Aus der FAZ von heute. Und ohne weiteren Kommentar. Nam vielleicht den: Was ist Gesinnungsethik? Was ist Verantwortungethik? Und wie verhalten sich dazu Geschäftsmodelle?
F.A.S., Sonntag, den 17.11.2013POLITIK 6
Nach dem Taifun auf den Philippinen war die Not groß. Auf den verwüsteten Inseln – aber auch bei den deutschen Hilfsorganisationen. Sie wollten so schnell wie möglich reagieren: mit Pressemitteilungen und Spendenaufrufen, Videos und Expertisen. Das Problem war nur, dass niemand wusste, wie schlimm die Lage auf den Philippinen wirklich war. Zwei Tage nach dem Unglück meldete die philippinische Regierung 229 Tote, 45 Verletzte und 28 Vermisste. Das Rote Kreuz schätzte zu diesem Zeitpunkt, dass es „mindestens 1200 Todesopfer“ seien. Es war zu vermuten, dass das nicht alle sein konnten. Aber was sollte man in die Pressemitteilungen schreiben und auf die Internetseiten?
Die Hilfsorganisation humedica schrieb: „Mehr als 10 000 Tote“. Die deutsche Sektion von Plan International teilte mit: „Taifun Haiyan hat bisher nicht nur über zehntausend Menschen das Leben gekostet – er stellt Überlebende und die Nothilfe-Experten der Kinderhilfsorganisation Plan International auch vor gewaltige Herausforderungen.“ Auch die Malteser: „Zehntausend Menschen ums Leben gekommen“. Das Bündnis „Aktion Deutschland“ hilft und die Johanniter verkündeten: „Allein auf den Inselgruppen Visayas und Luzon sind 25 Millionen Menschen betroffen.“
Das schienen gesicherte Zahlen zu sein. Es waren aber Behauptungen. Jetzt, eine Woche später, nennen die Vereinten Nationen ganz andere Zahlen – niedrigere. Etwa 3600 Tote und 12,9 Millionen Betroffene. Man muss befürchten, dass noch mehr Tote gezählt werden, weil viele Leichname noch nicht geborgen sind. Aber woher hatten die Hilfsorganisationen so früh ihre Zahlen? Und warum gaben sie diese als Fakten aus?
Die ersten Tage nach einer Katastrophe sind für die Hilfsorganisationen die wichtigsten. Da sind die Horrorbilder auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Sondersendungen im Fernsehen: weinende Waisen, zerstörte Hütten, Auffanglager, das ganze Elend. Dazu Kontonummern für Spenden. Da muss die Maschine anspringen. Eine Sprecherin von Save the Children Deutschland nennt den Taifun „eine CNN-Katastrophe“. Die Medien machen das Ereignis erst richtig groß. Und das ist nicht nur wichtig für die Hilfe im Katastrophengebiet, sondern auch für die Finanzen der Organisationen insgesamt. Sie brauchen das viele Geld, das durch Katastrophen in die Kassen strömt, auch für weniger spektakuläre Projekte. Spenden für die Taifun-Opfer dürfen, wenn die Einnahmen den Bedarf überschreiten, für die Arbeit woanders eingesetzt werden – zum Beispiel im Bürgerkriegsland Syrien, für das die Deutschen bisher sehr zurückhaltend Geld geben. Die Spender müssen nur vorher darauf hingewiesen werden.
Die Spender sind hart umkämpft, denn das jährliche Spendenvolumen stagniert in Deutschland nach Einschätzung von Fachleuten bei sieben Milliarden Euro. Ein Taifun in einem Land mit sehr vielen Kindern kurz vor Beginn der Weihnachtszeit ist, geschäftlich betrachtet, eine wichtige und vielversprechende Einnahmequelle. Die Hilfsorganisationen drücken das ein bisschen netter aus. „Wir freuen uns sehr über die große Hilfsbereitschaft und Anteilnahme“, sagt eine Sprecherin des deutschen Büros von Plan International. Allein zwischen Montag und Donnerstag hat die Organisation in Deutschland mehr als 500 000 Euro für die Philippinen gesammelt. „Aktion Deutschland“ hilft vermeldet gar schon 7,5 Millionen.
Woher die „über 10 000 Toten“ aus ihrer Pressemitteilung vom Montag kommen, kann die Plan-International-Sprecherin nicht genau sagen. Die Hilfsorganisationen orientierten sich, was die Zahlen betreffe, unter anderem „aneinander“. Man „einige“ sich. Tatsächlich hatte es Sonntagnacht eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters gegeben, in der die Zahl vorkam. Demnach hatte der Gouverneur der Provinz Leyte auf einem Treffen mit „Experten“ die Zahl der Opfer mit „etwa 10 000“ angegeben. Eine Schätzung eines Lokalpolitikers also – niemand hatte so schnell so viele Leichname gezählt. Eine Sprecherin der Malteser sagt, man habe diese Zahl aus den Agenturen übernommen.
Auf ähnliche Weise kam es zu den „25 Millionen Betroffenen“ in der Mitteilung der Johanniter. Man habe sich vor einer Woche „im Eifer des Gefechtes“ an eine Meldung der „Aktion Deutschland“ hilft drangehängt, gesteht eine Sprecherin ein. Tatsächlich sei wohl gemeint gewesen, dass insgesamt 25 Millionen Menschen auf den genannten Inseln lebten. Sie seien allerdings gar nicht alle durch den Taifun geschädigt worden. Auch die Johanniter freuen sich jetzt über die „große Spendenbereitschaft“ der Deutschen. Sie haben zunächst nur im Internet geworben, Ende dieser Woche aber auch noch eine Rundmail verschickt: zum Teil an Adressen aus ihrem Bestand, zum Teil an bezahlte – „einmalig gemietete“ – Adressen. Die Maschine läuft.
Das Problem mit den Zahlen ist den Hilfsorganisationen im Laufe der Woche dann auch aufgefallen. An ihnen sollte man „sich überhaupt nicht festhalten“, sagt die Sprecherin von Plan International Deutschland nun. Das Ausmaß der Schäden könne man jetzt noch gar nicht erfassen, das werde noch Wochen dauern. Bisher könne nur geschätzt werden. „Die Zahlen verändern sich sehr schnell“, meint auch eine Sprecherin der evangelischen Diakonie Katastrophenhilfe. Die Johanniter-Sprecherin findet, das mit den Zahlen sei „in der Tat ein schwieriges Thema“. Alle genannten Hilfsorganisationen weisen jetzt darauf hin, dass man das Ausmaß der Katastrophe nicht nur an den Opferzahlen messen könne. Auf den Internetseiten ist nun oft von „Tausenden Toten“ die Rede – daran ist nicht zu rütteln.
Und was ist mit den „Betroffenen“? Die Vereinten Nationen teilen mit, dass 12,9 Millionen Menschen durch den Taifun und seine Folgen direkt geschädigt wurden. Das kann bedeuten, dass sie Verletzungen erlitten haben oder obdachlos geworden sind, dass ihre Felder zerstört wurden oder der Strom in ihren Häusern ausgefallen ist. Aber auch da ist eigentlich noch gar nichts klar – auch wenn die Hilfsorganisationen das gern anders hätten. Die Sprecherin von Plan International schreibt am Donnerstag auf Nachfrage, es seien aktuell „mehr als eineinhalb Millionen Menschen obdachlos und in Evakuierungszentren“. Quelle für diese Information: „Schätzungen der philippinischen Regierungen sowie verschiedener humanitärer Organisationen“.
Die Vereinten Nationen geben zum selben Zeitpunkt – am Donnerstag – die Zahl der Obdachlosen mit 544 606 an. Auf den Unterschied hingewiesen, schreibt die Pressesprecherin zurück: „Ja, es gibt eine Diskrepanz bei den Zahlen der obdachlos gewordenen Menschen auf den Philippinen. Ich habe gerade auch noch einmal recherchiert. Es dauert einige Zeit, bis diese Zahlen wirklich fix sind.“ Trotzdem lesen potentielle Spender jeden Tag Zahlen.
Die meisten Organisationen konzentrieren sich inzwischen allerdings darauf, das Ausmaß der Katastrophe wortreich, aber zahlenarm zu beschreiben. Besonders beliebt ist der Vergleich mit dem Tsunami im Indischen Ozean 2004. Mal ist der Taifun der „stärkste aller Zeiten“, mal der „viertstärkste“, mal schlicht „verheerend“. Die Tatsache, dass die philippinische Regierung die Zahl der Opfer nach unten korrigiert habe, ändere nichts an der Dramatik der Katastrophe, sagt der Leiter für Internationale Projekte des Hilfswerks „Geschenke der Hoffnung“. Die Vereinten Nationen haben unterdessen einen Plan für die nächsten sechs Monate gemacht: 300 865 496 Dollar werden benötigt. Diese Zahl ist die einzige, die momentan sicher ist.
Am Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen kennt man das Problem mit den Schätzungen. Das Institut vergibt das DZI-Spendensiegel an Hilfsorganisationen in Deutschland, die es als seriös einschätzt. Der Geschäftsführer Burkhard Wilke bestätigt, dass Hilfswerke in den ersten Tagen nach Katastrophen die Lage kaum einschätzen können. In ihre Vermutungen bezögen sie Medienberichte ein, Angaben der Landesregierung und der Vereinten Nationen, aber auch Beobachtungen von Mitarbeitern vor Ort. „Die NGOs beraten untereinander“, sagt Wilke. Am Anfang sei es für sie stets „sehr, sehr schwer“, zu Einschätzungen zu kommen.
Bei der Katastrophe auf den Philippinen habe man anfangs geglaubt, das Land sei glimpflich davongekommen. Schließlich war der Sturm, anders als etwa der Tsunami 2004, vorher angekündigt worden, die Regierung hatte 800 000 Menschen in Sicherheit gebracht. „Am Wochenende haben sich die Informationen dann überschlagen. Erst jetzt klärt sich die Lage langsam.“ Wilke sagt, die Hilfswerke seien angehalten, „zurückhaltend“ zu werben. Zugleich sollten sie aber auch „Not kommunizieren“. Über die Überschwemmung in Pakistan 2010 etwa sei zu wenig bekanntgeworden.
Grundsätzlich rät Wilkes Institut zu Spenden, die an keinen Zweck gebunden sind. Das spare Verwaltungskosten und erlaube es den Organisationen, flexibel zu helfen – auch dort, wo die Not zwar ebenfalls groß ist, aber weniger Emotionen mitspielen. Und schnelle Zahlen nicht so wichtig sind.