Irgendwann hilft das alte Pathos halt nicht mehr. Claudia Roth, Hollande und was Links tut, wenn es an der Macht ist.

Claudia Roth hatte, nach sehr bewegenden Laudatios, eine sehr bewegende Rede gehalten. Wie sie halt ist. Und Parteitag ist Home Run. Und in der Rede hat sie, zwischen den persönlichen Seiten, ihre politischen Botschaften platziert: Save the World! Und dann alles aufgezählt, was man, völlig zurecht, retten können müsste. Aber halt nicht retten kann, auch nicht, wenn man an den politischen Schalthebeln sitzt. Und das mit den vermeindlichen gesellschaftlichen Mehrheiten kann auch schnell vorbei sein, wenn man und frau so weiter macht.

Es hilft nämlich nicht, wenn man den Konflikt zur CDU so aufbläst. Es hilft nicht, wenn man die Flüchtlingsfrage so moralisch aufbläst, man sie aber ernsthaft nicht lösen kann. Auch gelockerte Einwanderung wird das Flüchtlingsproblem nicht lösen (es gibt viele Afrikaner, die die Nase von Non-Governance in ihren Ländern voll haben). Und niemand weiss, was das richtige Maß beim Lockern ist. Und wie gelockerte Einwanderungsregelungen wirken würden. Auch Claudia Roth nicht.

Und so beschwört eine linke Rhetorik ihr Umfeld, um nicht nachdenken zu müssen, wie man das Problem angemessen erörtert und entscheidet. Haltung gegen Folgen.

Das ist nicht schön, aber was rauskommt, wenn man weiter so naiv Politik machen möchte, sieht man in Frankreich. Dort ist emanzipatorische Politik, die sich von den Finanzmärkten nichts sagen lässt, ja jetzt an der Macht. Noch, denn inzwischen hat die Front National die stumme Linke und die zerstrittene Rechte stimmenmässig schon überrundet.

Es geht um die eigene Haltung, die Wahrnehmung eines Problems und darum, das Thema verantwortlich anzugehen.

Sonst scheitert man an der Erwartungshaltung, die man aufgebaut hat, aber nicht einlösen kann. Und, ja, dann ist es besser, in der Opposition zu bleiben.

Das schreibt die Süddeutsche zum „Frankreichproblem“:

Ein interessanter Artikel aus der App der Süddeutschen Zeitung:

Thema des Tages, 19.10.2013

Frankreich

Erklären Sie sich!
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Von Christian Wernicke

Sieben Jahre ist der Protestbrief alt. Aber er klingt, als sei er diese Woche geschrieben worden. Die Zeilen spiegeln exakt jene Empörung wider, die am Freitag tausende Gymnasiasten auf die Place de la Bastille getrieben hat. Es ist dasselbe Pathos und – damals wie heute – dieselbe Wut darüber, dass die Staatsmacht ihre ausländischen Schulkameraden aufgreift, festsetzt, außer Landes schafft. So wie sie es jetzt mit Leonarda gemacht haben, dem Roma-Mädchen. Und mit Khatchik, dem Berufsschüler aus Armenien.

Gegen solcherlei „Infamie“, wie sie schrieben, legten im Mai 2006 mehr als 30 000 Franzosen Einspruch ein. Sie forderten von der (damals konservativen) Regierung, sofort jedwede Abschiebung von Minderjährigen zu stoppen, per Unterschrift stellten sie die Kids unter ihren Schutz. „Dies sind unsere Schüler, es sind die Freunde unserer Schüler oder Kinder“, hieß es da, „und wenn sie vor einer schändlichen Ausweisung davonlaufen, dann werden wir ihnen helfen.“ Prominente Linke signierten das Papier reihenweise. Jack Lang, der legendäre Kulturminister, oder Harlem Désir, der heutige Generalsekretär der Sozialistischen Partei (PS). Und ein gewisser Jean-Marc Ayrault.

Das ist lange her. Heute ist Jean-Marc Ayrault Premierminister. Als zweiter Mann im Staate nach dem Präsidenten verantwortet er die Macht. Also auch Dinge wie diese: die Abschiebung von Leonarda Dibrani, 15, am 9. Oktober nach Kosovo, die mit Polizeigewalt exekutierte Ausweisung von Khatchik Kacharyan, 19, nach Armenien drei Tage später.

Bis zu Wochenbeginn hatte der Premier von alledem nichts gewusst. Doch als „l’affaire Leonarda“ über ihn hereinbrach und am Dienstagabend beim wöchentlichen Treffen sozialistischer Parteigrößen Zank und Zorn groß waren, da hat er sehr schnell verstanden, was auf dem Spiel steht. Menschenrechte, Antirassismus, Solidarität auch mit illegalen Ausländern sind Teile der Identität der Linken. Sozialisten und Grüne fanden sich nach dem Wahlsieg vom Mai 2012 auch deshalb in einer Koalition zusammen, weil man zuvor gemeinsam die harsche Ausländerpolitik von Nicolas Sarkozy bekämpft hatte. Also schritt Ayrault ein: „Wir leben in einem Rechtsstaat, es gibt Regeln“, sprach der Premier – aber da sei mehr: „Und zugleich leben wir in einer Republik, die Werte hat.“

Recht versus Werte – das wollen, das müssen Frankreichs Sozialisten nun neu ausbalancieren. Ayrault ordnete eine interne Untersuchung an, das Ergebnis soll spätestens am Wochenende publik werden. Am Freitag sickerte durch, wie das neue Gleichgewicht ungefähr aussehen könnte. Ein neues, liberaleres Ausländergesetz traut sich die Regierung nicht zu – jedenfalls nicht vor den Wahlen im Frühjahr, bei denen viele einen Triumph des rechtsextremen „Front National“ befürchten. Stattdessen sollen nur verbesserte Verwaltungsrichtlinien klarstellen, dass die Polizei nicht – wie es Leonarda Dibrani widerfuhr – im „Schutzraum“ französischer Schulen zugreifen darf. Offenbleibt, ob das Roma-Mädchen zurück darf nach Frankreich.

Das ist die kleine, die akute Krisen-Replik. Für mehr ist Ayrault nicht zuständig. Die große Antwort auf fundamentale Fragen wie danach, was Frankreich heute ausmacht, was die Nation zusammenhält und überhaupt in welche Zukunft er seine Landsleute führen will – dafür ist allein das Staatsoberhaupt verantwortlich. „Erklären Sie sich, Herr Präsident!“, forderte am Freitag die linke Tageszeitung Libération auf ihrer Titelseite.

Doch François Hollande schweigt. Wieder. Seit Wochen kündigt seine Entourage zwar an, ihr Chef wolle „demnächst“ oder „sehr bald“ einen „großen Diskurs über seine Vision von der Republik“ präsentieren. Dann aber folgt – nichts.

Diese Orientierungslosigkeit, dieses Vakuum ist ein Grund dafür, dass der „Fall Leonarda“ zu einer Art Sinnkrise der Sozialisten aufwallt. Die Linke drohe, „ihre Seele zu verlieren“, twittert der sozialistische Parlamentspräsident Claude Bartolone, derweil ein Minister – streng anonym – raunt, wenn man nur dieselbe Politik wie Sarkozy mache, dann „werden wir daran ersticken“.

Das Unbehagen, die Enttäuschung gären seit Monaten in den Reihen der Sozialisten. Denn der große Wandel, den Hollande vor seiner Wahl im Mai 2012 verheißen hatte, ist ausgeblieben. Stattdessen müssen sie fade Realpolitik absegnen. Wie diese Woche: Am Dienstag billigte die PS-Fraktion widerwillig eine ungeliebte Rentenreform, die Frankreichs Arbeitnehmern von 2020 an für ihre Vollrente ein ganzes Jahr mehr Arbeit abverlangt. Am Donnerstag folgte dann ein Sparhaushalt, der mehr den Defizitkriterien aus Brüssel denn sozialen Idealen gehorcht. Als sich Widerstand regt, verbittet sich die Regierung jedweden Änderungsantrag aus den eigenen Reihen.

Das schürt Frust. Hinzu kommt die Verbitterung darüber, dass Innenminister Manuel Valls im September hatte verkünden dürfen, die mehr als 17 000 Roma im Land seien zumeist nicht integrierbar und sollten sich scheren. Der Präsident strafte diesen Verstoß gegen den linken Comment nicht ab – und ließ durchblicken, dass er seinen populären Minister als streitbaren Ritter im Kampf gegen den Aufstieg der französischen Rechtsextremen einsetzen will. Fast die Hälfte aller Franzosen (46 Prozent) sieht in Marine Le Pen, der Vorsitzenden des Front National, die eigentliche Oppositionsführerin im Land. Laut Umfragen ist sie beim Volk beliebter als Hollande oder Ayrault, aus dem Kabinett ist nur einer populärer als Le Pen: Valls.

Der verantwortet auch die „Affäre Leonarda“. Eine völliger Kurswechsel, eine Rückkehr von Leonarda würde ihn desavouieren. Das weiß Hollande – und genau dieses Kalkül verbittert viele Linke. „Zum zweiten Mal hat Valls die rote Linie überschritten“, schimpft der grüne Abgeordnete Noël Mamère, „und zum zweiten Mal sagt Hollande nichts.“

Christian Wernicke
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Christian Wernicke, 1959 in Hamburg geboren, ist seit August 2013 Frankreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Paris. Zuvor war er von 2005 bis Sommer 2013 U.S.-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington, DC sowie von 2002-2005 Büroleiter und Europa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Brüssel, wo er vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik von EU und Nato analysierte und die zentralen Debatten um die Euro-Krise, die europäische Verfassung und die Zukunft der Europäischen Union verfolgte. Wernicke hat Anfang der achtziger Jahre bei der Neuen Rhein/Ruhr-Zeitung volontiert und als Lokalredakteur in Essen gearbeitet, ehe er Volkswirtschaft und Politikwissenschaften in Köln und an der Pennsylvania State University (Penn State) studierte. 1989 trat er in die Politik-Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit ein, für die er als „Wende-Korrespondent“ ab Herbst 1989 aus der DDR und dann aus den neuen Bundesländern berichtete. Von 1992 bis 1996 widmete sich Wernicke Nord-Süd-Themen und entwicklungspolitischen Problemen, zugleich berichtete er in Reportagen von politischen Umbrüchen in Mexiko und in Südamerika. Im Herbst 1996 erfüllte ihm die Zeit den Wunsch, sich als Korrespondent zu versuchen: Den leidenschaftliche Europäer zog es als „EU and Nato Correspondent“ nach Brüssel, wo er 2002 zur SZ wechselte. Für seine Berichterstattung über den demokratischen Aufbruch in Ostdeutschland wurde Wernicke 1992 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 1993 und 1996 erhielt er jeweils den Bundespreis für entwicklungspolitische Berichterstattungen, für ein Feature über Entscheidungsprozesse in der Weltbank bzw. eine Reportage über afrikanische Frauen als „Change Agents“ in ihren Dörfern. Im November 2000 verlieh ihm das Europa-Parlament für einen Artikel über die Europäische Charta der Grundrechte den begehrten „Premio Napoli“. Im Juni 2011 erhielt er den George-F.-Kennan-Kommentarpreis für einen Leitartikel in der SZ, in dem er den (für Deutsche oft schwer verständlichen) Verdruss der Amerikaner mit ihrem Präsidenten Barack Obama erklärte. Für seine Berichterstattung über transatlantische Themen wurde Wernicke im März 2012 mit dem Karl-Klasen-Journalistenpreis gewürdigt. Zusammen mit seinem SZ-Kollegen Reymer Klüver veröffentlichte er 2012 das Buch „Amerikas letzte Chance – Warum sich die Weltmacht neu erfinden muss“.

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Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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