Kann man eine Stadt pleite gehen lassen?

Die meisten von uns würden sagen, nee, wirklich nicht. Tatsächlich müsste man erst einmal überlegen, was die Folgen wären, abwägen. Und dann entscheiden.

Klar ist der Vorteil: Weil die Zahl von Nebenschauplätzen, unterschiedlichen Agenden etc. wegfällt und sich alle auf den Weg machen können, was Neues zu entwickeln, wäre das schon eine Chance.

Der pysychologisch wesentlich stärkere Grund ist, dass niemand das Gefühl hat, er schafft nur für die Banken. Insofern wäre auch ein Schuldenschnitt Athens besser, weil er die Chance eines Neustarts beinhaltet.

Unsere Chance ist ja, dass wir das am Fall Detroits studieren können, wie es sich in einem Fall entwickelt.

SAMSTAG 20. JULI, 2013
Pleite und quicklebendig
Es ist die größte Städtepleite in der Geschichte Amerikas. Detroit hat Insolvenz angemeldet. Unternehmer prophezeien der einstigen Autostadt aber eine goldene Zukunft. Von Matthias Rüb
WASHINGTON, 19. Juli. Detroit hat am Donnerstag zwar Insolvenz angemeldet, aber das Ende der einstigen Metropole der amerikanischen Autoindustrie bedeutet das noch lange nicht. Die Stadt am Lake St. Clair schrumpft zwar, aber sie stirbt nicht. Wie lebendig gerade die Innenstadt von Detroit seit einigen Jahren wieder ist, kann man beispielsweise an zwei Bürohochhäusern an der Woodward Avenue sehen. Das „Compuware Building“ mit seiner imposanten Granit- und Glasfassade beheimatet die Konzernzentralen des gleichnamigen Industriesoftware-Herstellers und des Hypothekenfinanzierers Quicken Loans. Vor gut zwei Jahren erwarb Quicken Loans auch das gegenüberliegende Bürogebäude. Derzeit arbeiten 8000 Angestellte des Unternehmens in den beiden Gebäuden am Campus Martius Park. Und es dürften bald noch mehr werden, denn der Hypothekenfinanzierer hat im vergangenen Jahr ein Wachstum beim Volumen der vermittelten Darlehen für Häuslebauer und Wohnungskäufer von satten 133 Prozent erwirtschaftet. Auch in diesem Jahr verspricht das Unternehmen kräftig zu wachsen.

Gründer und Chef von Quicken Loans ist Dan Gilbert, ein 51 Jahre alter Unternehmer mit einem offenbar unerschöpflichen Vorrat an Energie und Zuversicht. 1985 gründete Gilbert gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Gary und zwei Freunden den kleinen Baufinanzierer Rock Financial Mortgage. Gilbert erkannte bald das Potential des Internets auch für die Baufinanzierung. 1998 brachte er sein Unternehmen an die Börse. Das Platzen der Immobilienblase und die Krise am Finanzmarkt von 2008 überstand Quicken Loans gut, allenfalls mit einigen Blessuren. Heute ist Gilberts Unternehmen der drittgrößte Baufinanzierer in Amerika überhaupt und der mit Abstand größte Anbieter von Hypothekendarlehen, der seine Produkte ausschließlich über das Internet vermarktet.

Die Nachricht vom Antrag auf ein Insolvenzverfahren mit Gläubigerschutz vom Donnerstag – die bisher größte Pleite einer städtischen Metropole – nahmen Gilbert und andere Unternehmer in Detroit mit Zustimmung und Zuversicht auf. Die geordnete Pleite sei „ein erster Schritt in eine bessere und hellere Zukunft für unsere Stadt“, sagte Gilbert, wenngleich er zugestand, dass das Verfahren für viele Bürger, Unternehmen und Behörden schmerzlich verlaufen werde. Zugleich erinnerte Gilbert daran, dass sich der Schuldenberg der Stadt in Höhe von mehr als 19 Milliarden Dollar seit Jahrzehnten angehäuft habe: „Wir haben ganz einfach keine andere Wahl“, als Insolvenz anzumelden, sagte Gilbert am Donnerstag. Doch wie bei den Insolvenzverfahren für die Autohersteller General Motors (GM) und Chrysler von 2009, die viele als den Anfang vom Ende der amerikanischen Autoindustrie betrachtet hätten, seien auch die Untergangsprophezeiungen für Detroit grundfalsch. So wie es GM und Chrysler heute wieder gutgehe, weil sie ihr Geschäftsmodell geändert hätten, so werde „auch Detroit wieder blühen, und zwar früher, als viele glauben“, sagte der Unternehmer. Die besten Tage stünden Detroit noch bevor. Wäre er davon nicht überzeugt, hätte er in den letzten drei Jahren nicht mehr als 30 Gebäude in der Innenstadt gekauft und würde in Detroit heute nicht rund 9200 Angestellten Lohn und Brot geben, sagte er.

Die Pleite von Detroit kam keineswegs überraschend. Schon im März hatte der republikanische Gouverneur des Bundesstaates Michigan, Rick Snyder, den Konkursanwalt und Sanierungsexperten Kevin Orr als Finanzverwalter für die Stadt bestellt. Der Schritt kam einer Entmachtung von Bürgermeister David Bing gleich, der seit seinem Amtsantritt vom Mai 2009 vergeblich versucht hatte, den Haushalt seiner Stadt in Ordnung zu bringen. Aber auch Orr konnte die Pleite nicht abwenden, seine Verhandlungen mit den Gläubigern der Stadt brachten nicht den erhofften Durchbruch.

Die Stadt war zuletzt kaum mehr in der Lage, die Rechnung für die Straßenbeleuchtung zu begleichen – und das, obwohl nur noch 60 Prozent der Lampen überhaupt noch brannten. Einsätze von Polizei und Feuerwehr wurden auf die wichtigsten Notrufe reduziert, und die durchschnittliche Wartezeit bis zum Eintreffen der Polizei beträgt eine Stunde. Zwei Drittel der Notarztwagen sind defekt. Fast 80 000 Gebäude stehen leer – meist Einfamilienhäuser in den zentrumsnahen Vororten, aber auch Geschäftshäuser, Bahnhöfe, Fabriken. Die Arbeitslosenquote von Detroit liegt bei 18 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt von derzeit 7,6 Prozent. Die relative Zahl der Gewalttaten im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist die höchste von allen amerikanischen Großstädten. In Detroit leben heute weniger Menschen als vor hundert Jahren. Im Vergleich zur höchsten Einwohnerzahl der Stadt Mitte der fünfziger Jahre, als rund 1,9 Millionen Menschen im Stadtgebiet der boomenden „Motor City“ wohnten, ist die Bevölkerungszahl um mehr als eine Million zurückgegangen; allein zwischen 2000 und 2012 wanderten mehr als 250 000 Einwohner ab. Heute leben in Detroit nur noch 700 000 Menschen. Die Steuereinnahmen der Stadt sind zusammengeschrumpft, und auch die Zuschüsse des Bundesstaates Michigan gingen zurück, weil dessen Kassen angesichts der Krise bei den „Big Three“ der Automobilindustrie (Ford, GM und Chrysler) ebenfalls leer waren.

In keiner anderen amerikanischen Stadt sind in den vergangenen Jahren so viele Jobs verschwunden wie in Detroit. 90 Prozent der Einwohner sind Schwarze. Gerade einmal jeder vierte Schüler schafft den Highschool-Abschluss. Seit 2005 mussten wegen sinkender Schülerzahlen 67 Schulen geschlossen werden. Die Zahl der Parks ging seit 2008 um mehr als die Hälfte zurück.

Entlang der Michigan Avenue, die vom Stadtzentrum in Richtung Westen nach Dearborn führt, wo die Ford-Werke ihren Sitz haben, bedient Detroit alle Klischees vom Industriesaurier in Agonie. Die meisten Häuser und Werkhallen aus Backstein stehen leer. Sperrholzplatten sind vor Fensterhöhlen genagelt. Neben Alkoholgeschäften und Lebensmittelläden sind nur obskure Erweckungskirchen und Pfandleihhäuser geöffnet. Der klassizistische Riesenbau der „Central Station“, die 1913 als größter Bahnhof der Welt erbaut wurde und 1988 ihren letzten Zug erlebt hat, bröckelt als denkmalgeschützte Ruine vor sich hin.

Doch das ist eben nur die eine Seite der Stadt Detroit, deren lateinisches Motto „Speramus meliora, resurget cineribus“ lautet (etwa: Wir hoffen auf bessere Zeiten, mögen sie aus der Asche erstehen). Jenseits des Stadtzentrums, wo Finanzdienstleister wie Quicken Loans und zahlreiche Start-up-Unternehmen die Wende schon eingeleitet haben, soll die Erneuerung in die Brachgebiete in Zentrumsumgebung hineinstrahlen. Wenn man Dan Gilbert glaubt, wird das schneller gehen, als die meisten glauben. Am Donnerstag stellten er und andere Unternehmer einen Masterplan für die Weiterentwicklung der Innenstadt vor.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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