Gesundheit anders. Einladung, das Gesundheitswesen in einem anderen Bezugsrahmen zu denken.

Worum geht es?
Nie war unter deutschen Gesundheitspolitikern so viel Einigkeit wie heute. Sieht man von der Diskussion über die Bürgerversicherung ab, besteht parteiübergreifende Einigkeit über die Grundstruktur unseres Gesundheitswesens.
In Kurzform: Die Politik gibt den Rahmen vor, der GBA setzt diese Vorgaben um. Dabei bedient er sich unabhängigen Sachverstandes eigens geschaffener wissenschaftlicher Beratungsinstitutionen wie dem IQWIG oder dem jetzt neu einzurichtenden Qualitätsinstitut.
Es ist der Politik gelungen, die Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen. Aus internationalen Vergleichen ist auch bekannt, dass das deutsche Gesundheitssystem für breite Bevölkerungsgruppen ganz ordentliche Leistungen bietet.

Der scheinbar alternativlose Kurs einer zentral gesteuerten und weitgehend einheitlich verfassten Gesundheitswirtschaft wird aber zu einem Risiko, wenn sich das Modell nicht an anderen Ideen und Konzepten messen muss.

Zudem zeichnet sich ab, dass das Gesundheitswesens
• die vor uns liegenden demographischen Herausforderungen nicht mit der notwendigen Flexibilität bewältigen kann,
• die Potential neuer wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen nicht zum Vorteil einer besseren Gesundheitsversorgung erschließt und
• den unterschiedlichen Vorstellungen, Wünschen und Erwartungen der Versicherten und Patienten nicht hinreichend gerecht wird.
Es geht nicht darum, die Erfolge und guten Absichten aller Beteiligten in Abrede stellen.

Aber erst, wenn andere Konzepte und Ideen zur Debatte stehen, werden Vor- und Nachteile unterschiedlicher Governance-Strukturen für das Gesundheitssystem erkennbar und diskutiertbar und damit entscheidbar werden.

Leitgedanke ist dabei, dass einerseits eine möglichst hochwertige Versorgung für die gesamte Bevölkerung verfügbar ist. Auf der anderen Seite ist zu klären, wie es unter anderen Rahmenbedingungen möglich wäre, das Potential und Engagement der im Gesundheitswesen tätigen Menschen stärker für eine kontinuierliche Verbesserung der Gesamtleistung erschließen zu können und zum Ausgangspunkt für einen institutionellen Wettbewerb um bessere Leistungen zu machen.
Deswegen sollte eine gesundheitspolitische Debatte nicht nur unter Politikern und Experten führen, sondern auch mit Menschen aus dem Gesundheitsbereich, Unternehmen und Versicherten und Patienten gleichermaßen, mit Theoretikern und Praktikern, die das Bessere als den Feind des Guten betrachten und die die wichtige gesundheitspolitischen Diskussion nicht nur durch ihre Interessensbrille, sondern auch mit dem Wunsch nach besseren Leistungen führen möchten.

Die hier, noch unsystematisch zusammengetragenen Gedanken sind eine erste Sammlung von Risiken für das Gesundheitssystem in seiner aktuellen Form und Fragen, die an ein künftiges Gesundheitssystem gerichtet werden sollten. Wir freuen uns auf eine gleichermaßen kontroverse und lösungsorientierte Diskussion.

Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitssystem steht
Unsere Kritik am derzeitigen Gesundheitswesen haben wir in folgenden Thesen zusammengetragen;
1. Vergütungsstruktur blockiert Veränderung.
Die Vergütungsstruktur des Gesundheitswesens ist längst zu seiner „zweiten Realität“ geworden, die die einzelnen Akteure hindert, sich selbständig auf die Suche nach besseren Lösungen zu machen.

2. Zentrale korporatistische Struktur setzt Bestandsinteressen vor Zukunftsherausforderungen.
Die zentrale und korporatistische Organisationsform führt zu einer Übermacht der Bestandsinteressen gegenüber veränderten Umwelt(Zukunfts)anforderungen. Sie hindert einzelne Akteure, sich von selbst auf die Suche nach besseren, leistungsfähigeren und/oder kostengünstigeren Regelungen zu machen.

3. Zentrale Steuerung und Kontrolle missachtet Kompetenz und Haltung der medizinsch-pflegerisch tätigen Menschen.
Die scheinbare Demokratisierung und Vereinheitlichung des Gesundheitswesens führt zu einer Missachtung der Kompetenz und Qualität derer, die am Patienten arbeiten und mehrt die Macht derer, die, fern von medizinischer, pflegerischer und ganz allgemein, praktischer Kompetenz sich Urteile über diese Arbeit erlauben/Macht über diese ausüben wollen.

4. Korporatistische Struktur leugnet Konflikte anstatt sie auszutragen.
Struktur und Verhalten der Akteure führen dazu, dass Konflikte nicht offen als Konflikte diskutiert werden, sondern unter einem Mantel von Konsensualität vermieden werden; – und deswegen oft weniger sachgerechte Ergebnisse produzieren als zu wünschen wäre.

5. GBA wird zunehmend zum Flaschenhals.
Der Weg institutioneller Befassung mit Verfahren führt zu einer Blockade von Veränderungen. Das Gremium GBA, aber auch andere, analog geschaffene deliberative Institutionen (konsensuell arbeitende Institutionen der Akteure, „Selbstverwaltung“) führen zu einer Verschleppung von Entscheidungen zwischen 3-7 Jahren (Flaschenhalssyndrom) und bilden zunehmend einen eigenen Machtkosmos.

6. Bürokratische Logik des Gesundheitssystems verhindert Freisetzung von Effizienzgewinnen.
Systemeffizienz stellt sich oftmals erst durch Optimierungen im Prozess heraus. Die zunehmende Eingriffstiefe blockiert die Freisetzung von Effizenzgewinnen. Zudem darf bezweifelt werden, dass GBA-Entscheidungen unter Effizienzgesichtspunkten getroffen werden. Ein System, das, ob spontan oder bewußt, Aufwand und Ertrag seiner eigenen Entscheidungen dauerhaft missachtet, wird, gerade in Situationen, in der sich absehbar Rahmenbedingungen massiv verändern, scheitern.

7. Evidenz Based Medicine wird zunehmend zu erstarrtem Glaubensatz.
Unter der Überschrift von Wissenschaftlichkeit und Evidence Based Medicine werden zunehmend irrelevante und vielfach auch unzutreffende, falsche Ergebnisse zur Leitlinie therapeutischen Handelns stilisiert. Wissenschaft bedeutet eine Systematisierung und Objektivierung von Erkenntnissen. Wir wollen aber eine Debatte darüber, ob die praktizierte Form der medizinischen Erkenntnisgewinnung tatsächlich zu praxisrelevanten Ergebnissen führt.

Einige Fragen, die sich stellen

• Wie kann man eine Logik umdrehen, die, anstatt schwierige Entscheidungen zu treffen, darauf beruht, diese an weitere Gremien zu delegieren oder in Papieren zwischenzulagern?
• Wie kann man sichtbar machen, was die ungebremste Flut an Initiativen aus bestem Wissen und Gewissen in der Therapierealität der im Gesundheitswesen Tätigen anrichtet?
• Wie kann man einen systemischen Ansatz finden, in der Institutionen oder Netzwerke/Verbünde in nennenswerter Größenordnung tatsächlich einen Leistungswettbewerb untereinander beginnen, der Zeit, Luft, Ressourcen und Reflektionsfähigkeit genug hat, ständig bessere Ergebnisse zu produzieren? Wer muss wo Verantwortung dafür übernehmen, um eine Weichenstellung in diese Richtung zu erreichen?
• Wie kann der Wissenszuwachs in der Alltagstherapie, das intuitive und medizinische und pflegerische Alltagswissen zu einer selbstverständlichen Erkenntnisquelle medizinischer Forschung und Entwicklung werden?
• Wie können die verschiedenen Versicherten- und Patienteninteressen zu einem entscheidenden Faktor für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems werden; und welche Grenzen können wir finden, um aus der Ökonomisierung keine Kommerzialisierung werden zu lassen?
• Wie kann man niedergelassene Ärzte motivieren, verbindlich arbeitende Netzwerke zu bilden. Wie ist ein Wettbewerb zwischen der traditionellen Form niedergelassener Einzelpraxen mit neuen Versorgungsformen, MVZs zu realisieren, die zu besseren Leistungen, mehr Effektivität und Effizienz führen.
• Wie kann der Mehrwert neuer Technologien für die Selbstinformation der Versicherten/Patienten, des Wissens- und Wissenssharings über sich und seine Gesundheits/Krankheitsbiographie freigesetzt werden, ohne von Standes- oder Honorarinteressen blockiert zu werden (auch, wenn sich diese zuweilen als Fachargumente, beispielsweise den vielzitierten Datenschutz tarnen?
• Was können wir tun, um unser Gesundheitswesen, das von seiner Honorierungsstruktur als ein partial denkendes Krankheitsbeseitigungswesen (Reparatursystem) konzipiert ist, zu einer Logik der Krankheitsvermeidung und ganzheitlichen, lebensweltlich basierten und individuell-biografisch-verankerten Idee der Gesundheitserhaltung zu überführen? Und dabei zu berücksichtigen, dass dies zu einer Einbindung in andere Sozialsysteme und der Kooperation von spontanen, freiwilligen, nicht honorierten und honorierten Tätigkeiten bedarf (Demographie/Altern/Pflege).
• Wo können wir ressourceneffiziente Wege finden, um unser Gesundheitswesen flexibler und entwicklungsfähiger zu machen?

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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