Ein Bericht aus der brandenburgischen Provinz. Während Politiker von einem gesellschaftlich verantwortlichen Gesundheitssystem sprechen und immer neue, wissenschaftlich gestützte Abrechnungspositionen erfinden (lassen), haben die Ärzte das Ganze auszubaden. Die FAZ berichtet in ihrer heutigen Ausgabe, wie das Bad für einen brandenburgischen Landarzt aussieht. Was heißt: Nicht immer sieht man oben, was unten rauskommt. Die Frage bleibt: Wie es anders laufen könnte.
Der Beitrag:
SAMSTAG, 20. SEPTEMBER 2014
WIRTSCHAFT
Landarzt
Junge Ärzte meiden das Land. Dabei wird die Arbeit dort gut entlohnt. Wie aber kommt das Geld zum Arzt? Eine Spurensuche von Andreas Mihm
Die Krankenkassen werden den niedergelassenen Ärzten im nächsten Jahr 800 Millionen Euro zusätzlich überweisen. Darauf haben sie sich kürzlich geeinigt. Damit wird das Honorarvolumen die Marke von 35 Milliarden Euro überschreiten. Das ist eine Menge Geld, mehr, als zum Beispiel die Bundeswehr ausgeben kann.
Aber wie kommt das Geld der Beitragszahler zu den mehr als 150 000 freiberuflichen Haus-, Fachärzten und Psychotherapeuten, die das System der Kassenärzte unter Vertrag hält? Ortsbesuch an der Basis, bei einem Hausarzt. Der heißt Johannes Becker, ist 56 Jahre alt, trägt Jeans, ein kariertes Hemd unterm weißen Kittel und das Haar zunehmend grau.
Becker betreibt seine Praxis in Ruhland. Das ist ein 4000-Einwohner-Örtchen im Süden Brandenburgs. Man kennt sich. Auf der Straße grüßt der Pfarrer. Das Werk Schwarzheide des Chemiekonzerns BASF mit 2000 Arbeitsplätzen ist nahebei. Nach Dresden ist es eine halbe Stunde mit dem Auto, nach Berlin sind es zwei.
Ruhland ist keine sterbende Region, aber Ärzte lassen sich dennoch nicht gern hier nieder. Zwei Hausärzte praktizieren vor Ort, den dritten hat unlängst mit 75 Jahren der Tod ereilt. Jetzt werden die beiden Praxen weiter wachsen. Irgendwer muss sich ja um die anderen Patienten kümmern. 1600 Scheine macht Becker im Quartal. „Scheine“ steht im Kassenarztjargon für abrechnungsfähige Behandlungen. Das ist ziemlich viel. Selbst für brandenburgische Verhältnisse.
Wenn von Unterversorgung die Rede ist, kommt die Rede schnell auf Brandenburg. Das Land gilt als eines der Länder mit der niedrigsten Hausarzt-Patienten-Relation. Die Ärzte arbeiten viel. Becker hat jeden Tag Sprechzeiten von acht bis zwölf Uhr. Mittags macht er eine halbe Stunde Pause, danach Hausbesuche und montags, dienstags und donnerstags von drei bis sechs Uhr wieder Sprechstunde.
Die viele Arbeit bringt gutes Geld. „Beklagen kann ich mich wirklich nicht, mir geht es nicht schlecht“, sagt Becker. Er behandelt seit Mitte der achtziger Jahre Patienten in Ruhland, seinen Thüringer Akzent hat er behalten. Damals waren allein in der Poliklinik des Chemiekombinates 24 Ärzte und Zahnärzte angestellt. Seit der Wende vor 25 Jahren hat sich vieles verändert, auch in der medizinischen Versorgung. Einst angestellte Ärzte ließen sich als Freiberufler nieder, Polikliniken gingen mit den Kombinaten unter.
Fast 115 000 Euro hat jeder Hausarzt in Brandenburg im ersten Halbjahr des vorigen Jahres im Durchschnitt mit Kassenpatienten umgesetzt. So steht es im Honorarbericht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Ein wenig besser schnitten die Hausärzte in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ab.
Becker liegt mit seiner Praxis weit über dem Landesschnitt. 1400 Scheine hat er von Juli bis Anfang September gemacht. Da fehlen noch gut drei Wochen zum Quartalsende. So lange stand die Praxis wegen der Ferien auch noch still. Der Landesdurchschnitt der Hausärzte in Brandenburg liege unter 1000 Scheinen, sagt Becker. Er muss es wissen, sitzt er doch dem Landesverband der Hausärzte vor.
Doch Umsatz ist nicht Verdienst. Am Morgen hat die Post die Heizölrechnung über 2500 Euro ins Haus gebracht. Becker beziffert seine Praxiskosten (drei Angestellte, Putzhilfe, Miete, Geräte, Leasingrate für das Auto) auf mehr als 11 000 Euro im Monat. Versicherungen seien darin enthalten, die Steuer nicht.
An diesem Septemberabend sitzt der Hausarzt hinter seinem Schreibtisch. Ein schwarzer Laptop steht auf der grauen Arbeitsplatte. Auf dem Bildschirm poppt eine Tabelle mit Namen, Diagnosen, Abrechnungsziffern aus. Die Frucht eines ganzen Tages. 113 Patienten hat Becker gesehen, darunter vier Privatzahler: ein kranker Schüler (28,70 Euro einschließlich Schulbefreiung), eine Beamtin (Ohren gespült, 26 Euro), ein Rezept ausgestellt (3,50 Euro). Die Rechnungen wird er später schreiben. Zweimal im Jahr schickt er den Privatpatienten den Kostenbeleg nach Hause. Das macht er selbst. Es lohne nicht, damit ein Inkassounternehmen zu beschäftigen. Ruhland ist nicht Potsdam oder München oder Baden-Baden. Privatversicherte sind hier selten.
Becker ist Kassenarzt. 95 Prozent seiner Einnahmen kommen von AOK, Knappschaft, Ersatz-, Innungs- oder Betriebskrankenkassen – wo die Leute so versichert sind. An „Anwendungsstudien“, bei denen die Pharmaindustrie Ärzten Geld für die Beobachtung der Wirkung ihrer Pillen zahlt, nehme er seit Jahren nicht mehr teil, sagt er. Auch Opfer von (Wege-, Berufs- oder Schul-)Unfällen sieht er selten und kann der Unfallversicherung kaum mal eine Kostennote zukommen lassen. Anders ist es mit Gutachten für Reha, Kuren oder andere Hilfen, die Patienten beantragen. Die schreibt er meist am Wochenende. 25 Euro gibt es pro Schreiben. „Mit ein bisschen Übung“, sagt er, „schafft man vier in der Stunde.“
Mit den Patienten muss es schneller gehen. Zehn Minuten sieht das Regelwerk für die Kassenarztabrechnung (Einheitlicher Bewertungsmaßstab, EBM) für ein Gespräch vor (9,12 Euro). Das ist nicht alles: Kommt der Patient zum ersten Mal in diesem Quartal, kann Becker je nach Alter eine „Ordinationspauschale“ abrechnen. Die beträgt für ein zehn Monate altes Kind 23,91 Euro; hat der Patient seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag hinter sich, sind es 21,27 Euro. „Dafür kann der jede Woche dreimal kommen“, witzelt Becker. Er übertreibt ein wenig.
Denn so oft kommt kein Patient in der Woche, im Quartal aber schon. Dann stehen später in der Computertabelle Name und Diagnose, aber keine Abrechnungsziffer, und es gibt auch kein Geld. Doch der Arzt kann bei seiner Kassenärztlichen Vereinigung hier und da noch einen Euro lockermachen. Zum Beispiel die Chronikerpauschale, wenn der Versicherte länger krank ist (13 Euro), und ab dem dritten Besuch je 4 Euro zusätzlich.
Becker hat viele ältere Patienten. Die brauchen Zuwendung und Zeit. Um die zu finanzieren, braucht er Patienten, die nur kurz reinschauen, bei denen er dennoch die ganze Ordinationsziffer abrechnen kann. Im Jargon der Ärzte heißen die „Verdünner“. Die Mathematik der Niedergelassenen geht so: Für das Gespräch gibt es 9,12 Euro, im Gegenzug werden von der Ordination aber 4,50 Euro Gesprächsanteil abgezogen. Um ein zehnminütiges Gespräch zu finanzieren, braucht ein Hausarzt zwei Patienten – davon, rechnerisch zwingend, einen ohne Gespräch.
Mittags dreht Becker seine Runde bei den Haus- und Heimpatienten. Sechs sollten es sein, möglichst alle auf einem Weg, keiner weiter entfernt als zwei Autobahnabfahrten. Denn da endet sein Revier. Die Akten für die Tour am nächsten Tag liegen schon bereit. Kommt ein Notfall dazwischen, stellt er sich eine andere Tour zusammen. So viel Flexibilität muss sein.
An diesem Mittag war er bei einer 86 Jahre alten Frau, Schlaganfallpatientin, Diabetikerin. Ein Routinebesuch, wie er ihn möglichst zweimal im Quartal unternimmt. Becker überlegt, was er bei „Oma Müller“ abrechnen kann. Sie ist in das Hausärzteprogramm ihrer Krankenkasse eingeschrieben (9 Euro für „besondere Zuwendung“), Ordinationspauschale, Chronikerkomplex (21,27 und 13 Euro), Sturzprophylaxe (16,11 Euro), Teilnahme am Behandlungsprogramm für Diabetiker (10 Euro), Datenerhebung für das Programm (15 Euro). Das alles kann er einmal im Quartal geltend machen. Die Pauschale für den Hausbesuch (21,48 Euro), Fahrtkosten (6,77 Euro) und das ärztliche Gespräch (9,12 Euro), bei jedem Besuch.
Das Arbeiten mit Pauschalen hat die Arbeit einfacher gemacht, die Bürokratie, unter der die Ärzte so viel stöhnen, reduziert. Es müssen nicht so viele Einzelpositionen abgerechnet werden. Davon gibt es viele, sehr viele. Der EBM umfasst zwei Bände. Auf 850 Seiten stehen Tausende Abrechnungsziffern für arztgruppenübergreifende oder arztgruppenspezifische Leistungen wie für Hausärzte und die etwa drei Dutzend Fachärztegruppen.
Manche werden nicht in Euro, sondern in Punkten ausgedrückt. Für jeden Punkt wird ein Cent-Betrag angenommen. Reicht das landesweit zur Verfügung gestellte Geld nicht, sinkt der Euro-Wert je Punkt. Die Leistung wird abgewertet. So kommt es, dass viele Ärzte gegen Quartalsende das Gefühl haben, „umsonst“ zu arbeiten, und Öffnungszeiten reduzieren. Auch „nicht gesondert berechnungsfähige Leistungen“ sind im EBM aufgelistet, etwa die „Entfernung von Ohrenschmalztröpfchen“, für die Doktor Becker am Morgen der Privatpatientin 26 Euro laut Gebührenordnung berechnen konnte.
Hat der Patient das Sprechzimmer verlassen, tippt Becker zügig Diagnose und Abrechnungsziffer in seinen Laptop. Mit zwei Dutzend der fünfstelligen Ziffern kommt er meist aus. Die Software hilft, wenn er eine Abrechnungsziffer sucht, sie ermahnt ihn bei einem Zahlendreher oder warnt, wenn er einen Eintrag vergisst – spätestens am Ende des Quartals, bevor der ganze Zahlenwust per Datenleitung zur Kassenärztlichen Vereinigung nach Potsdam gesendet wird.
Der Weg des Geldes vom Patienten zum Arzt ist lang und kompliziert. Der Arbeitgeber führt den Beitrag an die Krankenkasse ab. Die überweist ihn an den Gesundheitsfonds. Der verteilt das Geld (nach Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Patienten) an die Kassen. Die überweisen es den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen. Die teilen das Honorar in je einen Topf für die Haus- und die Fachärzte – um es dann nach einem komplexen Schlüssel an die Ärzte zu verteilen.
800 Millionen Euro sollen nächstes Jahr mehr verteilt werden. Ein Sechstel für die Hausärzte, ein Sechstel für die Fachärzte, der Rest als allgemeine Preiserhöhung an alle. „Die Frage ist, was davon in Ruhland ankommt“, sagt Becker.
Wann sein Geld kommt, weiß er genau: jeden Monat als Abschlag am zehnten Tag. Genau rechnet die KV später ab, drei Monate nach dem Ende des Quartals. So lange muss er nicht warten, bis er weiß, wie viel er umgesetzt hat. Das spuckt ihm der Computer auf Knopfdruck aus. An diesem Tag, nach 113 Patienten in zehn Stunden, waren es 821 Euro.