Jetzt also auch Joschka. Brauchen wir wirklich mehr Staat im Gesundheitswesen?

Es sind diese Glaubenssätze, man könnte auch sagen, Ideologien, die uns den Blick auf die Frage verstellen, wie wir die Dinge verbessern könnten. Zum Beispiel der, dass nur gemeinnützige Organisationen Gemeinwohl, Gemeingüter, herstellen können. 

Wenn sich jetzt Joschka Fischer zu einer solchen Aussage über das Gesundheitswesen aufschwingt, verwundert das. Denn er hat, seine persönliche Unversehrtheit risikierend, die Grünen, streitend, zu einer realitätsadäquaten Lösung gezwungen: Hinsehen, was passiert. Und dann abwägen, was besser, was schlechter ist. So haben die Grünen dem moralisch einwandfreien, praktisch aber folgenlosen Pazifismus entsagt, um einen gefährlichen Brandherd am Rande Europas, dem Kosovo, zu löschen. 

In der FAZ vom 31.3.2020 schreibt er: 

“Der „Vorsorgestaat“ (ob auf nationaler oder EU-Ebene oder beides) wird jedoch nicht sehenden Auges in wenigen Jahren abermals in ein vergleichbares Desaster hineinlaufen dürfen, ……. Diese Krise hat gezeigt, dass das Gesundheitssystem nicht wirklich privatisierbar ist. Es gehört unverzichtbar zur Daseinsvorsorge und strategischen Sicherheit. Und insofern werden wir dort mehr Staat und weniger Markt bekommen. Auch im pharmazeutischen Sektor wird der Fokus verstärkt auf die Medikamentenversorgung und Forschung im eigenen Souveränitätsbereich liegen als auf Abhängigkeiten von internationalen Lieferketten, die im Ernstfall leicht versagen können.”

Weder das staatliche NHS in UK, noch die private US-Gesundheitswirtschaft überzeugen

Dem will ich widersprechen. Mit gutem Grund: Der Blick durch die Welt zeigt, dass weder staatliche Gesundheitssysteme, noch privatisierte eine Pandemie bewältigen können. Sowohl das weitgehend privatisierte us-Gesundheitssystem wie auch das staatliche NHS in UK gehen vor Corona in die Knie. 

Die meisten Gesundheitssysteme sind Mischsysteme

Das zweite Argument wiegt noch schwerer: In den meisten westlichen Staaten sind die Gesundheitssysteme Mischsysteme, mit Ausnahme des NHS eben, und das sollte uns alle dazu führen, den Blick auf das zu lenken, was zählt: Wie können wir unser Gesundheitssystem besser machen. (Und dazu gerne aus den Erfahrungen anderer lernen). 

Ein Gesundheitswesen ist ein komplexes System, das von vielen Rahmenbedingungen abhängt: Da wären die externen Faktoren, die finanziellen Zuwendungen, aber auch das Vertrauen der Menschen in die Institutionen. Da wäre die demographische Entwicklung, von der wir wissen, dass sie einer anderen Versorgungslandschaft bedarf. Und natürlich ist dazu auch die innere Befindlichkeit der “Systemakteure” zu betrachten: Welche Rolle spielt “die Politik”, wie viele Mittel lässt sie dem Gesundheitssystem zukommen, wie sieht die zentrale “Governance”, Gesetzgebung, gemeinsame Selbstverwaltung aus, wie “verantwortungsfähig” sind die Akteure. Verantwortungsfähigkeit bedeutet, über eine klar umrissene Aufgabenbeschreibung zu verfügen und auch über die notwendigen (finanziellen und intellektuellen) Ressourcen, um dieser Verantwortung nachkommen zu können. 

Und dann sind es die Eigeninteressen der Akteure, die natürlich auch eine Rolle spielen. Auch darüber ist zu reden. 

Woran Deutschlands Gesundheitswesen krankt

Das deutsche Gesundheitswesen, sonntags vielerorts gepriesen als eines der besten der Welt, bietet einen guten Zugang zu guter Gesundheitsleistung für alle. Aber, so meine These, es ist krankt an einigen ganz schweren Schieflagen: 

  • Der Zentralisierung mit der damit verbundenen Bürokratisierung und kleinteiligen Kontrolle. 
  • Der Festschreibung der „ständischen Geschäftsmodelle“ Arzt und Apotheker
  • Einer mangelnden Innovationsfähigkeit aus eigenem Antrieb. 
  • Der historisch gewachsenen und nicht sachgerechten Splittung politischer Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern, insbesondere in der Versorgungsplanung. 

Die Kommerzialisierung des Klinikbereichs hat Deutschland gut getan

Jeder Trend hat im Übrigen seine Zeit. Die kommerziellen Klinikbetreiber, die, wie die Pharma-Industrie, oftmals den Buhmann abgeben müssen, haben im Gesundheitswesen viel Gutes bewirkt: Erstmals konnte im Klinikbereich ein institutionelles Management, wenigstens ansatzweise durchgesetzt werden. Gemeinsam mit der Politik übrigens: Gegen eine bis dahin “eminenz-based medicine”, ein auf Privilegien und Exklusivrechte ausgerichtetes privates Liquidationsrecht von Chefärzten, kleine Fürstentümer eben. Sie haben gezeigt, dass man, mit den notwendigen Finanzmitteln im Hintergrund, alte Kliniken abreisen, neue bauen und kosteneffizient betreiben kann. Und ja, sie haben auch zu Verwerfungen geführt: Pflegekräfte klagen (wie auch in öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen) über schlechte Vergütung, die betriebswirtschaftliche “Optimierung” von Kliniken auf finanziell attraktive Eingriffe und abteilungsbezogene Stückzahlenvorgaben für, beispielsweise, Hüftoperationen sind nicht tolerabel. 

Die Kommerzialisierung des Klinikbereichs hat schwere Verwerfungen zur Folge

Aber, und das zeigt die Komplexität des Geschehens: Wer will es den Klinikbetreibern verdenken, wenn es “der Politik”, in diesem Falle den Bundesländern (die neuen Bundesländer sind schon aus notorischer Budgetknappheit meist eine rühmliche Ausnahme), über 15 bis 20 Jahre nicht gelingt, eine Klinikplanung zu realisieren, die dem Bedarf entspricht und die dann sinnvoll weiter notwendigen Kliniken mit einem entsprechenden Investitionsvolumen auszustatten. Wenn “das Gesundheitssystem” kein “versorgungspolitisches Leitbild”, keine gemeinsame und zukunftsorientierte Ausrichtung hat, ist es aus meiner Sicht kein Wunder, dass einzelne Betreiber sich eigene betriebswirtschaftliche Ziele setzen. Im Übrigen zeigt das Agieren eines der Urväter der Privatisierungswelle, Eugen Münch, dass man auch als privater (und ursprünglich nicht aus dem Klinikbereich kommender) Unternehmer einen nachhaltig gemeinwohlorientierten Beitrag leisten kann, der nicht vordergründig auf den Beifall der politischen Akteure aus ist. 

Mehr Intensivbetten, mehr Klinik ist keine Lösung!

Abzusehen ist, dass die Debatte um Intensivbetten jetzt zu einer Retrowelle des Gesundheitswesens führt. Die simple Lösung lautet: Mehr Intensivbetten, die ganze Zeit. Deswegen mehr Geld für die Kliniklandschaft. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft steht bereit. 

Deutschland benötigt ein Gesundheitswesen, das lernt, die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zu bewältigen.

Das Gegenteil wäre richtig. Das deutsche Gesundheitswesen benötigt mehr Prävention, mehr Beratung, mehr Ambulanz, mehr “systemische” Zusammenarbeit (Arztnetze sind toll, aber die magere Bilanz 20 jähriger Aktivitäten zeigt: Es geht zu langsam), mit integrierter Versorgung statt das Gegeneinander von ambulant und stationär. Und natürlich ist das Wegenetz auszubauen. Digitale Infrastruktur statt Faxgerät zur Kommunikation. 

Nie war die Situation besser als heute

Das deutsche Gesundheitswesen steht vor einem Umbruch. So und so. Ein großer Anteil der Ärzteschaft geht in den nächsten Jahren in Pension, junge Ärzte, überwiegend Ärztinnen, wollen mehr Work-Life-Balance. Die Folge: Unternehmerische Verantwortung wird sich, so oder so, von der Arzt-Patienten-Beziehung lösen. Die Krise hat auch gezeigt: Telemedizin, also die Beratung via Telefon oder Computer funktioniert: Wie können wir es systemisch nutzen, um Menschen, ob sie sich nun im Ausland aufhalten oder auf den Halligen wohnhaft sind, gut zu begleiten und zu beraten.  Das Potential von Big Data und Künstlicher Intelligenz zeichnet sich ab. Es gibt, auch heute, kein Gesundheitswesen ohne Geschäftsmodell, wir sind auf der Suche nach dem richtigen “Geschäftsmodell” für ein Gesundheitswesen, das seinen Fokus stärker darauf legt, Gesundheit zu erhalten statt wiederherzustellen. 

Ja, und dann benötigen wir auch Pandemievorsorge. Es ist die Aufgabe der Politik, das wahrzunehmen und die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Aber mehr Staat im Gesudheitswesen brauchen wir nicht. Einen mutigen Staat, das aber schon!

Nur wer über verschiedene Wege, die Vorteile, ihre Nachteile, die Voraussetzungen diskutiert, wird die besten Lösungen finden

Die Debatte um das Gesundheitswesen von Morgen ist eröffnet. Aber, auch in Sachen Gemeinwohlanliegen gibt es keine “einfache Lösung”. Was wir brauchen, ist eine Debatte über unterschiedliche Wege, wie mit begrenzten Ressourcen unser gutes Gesundheitswesen von heute besser werden kann. Indem wir Privilegien abbauen, neue Technologien nutzen, das Engagement der Beschäftigten (auch in der Pflege und den anderen Gesundheitsberufen) ernst nehmen und sie nicht politisch gängeln, sondern Freiräume ermöglichen. Für gute Medizin, die von Menschen, die gerne arbeiten und ordentlich bezahlt im Gesundheitswesen arbeiten, erbracht werden. 

Wer nur mit dem Finger auf andere zeigt, wird ignoriert!

Die Idee muss sein: Jeden Tag ein bißchen besser werden. Aber dazu müssen alle Beteiligten, Politische Entscheider, die Vertreter von “Leistungserbringern” und “Kostenerstattern” aber auch neue Akteure, Telemedinanbieter, Gesundheitsmanagementunternehmen etc. über verschiedene Wege diskutieren und jeder einzelne reflektiveren, welche Privilegien und scheinbare Selbstverständlichkeiten er aufgeben und welche Verantwortung er selbst für seinen Bereich für ein innovationsbereites und sich selbst verbesserndes Gesundheitswesen von Morgen übernehmen will. 

Und zu Joschka: Wir brauchen nicht mehr Staat, wir brauchen einen Staat, der Rahmen setzt, Konflikte wagt, Ressourcen und Aufgaben zuteilt. Und vor allem auch unangenehme Fragen anpackt. Jens Spahn hat da schon mal einen guten Anfang gemacht! 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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