Reflexhafte Reaktionen der Europäischen Union sind auf das Votum der Schweizer Wählerschaft überwiegend zu vernehmen. Man droht, jetzt hart zurückzuschlagen.
Alles albern, alles Blödsinn, wenngleich gefährlicher Blödsinn. Worum geht es?
Einmal ist es so, wenn das Volk entscheidet, entscheidet es. Dann kann man sich fragen, warum ein Land, das boomt, sich den Boden unter den Füssen wegziehen will, auf dem es steht. Die Schweiz punktet mit niedrigen Unternehmenssteuern, attraktiver Lage und einer nach wie vor friedlichen Inselsituation.
Politik ist aber Interessensausgleich. Und die Kehrseiten der Zuwanderung sind steigende Mieten, zunehmende Teuerungsrate, neues Bauland und und und.
Was soll daran falsch sein, wenn ein Land sagt, nein, das wollen wir nicht einfach so hinnehmen, wir wollen die Hoheit über unsere Grenzen wieder.
Rückgewinnung der Steuerbarkeit. Am Sonntag sagte eine Schweizerin im ARD Straßeninterview, nein, das ginge nicht gegen die Einwanderer sondern gegen die Politiker, die sich weigern, von sich aus tätig zu werden.
So wird ein Schuh draus.
Jetzt lese ich in der Zeitung, dass der Chef des Bundesverbandes Groß und Einzelhandels der Politik empfiehlt, den Menschen den Nutzen von Einwanderung zu erklären.
Wenn es so einfach wäre.
Das haben sie sicher getan. Was ist aber, wenn die Wähler selber abwägen. Wenn sie sagen, Mensch, Wachstum ist gut, aber die Balance geht verloren. Und um die Balance zwischen Wachstum und Einwanderung wieder herzustellen, müssen wir einen politischen Rahmen setzen.
Wäre das falsch oder widersinnig? Armutswanderung bleibt in der Schweiz ohnehin außen vor.
Es geht um die Wiedergewinnung politischer Gestaltungsmacht. Politiker präferieren da konfliktfreie Lösungen, deswegen reden sie wie die Einäugigen, von den Vorzügen von Offenheit und Freizügigkeit. Die Bürgerinnen und Bürger können aber die Nachteile auch erkennen, der Zuwachs an Spaltung, wie das mit dem Gefühl des „Fremden“ ist, weiß ich nicht. Aber jedenfalls geht es um das Reframing der ganzen Diskussion.
Auch in der EU übrigens. Nach der Zeit blindwütigen „Haut die Grenzen weg, alles soll sich auf einen alternativlosen Wachstumspfad begeben“ ist eine neue Zeitrechnung angebrochen. Es geht um das Verhältnis des Nationalen zum Europäischen. Ja, das lässt sich jetzt noch nicht vorstellen, aber politisch muss man der Atemlosigkeit, in der Europa wie im Rausch vorangetrieben worden ist, jetzt das Momentum der Steuerbarkeit entgegensetzen. Länder wie Portugal und Spanien, die über eine kürzere demokratische Tradition verfügen, müssen auch innehalten können. Länder, die sich gehetzt, verfolgt fühlen, werden keine guten Europäer. Und dann müssen sich Ökonomien auch wieder konstituieren können. Haben die europäischen Milliarden tatsächlich einen Schub in Richtung Wachstum gebracht? Ja, haben sie, aber für den Preis wachsender Korruption. Es geht darum, sich ein differenziertes Modell vorzustellen, in dem sich auch aus den Ländern heraus neue Geschäftsmodelle, Unternehmen entwickeln können und nicht nur Filialisten nordischer und mitteleuropäischer Unternehmen. Es geht um Entwicklung aus sich heraus, es geht darum, die Atemlosigkeit, die Alternativlosigkeit in der europäischen Entwicklung herauszunehmen, die Wiedergewinnung der Gestaltungskraft. Ja, das wird komplexer dann alles. Aber wer lieblos und ohne Rücksicht auf Mentalitäten einen europäischen Einigungsprozess ohne die Europäer vorantreiben will, der hat ohnehin schon verloren.