Kapitalismus! Kapitalismus? So einfach ist das nicht!

Mir geht es so: ich denke mir, ja, den chinesischen Aufstieg kann ich mir nicht erklären (Nach dem Beitrag von Prof. Xy, den ich auch gepostet habe, konnte ich es), aber auch bei der japanischen Erfolgsgeschichte, die ja längst keine mehr ist, bringt man das nicht in einer doch halbwegs belesene Vorstellungswelt unter. Japan gilt ja schon als kapitalistisches Land. Und Südkorea? Ok, man hätte es wissen können, lange Militärdiktatur, jetzt definiert sich das anders, aber, wenn ich es richtig im kopf habe, sind es die TÖCHTER der ehemaligen GENERÄLE, die jetzt miteinander konkurrieren. Demokratisch.

Mach sich einer einen reim draus. Ich denke mir dann immer: Prozesse sind multifaktoriell. Und dass wir es ständig auf einfache Formeln herunterbrechen, heisst nicht, dass es tatsächlich so Schlüsselfaktoren gibt. Sondern nur, dass wir uns das ganze nicht vorstellen können, wenn wir es nicht simplifizieren.

Man macht sich die Welt halt so, es fürs eigene Hirn passt.

FAZ, DIENSTAG, 17. DEZEMBER 2013
WIRTSCHAFT
Die Wurzeln von Japans Staatsschuld
Von Ikuo Hirata
Die erwachsenen Japaner nehmen in einem Vergleich unter 24 entwickelten Nationen den ersten Platz ein, wenn es um Lese- und Rechenkompetenz geht. So hat es jedenfalls eine Studie der OECD im Frühjahr ergeben. Japans Wirtschaft liegt in der Wettbewerbsfähigkeit weltweit auf Platz 9. Auf der jüngsten Liste des „Global Competivness Report“ hat sich das Land wieder verbessert, nachdem es in den Vorjahren immer weiter abgerutscht war. Diese Ranglisten zeigen, dass Japaner ein hohes Maß an Wissen und eine hohe Auffassungsgabe haben.

Das wirft eine Frage auf. Wie kann es sein, dass ein Land mit so viel Fähigkeit und Wissen mit einer so außergewöhnlich großen Schuldenlast ringt? Japan ist bald mit dem Zweieinhalbfachen seiner jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet – die höchste Last unter allen entwickelten Ländern der Erde.

Als ich kürzlich die Debatte und den Konflikt in den Vereinigten Staaten über die amerikanische Staatsverschuldung verfolgte, habe ich mich für einen Moment gefragt, ob Japan jemals in eine solche politische Lähmung geraten könnte? Meine Antwort war: nein. Im amerikanischen Kongress haben die Republikaner unnachgiebig gegen die Gesundheitsreform von Präsident Obama gekämpft. Obwohl die Republikaner – die damit 50 Millionen unversicherten Amerikanern weiterhin eine Gesundheitsversorgung verweigern – herzlos und gleichgültig gegenüber den Menschen scheinen, lehnten viele Amerikaner Obamas Pläne weiter ab. Während einer Fernsehdiskussion sagte eine Frau der konservativen Tea Party, sie fürchte, eine wachsende Staatsquote könne ihre Zukunft untergraben.

Solche Sorgen haben Japaner nicht. An solchen Debatten gibt es kein Interesse. Tetsu Watsuji (1889–1960), ein bekannter japanischer Philosoph und Historiker, hat in seinem Buch „Fudo“ (Klima und Kultur) vor 78 Jahren geschrieben, dass parlamentarische Politik von den Menschen so lange nur als Comicspektakel wahrgenommen wird, bis sie sich bewusst werden, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Erst dann fangen sie an, sich selbst zu sozialen Problemen zu verhalten. Diese Sicht Watsujis enthält bis heute einen Kern Wahrheit.

Ein Unterschied zwischen dem japanischen und dem amerikanischen politischen System liegt im gegenseitigen Wohlwollen und in dem Bestreben, dem anderen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Seit den Zeiten des Prinzen Shotoku (574–622) haben Japaner die anderen Menschen warmherzig und freundlich behandelt. Shotoku, ein großer Philosoph und Staatsmann, hat immer die Harmonie und Eintracht in den Beziehungen der Menschen betont. In Japan ist es nicht möglich, unversicherte Menschen von der medizinischen Versorgung auszuschließen. Deswegen bringen japanische Politiker auch sofort große neue Nachtragshaushalte für Konjunkturprogramme auf den Weg, wenn sie befürchten, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung abschwächt.

Dieses Streben nach Harmonie nimmt in der politischen Welt verschiedene Formen an. So vermeiden japanische Politiker schmerzhafte Sozialreformen, obwohl die sozialen Sicherungssysteme unter immensem finanziellen Druck stehen und die Kosten jährlich um rund eine Billion Yen wachsen. Das führt dazu, dass die Schulden steigen und dass die japanische Politik abhängig von der Ausgabe von Staatsanleihen ist. Das aber ist unverantwortlich gegenüber den künftigen Generationen. Die japanische Politik zeigt damit ein doppeltes Gesicht.

Die amerikanische Soziologin Ruth Benedict hat in ihrem klassischen Werk „Chrysantheme und Schwert“ die Theorie aufgestellt, dass Japan eine Kultur der Scham habe. Scham zu vermeiden ist demnach die Grundlage menschlichen Verhaltens. Benedicts Theorie erklärt, warum japanische Politiker so zurückhaltend mit Strukturreformen sind. Sie haben Angst davor, dass die Gesellschaft sie dafür ächten und Demütigungen aussetzen wird.

In seinem Buch „Amae – Freiheit in Geborgenheit“ beschreibt der japanische Psychiater Takeo Doi (1920–2009) zwischenmenschliche Beziehungen in Japan als drei konzentrische Kreise. Der innerste Kreis ist gekennzeichnet durch Amae, durch Abhängigkeit und Freiheit in Geborgenheit. Er zeigt sich in der Nachsicht der Mutter mit ihrem Kind. Der zweite Ring besteht aus Bekannten und Kollegen, zu denen es notwendige Interaktion und Verpflichtungen gibt. Der dritte Kreis besteht aus denen, die außen stehen. Generell neigten die Menschen dazu, ihnen gegenüber gleichgültig oder sogar unhöflich zu sein. Auf den Punkt gebracht: Der heutige Gesetzgeber ist gleichgültig gegenüber einer Gruppe, die er als Außenseiter empfindet: den zukünftigen Generationen.

Ikuo Hirata ist Kolumnist bei „Nikkei“, der wichtigsten Wirtschaftszeitung Japans mit einer Auflage von mehr als 3 Millionen Exemplaren.

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DIENSTAG, 17. DEZEMBER 2013
WIRTSCHAFT
Konsens statt Konflikt
Wirtschaftsdemokratie
cag. TOKIO, 16. Dezember. In einem waren sich die Opposition und die Kandidatin der Regierungspartei, Park Geun-hye, vor einem Jahr im Wahlkampf in Südkorea einig. Die „Demokratisierung der Wirtschaft“ müsse eine Kernaufgabe der neuen Regierung sein. Für Wahlsiegerin Park ist das im ersten Jahr ihrer Amtszeit eine heikle Aufgabe gewesen.

In Südkorea dominieren bis heute einige wenige große Industriekonglomerate das Wirtschaftsleben des Landes. Diese sogenannten Chaebols tragen rund 70 Prozent zur koreanischen Wirtschaftsleistung bei. Konzerne wie Samsung, Hyundai, Lotte oder LG Electronics sind erfolgreich auf den Weltmärkten und jagen seit Jahren von Erfolg zu Erfolg. Dabei beschäftigen sie gerade mal 5 Prozent der südkoreanischen Arbeitnehmer.

Die wirtschaftliche und politische Macht der Konglomerate zu brechen, ohne dabei die Wirtschaftskraft des ostasiatischen Landes zu brechen; Park hat eine Herkulesaufgabe vor sich. Sie versucht das bislang vor allem, indem sie die kleinen und mittleren Unternehmen stärker als bisher fördern will. Erst dieser Tage hat die Präsidentin in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul in einer Rede zum Außenhandel ihr politisches Programm erläutert. 3,2 Millionen kleine und mittelgroße Unternehmen gibt es in Südkorea. Nur 2,7 Prozent von ihnen exportieren ihre Produkte – doch diese wenigen Unternehmen machen das Drittel des Exports aus, die es neben den Chaebol gibt.

Die Regierung werde ihnen helfen, weiter auf den globalen Märkten zu expandieren. „Demokratisierung der Wirtschaft“ bedeutet für Park weniger, die Macht der Konglomerate zu beschneiden, kleinere Unternehmen sollten stattdessen künftig ähnlich stark gefördert werden.

Tatsächlich ist die Geschichte des wirtschaftlichen Erfolgs Südkoreas von Anfang an eng verknüpft mit der Industriepolitik des Landes. Noch in den fünfziger Jahren war der agrarische Süden das Armenhaus auf der Koreanischen Halbinsel. Die Schwerindustrie lag im kommunistischen Norden. Seoul stand vor dem Nichts. Das Bild hat sich in nur einem halben Jahrhundert grundlegend geändert.

Südkorea erntet dabei bis heute die Früchte, die ausgerechnet ein Militärdiktator gesät hat. Mit einem Putsch eroberte General Park Chung Hee 1961 die Macht. Er regierte bis 1979 und wird von vielen älteren Südkoreanern bis heute als Vater des Wirtschaftswunders in dem Land verehrt.

Dabei hat das Modell, das Südkorea als Vorbild diente, mit Marktwirtschaft im westlichen Sinne wenig zu tun. Es ist das Modell einer staatlichen Planwirtschaft nach dem Vorbild der früheren japanischen Kolonialmacht, in dem der Staat Ziele und Entwicklungen vorgibt, entscheidet, welche Industrien gefördert werden, und gleichzeitig die heimischen Unternehmen vor unliebsamen Wettbewerbern aus dem Ausland schützt. Park, der Vater der heutigen Präsidentin, förderte handverlesene, loyale Familienunternehmen. Sie beherrschen bis heute die großen Industriekonglomerate des Landes.

Diese Chaebols sind nach wie vor die Garanten für die Exportstärke des Landes. Auch deswegen setzt Park in ihrer Politik für eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ weniger auf den Konflikt mit den Konzernen als auf eine Ausweitung der Industriepolitik auf kleinere, im Export erfolgreiche Unternehmen. Dabei tun die Chaebol alles, um auch auf dem Heimatmarkt Wettbewerb zu verhindern. Je mehr sich die mächtigen Familien auch in Branchen wie Backwaren, Handel, Mode oder Kosmetik engagieren, desto schwieriger wird die Lage für die kleinen Unternehmen.

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FAZ, DIENSTAG, 17. DEZEMBER 2013
WIRTSCHAFT
Wo rote Zahlen Gewinne versprechen
Seit 30 Jahren feiert China Erfolge mit der staatlich gelenkten Marktwirtschaft. Doch die Schatten des Modells werden immer länger. Von Christian Geinitz
PEKING, 16. Dezember. In China herrscht eine andere Farbenlehre als im Westen. Der Legende nach mussten Radfahrer, Rikschas, Fußgänger und die wenigen Kraftfahrzeuge während der Kulturrevolution an grünen Ampeln halten. Erst bei Rot erhielten sie freie Fahrt. In Wirklichkeit ist dergleichen nur vereinzelt vorgekommen, wenn Rotgardisten über die Stränge schlugen, eine entsprechende Verkehrsregel hat es nie gegeben.

Allerdings gilt an Chinas Börsen bis heute ganz unabhängig von den Eskapaden der siebziger Jahre, dass rote Kursanzeigen Gewinne signalisieren und grüne Verluste. Denn im fernöstlichen Kulturraum ist das Rot seit jeher die Farbe des Glücks, der Verheißung, des Wohlstands. Traditionell trägt die Braut in China ein rotes Kleid, nicht etwa ein weißes.

Rot tut den Menschen gut im Reich der Mitte, könnte man meinen, auch das auf den Bannern der Kommunistischen Partei. Unter ihrer Führung eilt das Land von einem Erfolg zum nächsten. Es ist zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt herangewachsen, zum reichsten Devisenbesitzer, zu Amerikas größtem Gläubiger, zum wichtigsten Industriestandort, zur führenden Handelsmacht, zum entscheidenden Markt für viele Kapital- und Konsumgüter, etwa für Maschinen und Autos aus Deutschland.

Doch muss man vorsichtig sein, den Aufschwung der roten Ideologie zuzurechnen. Unter denselben Symbolen, unter derselben Partei ist die Volksrepublik nach ihrer Gründung zunächst bitterlich verarmt: durch die Enteignungen, durch die verheerende Industrialisierungskampagne im „Großen Sprung nach vorn“, der 45 Millionen Menschen das Leben kostete, schließlich durch die Kulturrevolution. Nicht der Kolonialismus, nicht Krieg und die bürgerliche Partei Kuomintang, nicht die Japaner, nicht die Industrieländer haben China in jenen Jahren ins Verderben gestürzt, sondern Mao Tse-tung und seine Partei. Dasselbe Regime, das sich rühmt – und dafür gerühmt wird –, dass es in den vergangenen 30 Jahren mindestens 300 Millionen Menschen aus der Armut befreien konnte, hatte dieses Elend zuvor 30 Jahre lang mitverursacht.

Erst nach Maos Tod, als Deng Xiaoping die Diadochenkämpfe für sich entschieden hatte, ging es mit Rot-China wirtschaftlich voran. Deng drehte die sozialistische Politik der Vergesellschaftung in vielen Feldern zurück und setzte auf individuelle statt kollektive Verantwortung. Eine Landreform gab die Agrarflächen der Volkskommunen zurück an die Kleinbauern. In der städtischen Industrie trat neben die Planwirtschaft ein marktbasiertes Anreizmodell. Staatsbetriebe, die ihr Soll übererfüllten, durften zusätzliche Produkte zu mehr oder minder freien Preisen verkaufen. Die Bevölkerung litt künftig weniger unter dem Mangel. In den achtziger Jahren wurden die wichtigsten Preise dann ganz freigegeben.

Auch ließ Deng private Unternehmen zu und gewährte auswärtigen Investoren Zugang zu dem riesigen Markt, vor allem den Hongkong-Chinesen und Taiwanern. Diese Öffnung erfolgte in sogenannten Sonderwirtschaftszonen. Deren erste und berühmteste ist Shenzhen nördlich von Hongkong, ursprünglich ein Fischerdorf, das heute 11 Millionen Einwohner zählt. Deng interpretierte den Sozialismus so, dass eine Gesellschaft dann kollektiv wohlhabend und in diesem Reichtum letztlich klassenlos werde, wenn sie das zunächst jedem Einzelnen ermögliche.

Seine programmatischen Bonmots dazu sind Legende, etwa: „Reichwerden ist glorreich“ oder die anschauliche Gegenüberstellung kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftspolitik: „Es ist nicht wichtig, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse.“

Deng war kein Gutmensch, sondern ein Machtmensch. Mehrfach abserviert in der Mao-Zeit, kam er immer wieder auf die Beine. In seiner einflussreichsten Zeit herrschte er indirekt, ohne ein hohes Amt innezuhaben, stets jedoch entledigte er sich derer, die seinem Führungsanspruch gefährlich wurden. Dazu gehörten die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Aus der Starre nach dem Massaker von 1989, die dem Land das schwächste Wachstum in Jahrzehnten eintrug, erholte sich China schon bald. Nicht zuletzt dank Dengs „Reise in den Süden“ 1992, als er eine weitere ökonomische Öffnung ankündigte. Mitte der neunziger Jahre übertraf der Beitrag der Privatwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) erstmals den der Staatskonzerne.

Nach Dengs Tod 1997 trieben die von ihm eingesetzten Nachfolger Jiang Zemin und Zhu Rongji das Modell des „Sozialismus chinesischer Prägung“ weiter. Wiederum gingen sie zweigleisig vor: Bis auf wenige (gleichwohl entscheidende) Branchen wurden alle Staatskonglomerate privatisiert. Zugleich öffnete sich die Volksrepublik durch den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 immer stärker für ausländische Investoren und für den Welthandel. Seitdem ist das BIP jedes Jahr im Durchschnitt um 10,2 Prozent gewachsen. In der westlichen Welt hat es nicht einmal um 2 Prozent zugelegt – nicht zuletzt als Folge der Terroranschläge desselben Jahres und der sich anschließenden teuren Kriege.

Peking hat es verstanden, die Marktkräfte freizusetzen und trotzdem die Zügel in der Hand zu behalten. Planwirtschaft, Dirigismus und Staatskontrolle sind mitnichten verschwunden. Öffentliche Banken und Schlüsselindustrien – etwa in der Energie- und Rohstoffwirtschaft oder in der Telekommunikation – haben Oligopole inne. Ausländische Investoren dürfen nur in definierte Branchen einsteigen und müssen in manchen Industrien Zwangs-Joint-Ventures eingehen. Die Regulierungs-, Zulassungs- und Aufsichtsbehörden regieren bis in die Betriebe hinein. Die allgegenwärtigen Fünfjahrespläne legen zwar nicht länger Preise und Absatz fest, wohl aber detaillierte Entwicklungsziele.

Die letzten Reste der Abschottung haben sich bewährt, vor allem während der Finanzkrisen der vergangenen Jahre. Bis heute versorgen die staatlich vorgegebenen Zinsen die Banken mit hohen Margen, die es überflüssig machen, sich an riskanten internationalen Anlageprodukten zu versuchen. Die Kapitalverkehrskontrollen wehren spekulative Zu- und Abflüsse ab. Zwischenzeitlich band die Zentralbank den Renminbi fest an den Dollar. Dadurch blieb er unterbewertet, was den Ausfuhrbetrieben Preisvorteile auf den Weltmärkten verschaffte. Mitten in der Krise konnte die Volksrepublik die Bundesrepublik als Exportweltmeister ablösen und Japan von Platz zwei der größten Volkswirtschaften verdrängen.

Um die Effekte der Krise zu minimieren, legte Peking das größte Konjunkturpaket aller Zeiten von fast 500 Milliarden Euro auf. Die Staatsbanken wurden angewiesen, Kredite über 8500 Milliarden Euro auszureichen. So schaffte man es, die Verwerfungen abzuwehren und wie nebenbei die Weltkonjunktur zu stützen. Doch der Interventionismus trug den Chinesen viele Belastungen ein, unter denen sie bis heute leiden. Die künstliche Wirtschaftsbelebung trieb die Kommunen in die Überschuldung, schuf Überkapazitäten in Infrastruktur und Staatskonzernen.

Die Politik des billigen Geldes fachte die Inflation an, blähte eine Spekulationsblase am Immobilienmarkt auf, zwang die Wirtschaft in die Abhängigkeit von immer neuen Krediten, führte zur Gründung von Schattenbanken und unkontrollierten Anlageprodukten und hat das Ausfallrisiko fauler Kredite erhöht.

Die neue Führung steht vor der Aufgabe, diese Gefahren aus der Vergangenheit entschärfen und das Land zugleich fitmachen zu müssen für die Zukunft. Die soeben beendete Wirtschaftstagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gibt die Marschrichtung vor. Nach den Reformen von Deng Xiaoping sowie von Jiang Zemin und Zhu Rongji will man eine dritte Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung einleiten, die den Vorläufern in nichts nachstehen soll.

Doch eines geht aus den Entscheidungen des ZK auch klar hervor: An der Vorherrschaft der Kommunistischen Partei will die neue Herrscherclique so wenig ändern wie alle ihre Vorgänger. In Abwandlung des berühmten Ausspruchs von Willy Brandt ließe sich die seit 1978 verfolgte Strategie so zusammenfassen: China will zwar immer mehr Markt wagen, nicht aber mehr Demokratie.

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DIENSTAG, 17. DEZEMBER 2013
WIRTSCHAFT
Neue Sprüche für alte Rezepte
Japan setzt auf Industriepolitik / Von Carsten Germis
cag. TOKIO, 16. Dezember. Es war einer dieser Empfänge, bei denen Japans Wirtschaftsführer mit den Spitzenbürokraten des Industrieministeriums ihre neuen gemeinsamen Projekte feiern. Sie stießen mit ihren Gläsern an auf den neuen „Cool Japan“-Fonds, mit dem die japanische Regierung den Export der heimischen Mode, der heimischen Lebensmittel und der heimischen Popkultur von Manga über Spieleroboter bis hin zur Musik stärker fördern will. Die Regierung stützt den Fonds mit rund 50 Millionen Yen (knapp 400 Millionen Euro), Banken und private Unternehmen zahlen 7,5 Milliarden Yen ein.

Im kleinen Rahmen wiederholt die neue japanische Regierung damit Strategien, mit denen sie in den sechziger und siebziger Jahren den Export japanischer Produkte wie Autos oder Halbleiter unterstützte – staatliche Subventionen zur Förderung der eigenen Unternehmen bei gleichzeitiger Abschottung des Hei-matmarktes haben in dem ostasiatischen Land eine lange Tradition.

Japans Regierungschef träume davon, mit industriepolitischen Maßnahmen an die Erfolge der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts anzuknüpfen, erklärt die Wirtschaftsprofessorin Noriko Hama, eine der wenigen Hochschullehrer im Lande, die offen Kritik an der Politik des Regierungschefs Shinzo Abe üben. Der unterstütze vor allem die exportorientierte Großindustrie. Aggressive Geldpolitik, welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Exportunternehmen erhöht, Subventionen, mit denen nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen am Leben erhalten werden, staatliche Planungsziele – mit Abe sei Japan zurück auf dem Weg zur Industriepolitik alter Zeiten, sagt Hama.

Dabei hat seit langem kein japanischer Ministerpräsident mehr so viel von Strukturreformen und Wettbewerb gesprochen wie Abe. Bis Dezember werde er die lange überfälligen Strukturreformen durch das Parlament bringen, hatte er noch im Spätsommer angekündigt. Passiert ist wenig – und wenig deutet darauf hin, dass sich Abe noch an die notwendigen Reformen wagt, über die im Land seit bald zwei Jahrzehnten debattiert wird.

Gerade Abes Regierungspartei, die Liberaldemokraten (LDP), hat eine lange Tradition darin, mit staatlichen Subventionen alte Strukturen am Leben zu erhalten und notwendigen, aber auch schmerzhaften Wandel zu verzögern. Politiker der LDP und die Mehrzahl der Unternehmen sind sich einig, Japan als Industriestandort mit dieser Politik vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Japans Monizukuri – ein Selbstbild der japanischen Industrie, das gern mit dem deutschen „Meistersystem“ verglichen wird – müsse um jeden Preis verteidigt werden. Schon 2009 hatte die Regierung – auch damals unter Führung der LDP – dazu den halbstaatlichen Investmentfonds Innovation Network of Japan (INCJ) gegründet, an dem die Privatwirtschaft zwar beteiligt ist, der aber überwiegend vom Staat finanziert wird.

Schon unter der Vorgängerregierung hatte ein japanisches Firmenkonsortium unter Führung des INCJ den finanziell angeschlagenen Chiphersteller Renesas Electronics gerettet. Ziel der Aktion war es, mit Renesas den letzten großen Chiphersteller in Japan zu erhalten und zu verhindern, dass das Unternehmen in die Hände des amerikanischen Finanzinvestors KKR fällt. Das Konsortium unter Führung des Staatsfonds plante nach Angaben japanischer Medien, mit 100 Milliarden Yen bei Renesas einzusteigen und die Mehrheit zu übernehmen. Zum Konsortium gehören Unternehmen wie der Automobilkonzern Toyota und der Elektrokonzern Panasonic, für die Renesas ein wichtiger Zulieferer ist. KKR wolle Renesas „nur zerschlagen und Geld machen“, hieß es.

Japans Regierung versucht mit dieser Art von Industriepolitik nicht nur, kriselnde Exportunternehmen zu unterstützen und am Markt nicht mehr wettbewerbsfähige Sparten am Leben zu halten. Sie schützt mit dem „System der alten Meister“ auch das Heer japanischer Zulieferunternehmen, die von den japanischen Konzernen abhängen, die auf dem Weltmarkt agieren. Sie selbst sind aber oft global kaum konkurrenzfähig.

INCJ hat den Elektrokonzernen Sony, Hitachi, Toshiba und Panasonic deswegen auch mit einer Finanzspritze von umgerechnet zwei Milliarden Euro der verbliebenen japanischen Fabriken für kleine und mittlere Flachbildschirme abgenommen, die gegen ihre südkoreani-schen Wettbewerber wie Samsung der LG Electronics nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Unter der Führung des Staatsfonds ist die neue „Japan Display“ jetzt erst einmal Weltmarktführer. Doch es ist ungewiss, wie lange die Regierung in Tokio mit dieser Art von Industriepolitik ihre Politik der Konservierung nicht mehr wettbewerbsfähiger Strukturen noch fortsetzen kann.

Mit der Regierung Abe haben das Finanz- und das Industrieministerium wieder an Bedeutung gewonnen – allen Bekenntnissen zum Markt zum Trotz. In den Boomjahren der japanischen Wirtschaft spielte staatliche Industriepolitik eine zentrale Rolle. Daran will Abe anknüpfen, auch wenn er öffentlich gerne von Strukturreformen spricht. Die Papiere zu Strukturreformen im Rahmen der nach dem Regierungschef benannten „Abenomics“ lesen sich wie ein Fünfjahresplan staatlicher Industrieplanung und nicht wie ein Programm für den Abbau von struktureller Verkrustung.

Viele der international bejubelten Veränderungen in Japan gibt es bislang nur an der Oberfläche. Die aggressive Geldpolitik der Notenbank schwächt den Yen, erhöht damit die Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Exportindustrie und stärkt über den Boom an den Aktienmärkten die Binnennachfrage. Die notwendigen Reformen versucht aber auch Abe – der damit ganz in der Tradition der LDP-Politik der vergangenen Jahrzehnte steht – mit den alten Rezepten zu ersetzen: lockere Geldpolitik, üppige staatliche Konjunkturprogramme und staatliche Industrieplanung mit großzügigen Subventionen.

Einige seiner Unterstützer haben sich in den vergangenen Wochen vom Regierungschef und seiner Politik im Zorn wieder abgewendet. Einer von ihnen ist Hiroshi Mikitani, der Chef des japani-schen Online-Händlers Rakuten. Mikitani ist einer der großen Kritiker des klassischen Prinzips japanischer Wirtschaftspolitik, bedrohte Industrien mit großzügigen Subventionen zu unterstützen und den Unternehmen und den Menschen jeden Anreiz zu Veränderungen und zu Innovation zu nehmen. Seit einigen Wochen nun glaubt auch Mikitani nicht mehr, dass die Abenomics am Ende wirklich zu mehr Wettbewerb und Transparenz in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt führen wird. Die Besucher des Empfangs von „Cool Japan“ haben solche Zweifel nicht gezeigt.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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