Die Benennung der neuen europäischen Kommission ist eine interessante Sache. Ob sie zu mehr Demokratie beitragen wird, bleibt abzuwarten. Erst einmal bedeutet sie ein neues System von Checks and Ballances. Das Europäische Parlament bekommt mehr Macht. Der Kommissar wird wichtiger.
Skeptisch stimmt mich, ob dabei tatsächlich mehr Demokratie herauskommt. Denn das Interesse der Bürger, die Rechenschaftslegung der Abgeordneten, das Abstimmungsverhalten im Parlament und die Delegation von Verantwortung an eine große, nicht verantwortungsfähige Institution wie das europäische Parlament führt zu Entscheidungen, bei der die ursprüngliche Intention, nämlich, ob die entsprechende Maßnahme tatsächlich Wirkung entfaltet, im Strudel der nachfolgenden Kompromißbildung untergeht. Wenn, so meine These, nicht letztlich eine Person, eine Regierung abgewählt werden kann und hinter dieser Abwahl auch eine klar identifizierbare Botschaft steckt, wenn die Motivbündel der Abwahl klar zu benennen sind (und zwar aus politischen Motiven, nicht aus einer Summe von nationalen Umverteilungsmotiven heraus), erst dann ist Demokratisierung eine rationale Strategie. Das andere Argument gegen wachsende europäische Demokratisierung: Die Entschleunigung von Entscheidungen. Aber damit beschäftigen wir uns ein andermal.
Der Beitrag in der SZ
Ein interessanter Artikel aus der App der Süddeutschen Zeitung:
Meinung, 10.10.2014
Jean-Claude Juncker
Europas Premier
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Von Daniel Brössler
Anders als die Medizin kennt die Politik für neue Rezepte normalerweise keine Laborphase. Sie kommen direkt am lebenden Objekt zum Einsatz. In der Europäischen Union gibt es eine kleine Ausnahme. Der Wahl der EU-Kommission gehen Anhörungen aller Kommissare voraus. Sie werden von den Abgeordneten auf Eignung und Integrität geprüft. Zwei Wochen lang hat sich dieses Verfahren nun entfaltet mit dem Resultat, dass eine einzige der 27 Kandidatinnen und Kandidaten durchgefallen ist – was keine Überraschung darstellte. Als aufschlussreich erwies sich die Prüfungsphase aus einem anderen Grund. Sie hat die neuen Verhältnisse in Brüssel offenbart und wie sie wirken. Es ist nun etwas klarer, was von Jean-Claude Juncker, der als politischer Kommissionspräsident antritt, zu erwarten ist. Und ob das Anlass zur Sorge gibt.
Die Juncker-Kommission ist ein Novum in der Geschichte der EU, weil das Europäische Parlament einen direkten Zusammenhang zwischen Europawahl und der Berufung des Kommissionspräsidenten erzwungen hat. Juncker betrachtet weniger die nationalen Regierungen als seine Arbeitgeber, denn die Volksvertreter. Daraus schöpft er Legitimität – und Macht. Juncker ist ein Chef der obersten EU-Behörde, der sich gerade nicht als Behördenchef sieht. Er hat ein Wachstumsversprechen abgegeben, den Ausbau des Binnenmarkts postuliert und eine Energieunion angemahnt. Juncker will die EU nicht verwalten, sondern regieren. Als erster Kommissionspräsident stützt er sich dabei auf eine fast schon formelle Regierungsmehrheit aus Christ- und Sozialdemokraten im Parlament. Verkörpert wird diese große Koalition durch ihn selbst als Christsozialen und seinen sozialdemokratischen Stellvertreter, den Niederländer Frans Timmermans.
Der Kommissionschef will die EU regieren, nicht nur verwalten
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Für Juncker waren die Anhörungen daher in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zunächst musste er wissen, ob sich die Kommissare seiner Richtlinienkompetenz fügen. Deshalb war es so wichtig, dass die künftige Handelskommissarin Cecilia Malmström Junckers Diktum gegen Schiedsgerichte im geplanten Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP zumindest nicht direkt widersprach. Und deshalb war von Bedeutung, dass der designierte Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn die Vorgabe einer fünfjährigen Pause bei der EU-Erweiterung nicht unterlief.
Auf der anderen Seite musste sich erweisen, ob Junckers Machtbasis im Parlament trägt. Christdemokraten und Sozialdemokraten, unterstützt von den Liberalen, sind ein Bündnis eingegangen, dass dem siegreichen Spitzenkandidaten Juncker den Weg ins Amt des Kommissionspräsidenten ebnete. Übersetzt in die Sprache einer nationalen Demokratie, ging es um die Disziplin in der Koalition. Diese Disziplin hat verlangt, dass sich die Sozialdemokraten letztlich mit dem Spanier Miguel Arias Cañete abfinden, obwohl auch sie dessen Verbindungen in die Ölindustrie für kaum vereinbar halten mit der Aufgabe des Energiekommissars. Und es hat dazu geführt, dass die Christdemokraten Pierre Moscovici als Währungskommissar akzeptieren mussten, obwohl der frühere französische Finanzminister bestens in ihr Feindbild vom Haushaltsverschwender passt.
Auch künftig kennt Junckers Macht Grenzen
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Koalitionsdisziplin ist im Europäischen Parlament neu und vermutlich wenig verlässlich. Bisher war das Haus eher geprägt gewesen durch den losen Zusammenhalt der proeuropäischen Kräfte und von wechselnden Zweckbündnissen. Das entsprach sowohl der nationalen und politischen Buntheit des Parlaments als auch einem bedeutsamen Unterschied zu nationalen Volksvertretungen. Es teilte sich eben nicht in Regierungsmehrheit und Opposition. Schon deshalb nicht, weil die EU keine Regierung hat, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen Rechnung trägt. Daran hat sich nichts geändert. Die Kommissare werden immer noch von den nationalen Regierungen entsandt. Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament spielt dabei keine Rolle, weshalb Sozialdemokraten in der Kommission klar unterrepräsentiert sind.
Juncker hat bisher deutlich gemacht, was sich alles geändert hat im Machtzentrum der EU. Er sollte dabei nicht vergessen, was sich alles nicht geändert hat. Schon die nächsten Gesetzesvorhaben werden zeigen, wie wenig sich Europaparlamentarier auf Disziplin verpflichten lassen. Und bei kommenden Gipfeln werden die Staats- und Regierungschefs Juncker spüren lassen, dass sie sich sehr wohl als seine Arbeit- und Auftraggeber verstehen. Auch künftig kennt die Macht des Kommissionspräsidenten viele Grenzen. Juncker kann dennoch versuchen zu regieren. Wenn er aber versucht durchzuregieren, wird er scheitern.
Daniel Brössler
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Daniel Brössler, Jahrgang 1969, studierte in München sowie Washington Journalistik und ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München. 1993 berichtete er für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) aus Bratislava. 1996 übernahm er die Leitung des dpa-Büros in Warschau und wechselte 1999 in die außenpolitische Redaktion der Süddeutschen Zeitung nach München. Dort betreute er die Berichterstattung aus Mittel- und Osteuropa. Von 2004 bis 2008 war er Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Moskau. Im Anschluss berichtete er als Mitglied der Parlamentsredaktion der Süddeutschen Zeitung aus Berlin unter anderem über deutsche Außenpolitik. Seit Januar 2014 ist er Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Brüssel. Dort beobachtet er die EU und die Nato.