Leadership 2.0. Die Tage des Cem Özdemir.
23. November 2015 von Nikolaus
Zumeist bin ich ja eher ungnädig mit den Grünen. Ich finde, es liegt auf der Hand, wie sie tatsächlich die Welt verändern und die Wahlergebnisse auf baden-württembergisches Niveau bringen könnten: Indem sie aufhören, sich und anderen zu suggerieren, es gäbe einen Plan für Transformation. Sondern indem sie wach, fragend, debattierend und Prioritäten setzend die nächsten Schritte tun. Die Fragehaltung ist dabei: Was müssen wir tun, um in der globalen Klimapolitik voran zu kommen und gleichzeitig das Wohlergehen und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu erhalten und zu erneuern.
Vor diesem Hintergrund ärgert mich, dass diese Reflektion nicht offen und rational stattfindet. Auf der anderen Seite hatte ich schon nach der letzten BDK konstatiert, dass die Fähigkeit zur differenzierten Debatte zunimmt.
Warum ich diesen Parteitag als einen ganz großen Schritt nach vorne betrachte?
Die Grünen haben sich bisher immer ein bisschen aus der Realität gebeamt. Programm als Realitätsschutzkokon. Jetzt, da die Realität über die Flüchtlingsfrage mit einer Brutalität in das “Heile Welt”-Deutschland einbricht, bleiben sie stehen. Sie verstehen, dass es wichtiger ist, Angela Merkel und den Abwägern den Rücken zu stärken, als sich in die “Welcome Refugee-Heile Welt” zurück zu beamen. Eine große Leistung.
Es war ein langer und nicht zu planender Weg. Es spielt dabei eine große Rolle, dass Grüne in neun Ländern an der Regierung sind. Auch da gibt’s sichtbare und weniger sichtbare Regierungen, aber was die Regierungsgrünen, und das ist eine echte Stärke ausmacht, ist, dass sie Respekt vor dem Regieren haben. Dass sie die Mund nicht so voll nehmen. Dass sie voller Demut Regieren lernen wollen.
Grüne Bundesversammlungen waren bisher oft ein Hort grüner Selbstisolation. Lange Jahre waren Parteitage so, dass sie, aus Realoperspektive, nur durch echte Machos, Joschka, oder durch taktisches Wegducken, also die meiste andere Zeit, einigermaßen glimpflich ausgingen.
Seit einem bis zwei Jahren ist das anders. Da erlebe ich plötzlich Parteitage, in denen die realpolitische Seite mit wachsendem und realistischem Selbstbewußtsein auftreten (Auch bei den Linken gibt es übrigens einige sehr kluge und wache Junge. Aber sie brauchen noch, um sich von Jürgens Schatten zu befreien).
Da gibt es einige ganz starke Führungsfiguren, Winfried Kretschmann, Cem Özdemir, Tarek al-Wazir, Robert Habeck, die klug sind und ganz hervorragende Redner. (Selbstkritische Frage: Bin ich so machomäßig oder ist es tatsächlich so, dass die Frauen derzeit nicht so starke Führungsfiguren sind?) Da gibt es aber auch, und das sieht man von außen nicht so, eine debattenstarke interne Kultur, das ist vor allem das Verdienst von Dieter Janecek und Ekin Deligöz, die Stomlinienförmigkeit nicht als Ziel betrachten, sondern dabei sind, eine handlungsfähige Debattenkultur zu installieren. Nur dauert das halt.
Von außen betrachtet, war bisher ja schon die Frage, wer führt eigentlich die Partei? Diese Frage ist nach dem letzten Parteitag eindeutig geklärt:
Cem Özdemir.
Es gab noch nie einen Parteitag, an dem eine einzelne Person mit drei in allen Punkten überzeugenden Reden einen Parteitag für sich gewinnen konnte.
Cem Özdemir ist das gelungen. Er findet den Sound, der sowohl die eigenen Delegierten anspricht wie auch den Rest der Republik.
Sorry, Robert.
Die Stärke der Rede Cems am Freitag (und ich kann allen nur empfehlen, sie nochmals anzuhören) ist, dass er auf ganz einfache, aber überzeugende Weise eine “gutmenschliche”, immer etwas naiv klingende Haltung der Grünen (Welcome, Refugee; – und jetzt??) übersetzt hat in eine Politik weltbürgerlicher Verantwortung.
Diese Rede ist kein Zufallsprodukt. Diese Rede ist Ausdruck davon, dass eine Person die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.
Cem ist von seiner Biographie her anders als wir anderen Grünen (also zumindest anders als die allermeisten Mittelschichtsdeutschen). Wenn Naika Foroutan von hybrider Identität spricht, beschreibt sie, was bei Cem sichtbar wird: Man sieht unverstellter, wohin sich die Welt bewegt, wenn man biographisch die Risse der Welt in sich trägt und gut damit umgegangen ist.
Cems Rede war die Rede eines Europäers in weltbürgerlicher Verantwortung.
Sie hat deutlich gemacht, dass die Lösungen für die Welt von Morgen nicht mehr vom Westen alleine erzwungen werden können, aber der Westen einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten kann, wenn er sich endlich ernst nimmt.
Ernst nehmen, heißt auch, über die Folgen seines Handelns (z.B. Saudi-Arabien) zu sprechen.
Ernst nehmen, heißt auch, zu konstatieren, dass globale Konfliktlösung nur im Austausch der Religionen und Kulturen erfolgen kann.
Ernst nehmen heißt aber auch, dass der Westen seinen Stall, Guantanamo, Snowden aufräumt, sprich, die Alltagsfähigkeit seiner Werte erst unter Beweis stellen muss, bevor andere ihn als Verhandlungspartner ernst nehmen.
Ernst nehmen heißt aber auch, dass die Grünen aufhören können, an Programme zu glauben. Stattdessen sollten sie Haltung zeigen (das aber kann sich nur in Konflikten beweisen). Sie kennen die Richtung und die Fragestellung:
Was können wir von hier aus tun, um Politik in weltbürgerlicher Verantwortung voranzutreiben.
Es war Cems Parteitag.
Die meisten Journalisten haben noch nicht begriffen, wie epochal dieser Parteitag war. Die einen mühen sich an verschwurbelten Beschlüssen ab. Die anderen, schlicht gestrickt, machen Strichlisten, wo Fundis, wo Realos gepunktet haben.
Was eine Partei will, muss man spüren. Ich habe wahrgenommen, dass eine Partei wie elektrisiert war, als Cem über Flüchtlinge, den Nahen Osten, die Verantwortung und die Widersprüche des Westens gesprochen hat. Es war mit den Händen zu greifen, dass diese Rede, dieser Blickwinkel ein neuer war. Und dass er flügelübergreifend Zuspruch gefunden hat.
Es ist die Ironie der Geschichte: Die ostdeutsche Angela Merkel musste die Restbestände in die Jahre gekommener konservativer Identität (lebenslange Treueschwüre, dreigliedriges Schulsystem und anderer überkommener Mist) beiseite fegen, um Deutschland weltoffen zu machen. Jetzt erscheint uns der Sohn anatolischer Eltern als der Richtige, um diesen Weg Deutschlands in die Welt fortzusetzen.
Es ist an den Grünen, der Partei der biodeutschen Linksintellektuellen, zu akzeptieren, dass es dieses Plus an gelebter Erfahrung Cems ist, die ihn zum grünen “Leader in Spe” machen. Wenn jetzt der Sohn anatolischer Eltern, der dank eines liebenden Elternhauses und der Offenheit der Menschen, denen er in seiner Kindheit und Jugend begegnet ist und der dank eigener Tüchtigkeit seinen Weg gegangen ist, seine Fehler gemacht hat, aus seinen Fehlern gelernt hat, die Rolle als neuer Führungsmann der Grünen einnimmt, ist das die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit in der richtigen Partei.
Wäre übrigens schade, wenn Robert Habeck daran Schaden nehmen würde.
P.S. Wenn jetzt wieder alberne Journalistenfragen kommen, wann Cem seine Spitzenkandidatur erklärt: Leadership bedeutet, dass man das selbst entscheidet. Zu dem Zeitpunkt, an dem man das als richtig empfindet.