nächsten Informationen nicht widerrechtlich begehren sollen, den ersten Teil über „politische und gesellschaftliche Auswirkungen“ der extensiven, intensiven, beschleunigten und automatisierten Schnüffelei. Der zweite Teil gräbt sich ins Geheimdienstwesen, der dritte schließlich erklärt, „wie Überwachung funktioniert“.
An Bord ist alles, was bei derlei dazugehört, von Kryptographiekoryphäen wie Bruce Schneier (der das Internet von der Regierung der Vereinigten Staaten zurückhaben will) über Leute, die man aus dieser Zeitung als wachsame Zivilanalytiker kennt (Constanze Kurz und Frank Rieger bringen den Stand der Dinge auf völlig angemessene militärische Metaphern), bis zu im engsten Wortsinn politiknahen Stimmen (Alexander Sander ist Mitarbeiter eines Europaabgeordneten). Bereits Veröffentlichtes ist nicht selten, aber das schadet kaum – es kommt trotzdem etwas heraus, das man „Buch“ nennen darf, also keine aus den Nähten geplatzte Zeitschrift oder zerfledderte Website, dafür sorgt nicht nur die Gliederung nach Themenblöcken.
Hier und da werden sogar Rekursversuche auf die Überwachungsgeschichte vor dem Web 2.0 – ja, wie soll man sagen? – angeklickt. Sie einmal zu systematisieren bleibt Desiderat, will man die Etablierung einer Snowden-und-Wikileaks-Mythologie erschweren, in deren primitivem „Robin Hood gegen den Infostaat“-Diskurs der wesentliche Unterschied zwischen älteren und jüngsten Überwachungsparametern verlorengeht. Denn es geht eben nicht mehr primär, wie bei alten Volkszählungen oder Lauschangriffen, um ein passives Ausgespähtwerden, bei dem irgendwelche inspirierten Rächer hinterher für (wenigstens moralische) Kompensation sorgen können oder nicht, sondern um eine Gesellschaft, in der die aktive Produktion von Eigendaten, Selbstbildnissen, Bewegungsprofilen seitens der möglichen Überwachungsobjekte ständig und überall eingefordert wird: von Unternehmen und ihren Wertschöpfungsketten, in denen man steckt, wenn man konsumieren will, von der Verwaltung, in der man steckt, wenn man eine staatsbürgerliche Existenz führt, vom Gesundheitssystem, von Cliquen und Communities.
Etwas für diesen Umstand Blindes, etwas Ahistorisches verbindet die laufende Anti-Schnüffler-Debatte mit anderen Moralsümpfen zwischen Ökologie und Welthungerhilfe; und falls da niemand Abhilfe schafft, geht die Idee, dass „Informatiker und whistleblower unsere Bürgerrechte retten müssen“, am Ende aus wie die Utopie der New Economy, die wähnte, man könne das Wirtschaftsingenieurwesen getrost Leuten überlassen, die Physik oder Mathematik studiert haben, aber nicht Geschichte. Den Hirnen dieser Leute sind dann all die schönen hochabstrakten Finanzprodukte entsprungen, mit denen sich ganze Volkswirtschaften eindrucksvoll demolieren ließen.
Ob die inzwischen etwas ausgeleierte Kalenderweisheit George Santayanas, wonach diejenigen, denen die Geschichte unbekannt ist, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen, nun buchstäblich stimmt oder nicht, eines steht fest: Das Niveau selbst absolut neuer, präzedenzloser Vorkommnisse ist selten erfreulich, wenn sie von historischen Analphabeten losgetreten werden. Dietmar Dath