Mehr Joschka, lieber Robert!

Am 15.02.2024 haben die untenstehenden Mitglieder von Bündnis 90/DIE GRÜNEN einen offenen Brief an ihre Parteiführung und Mandatsträger gerichtet. Wir waren in Sorge, dass die Ampel weiter falsch abbiegt. Die Bestandsanalyse bleibt weiter richtig. Aber die innergrünen Debatten weisen darauf hin, dass auch unsere eigene Partei nichts gelernt hat. Und es fehlt ein Machtwort des Spitzenkandidaten.

Schade eigentlich!

Nikolaus Huss, Uschi Eid, Rainer Lagemann, Jürgen Roth, Ulrich Martin Drescher, Franz Untersteller, Gerhard Sauer, Winfried Karls, Herbert Rödling, Dr. Marlene Klatt, Ewald Groth, Christian Sandau, Robert Levin, Roland Kopetsch, Tom Aurnhammer

15.02.2024

Einige gravierende Ereignisse in den letzten Wochen zwingen uns, innezuhalten, über den politischen Standort unserer Partei nachzudenken und ohne Scheuklappen über mögliche programmatische Konsequenzen zu reflektieren. Die zunehmende Zustimmung zur AfD hat erfreulicherweise das bürgergesellschaftliche Engagement der gesellschaftlichen Mitte mobilisiert.

Aber uns beschäftigt die Frage, warum wir und die anderen etablierten Parteien das Vertrauen so vieler Menschen verloren haben? Und wie wir es wiedergewinnen können.

Eine Einladung zur Diskussion.

“Kampf gegen rechts” ist das Motto, mit dem jetzt, nach den Recherchen von CORRECTIV über die Verbindung von AfD mit dem offen rechtsradikalen Spektrum, zu Demonstrationen aufgerufen wird. Ein wichtiger Schritt, denn die Auseinandersetzungen über die Richtung der Politik kann nicht von den Parteien allein geführt werden. Allerdings ist zu erkennen, dass das rechts-konservative Spektrum zu unserer lebendigen Demokratie gehört.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Welche Werte vertreten wir? Und wie? Wie wollen wir Wohlergehen für uns, Deutschland, Europa, wie wollen wir die Klima-und Ressourcenfragen der Welt mit dem Aufstieg (und dem Aufstiegswillen) anderer Weltregionen unter einen Hut bringen?

Alle diese Fragen können nicht am grünen Tisch erledigt werden, sondern mit den richtigen politischen Rahmensetzungen, Tag für Tag durch unternehmerische Entscheidungen und das berufliche und private Denken und Handeln der Menschen in unserer Gesellschaft.

Die Auseinandersetzung mit der AfD kann die Frage nach unserem eigenen Vertrauensverlust nicht ersetzen

Die spontane Reaktion der Bürgerinnen und Bürger auf das Treffen rechtsextremer Gesinnungsgenossen in Potsdam ist ein wichtiger Weckruf für die gesamte Bevölkerung. Trotzdem sind wir in Sorge, dass die Beschäftigung mit den neuen und alten Nazis die Frage in den Hintergrund rückt, warum wir in so kurzer Zeit das Vertrauen so vieler Menschen verloren haben. Wir, die Ampel, und vorrangig auch wir, Bündnis 90/Die Grünen.

Wir Grünen haben es in Regierungsverantwortung geschafft, unser Potential zu halbieren. Und, noch bedenklicher: Viele Bürgerinnen und Bürger, Künstlerinnen, Intellektuelle, Manager, Entscheider, Multiplikatoren und Meinungsmacher also, zeigen sich tief enttäuscht.

Unser Anspruch ist es, die Kanzlerin, den Kanzler zu stellen. Wir wollten ein gesamtgesellschaftliches Zukunftsversprechen formulieren und umsetzen. Aber nie waren wir weiter weg davon als heute.

Die Merkel-Ära altert nicht gut

Die Ampel hat es nicht leicht. In rasender Geschwindigkeit hat sich der Glanz der Merkel- Ära verflüchtigt. Die intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit von Angela Merkel, ihre persönliche Redlichkeit und Bescheidenheit, ihre beachtliche persönliche Leistung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dieser Zeit, ermöglicht durch günstige Energieimporte aus Russland, Konflikte mit finanziellen Mittel zugeschüttet wurden und Weichenstellungen vermieden wurden.

Die Aufgabe also, vom Reden ins Handeln zu kommen, war und ist riesig!

Reden ist wichtig. Aber vor allem das Reden, das zum Handeln führt!

Und wenn wir, im “Kampf gegen Rechts”-Modus meinen, verschärfte Wortradikalität würde helfen, drohen wir, in den Strudel der Bedeutungslosigkeit hineinzugeraten, in dem LINKE und SPD längst gefangen sind. Unsere Schnelldiagnose: Die Gesellschaft ist genervt von hermetischen Umbau- und Transformationsprogrammen, die der Gesellschaft einfach übergestülpt werden sollen.

Aber so funktioniert es nicht! Denn die Gesellschaft ist wie die Wirtschaft, lebendig und immer in Bewegung!

Es liegt nicht nur an der Kommunikation

Eine der beliebtesten Ausreden, die Regierung hätte nicht genügend kommuniziert, können wir getrost beiseiteschieben. Laut den Medien trifft Annalena nach wie vor die Stimmung vieler Bürgerinnen und Bürger, Robert erklärt immer wieder, warum er was tut. Und Cem macht nicht nur einen überzeugenden Job, er ist auch weiterhin einer der beliebtesten Politiker.

Viele unserer Funktionsträger, von der kommunalen bis zur Bundesebene stellen sich den Bürgerinnen und Bürgern. Und das trägt auch ein Stück weit.

Die Antwort auf die Frage, warum diese uns nicht vertrauen, muss also tiefer liegen.

Es liegt auch nicht an der Themenwahl

Wo sind wir falsch abgebogen? Was haben wir falsch gemacht? Über dreißig Jahre haben wir z. B. mit Atomausstieg, Umweltthemen, Klima, Demokratie, Weltoffenheit und Emanzipation die politische Agenda bestimmt. Und das wollten wir jetzt in Regierungsverantwortung umsetzen.

Allerdings: Wir landeten in einer krisenmüden Gesellschaft. Die Corona-Krise war noch nicht ganz überwunden. Putin hat die Ukraine überfallen. Der Hamas-Terrorangriff auf Israel ist die dritte Krise in Folge. Und über diese Krisen zeichnet sich das Scheitern von UNO und Welthandelsorganisation ab. Es droht der Verlust der globalen Führung des Westens, der globalen Dominanz unserer Werteordnung – und unseres Wohlstandsmodells.

Am Anfang war die Tat. Die Tat eines guten politischen Instinkts

Erinnern wir uns: Die erste Krise nach der Beendigung des Kaufs russischen Gases hat Robert Habeck u. a. durch seinen Blitzbesuch in Katar gut und bis zur Selbstverleugnung aufgefangen und gelöst. Die Krise begann später: Mit dem Heizungsgesetz, das von der Idee geprägt war, den Verlust der Gasquellen durch einen schnelleren Ausstieg aus Kohle und Atom teil-kompensieren zu können. Und mit der Idee, die bis dato schon überbordende Anzahl von Förder- und Kompensationsprogrammen durch ein Sondervermögen weiter ausbauen zu können. Zu einer Reihe handwerklicher Fehler im Wirtschaftsministerium kam auch ein unglückliches Agieren hinsichtlich Personalfragen hinzu. Die Debatte darüber hätte durch schnellere Entscheidungen sofort beendet werden müssen.

Auch wir sind unterschiedlicher Meinung darüber, ob die Schuldenbremse in der derzeitigen Form sinnvoll ist. Aber nach dem Verfassungsgerichtsurteil wurde nur nach anderen Finanzierungsquellen für ein “Weiter so” gesucht. Zu wenig Energie wurde auf die Frage verwandt, ob das Bundesverfassungsgericht nicht doch einen wichtigen Punkt adressiert hat. Nämlich, dass dieses einseitige Förderprogramm-Denken nicht die Lösung aller Probleme ist; -übrigens nicht nur ein Phänomen auf Bundesebene, wie die zahlreichen Sondervermögen für alle möglichen Kernaufgaben des Staates (Bildung, Gesundheit etc.) sichtbar gemacht haben.

Nicht mehr Links gegen Rechts, sondern Unten gegen Oben

Der Vertrauensverlust der Regierung stellt sich in verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft anders dar.

Die Bürger und Bürgerinnen in den neuen Bundesländern geben sich nicht länger mit dem Bild des „Jammerossis“ zufrieden. Sie verweisen auf die grundsätzlichen Weichenstellungen nach dem Fall der Mauer: Rückgabe vor Entschädigung, der Verlust der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen, die Übernahme fast sämtlicher führender Ämter durch Abgesandte aus dem Westen.

Auf dem Land wundern sich die Menschen über die Verblendung der städtischen Eliten. Das 49-€-Ticket, eine feine Sache für Berlinerinnen und Berliner und die Umlandgemeinden, aber das Versprechen einer Anbindung an den öffentlichen Verkehr ist schon vor dem Hintergrund des Versagens des halbstaatlichen Unternehmens Bahn ein Witz. Der Streit um die Übernahme der Kosten hat die Glaubwürdigkeit der Akteure auch nicht gesteigert. Und wer auf dem Land lebt, muss einfach konstatieren, dass das Auto das Mittel der Wahl ist, um mobil zu bleiben.

Jahrzehntelang hieß es, eine akademische Karriere wäre der einzige Weg zu Glück und Wohlstand. Aber dieses einseitige Heilsversprechen hat nur dazu geführt, dass anderen, praktischen Qualifikationen die Anerkennung verwehrt geblieben ist und “nichtakademische Milieus” faktisch aus dem öffentlichen Geschehen ausgegrenzt wurden. Die “Kulturkämpfe”, zu denen sich Markus Söder und Hubert Aiwanger herausgefordert fühlen, machen die Verärgerung weiter Teile der Bevölkerung sichtbar. Ihnen erscheint dieser ganze woke Sprachwirrwarr der Gender-Ideologie, LGBTQIA*, *innen oder Innen, ärgerlich, erinnert sie an “Neusprech” und “Brave New World”

Das leichtherzige Fabulieren im Spannungsbogen von Flucht und notwendiger Zuwanderung tut ein weiteres. Landbewohner und die Bürger sozial schwächerer Stadtteile haben die Nase voll davon, dass sie zu “Parkplätzen” für Menschen aus anderen Kulturen und Kontinenten geworden sind, und die Geflüchteten im Wartestand, zur Nichttätigkeit verdammt, den öffentlichen Raum “besetzen”. Die Folge: Eine Entwertung des öffentlichen Raumes als konfliktträchtige Zone (Bahnhöfe, Bushaltestellen, städtische Parks sind die “Hot Spots” des Konfliktes). Die Nebenfolge: Weil Flüchtende oftmals mit neuer Bekleidung ausgestattet werden, in Relation zu Menschen in einfachen Tätigkeiten auch über vergleichbare Einkommen verfügen, fühlen sich viele Menschen von Politikern nicht gesehen. Und dass diese im Straßenbild “sichtbaren” Geflüchteten nicht die Lösung des Fachkräfteproblems sind, versteht man auch ohne akademische Bildung.

Und so haben sich längst die “Gegenmilieus” in der Mitte der Gesellschaft etabliert: In den neuen Bundesländern, auf dem Lande, in nichtakademischen Umfeldern.

Oder: Unten gegen oben. Aber die politische Debatte imaginiert immer noch: Links gegen rechts.

Das total zerstrittene Bild der Ampel ist Folge verschiedener Weltbilder

Obwohl sich die Beteiligten bewusst waren, dass sie mit unterschiedlichen Weltbildern agieren, obwohl sie beim Start eine neue Haltung des gegenseitigen Respekts beschworen haben, ist dieser “Geist einer neuen Haltung” nie Wirklichkeit geworden.

Stattdessen, so sehen wir das rückblickend, wurden auf 160 Seiten alle jeweiligen Lieblingsprojekte festgehalten. Aber niemand hat sich Gedanken darüber gemacht, wie aus einem überbordenden Programm und mit der Rahmenbedingung “Schuldenbremse” ein umsetzbares Arbeitsprogramm werden sollte. Und so gilt jetzt: Parteiraison first! Gesellschaft second!

Die Frage, welcher der Regierungsbeteiligten dafür verantwortlich ist, können wir uns sparen. Schließlich haben die Koalitionsvereinbarung alle gemeinsam unterschrieben.

Auch die Frage, ob der Kanzler der Richtige ist, scheint uns nicht zielführend: Auseinanderstrebende Kräfte könnte auch ein kommunikationsstarker und Vertrauen mobilisierender Kanzler nicht zusammenbringen. Das Gegeneinander der Regierungspartner hat selbst eine parlamentarische Opposition überflüssig gemacht.

Was nottut, ist eine gemeinsame Haltung.

Vorrangig eine gemeinsame Haltung der Ampel. Und wir denken, in manchen Teilen auch ein ernsthaftes Angebot an CDU/CSU. Einer der wichtigsten Punkte einer solchen gemeinsamen Haltung wäre eine Abkehr vom politischen Wettbewerb immer neuer Versprechen : Wählt uns! Und alles wird gut.

Denn so wird es nicht mehr. Unsere aktuelle Zeitdiagnose lautet: Krise ist das neue Normal. Die Selbstbehauptung der freiheitlichen und offenen Gesellschaften des Westens konkurriert mit der Bewältigung der Klimakrise, einer menschenwürdigen Lösung der Flüchtlingsfrage und dem Aufstiegswillen anderer Systeme. Es gibt also nicht mehr die einfache Lösung, sie muss in der aktuellen Situation immer wieder ausbalanciert werden. Und auf der anderen Seite benötigen Unternehmen wie Bürgerinnen und Bürger klare Ansagen, einen klaren mittelfristigen Rahmen, auf den sie sich einstellen können und in dem sie ihre Rolle neu finden können.

Fragen, die wir uns selber stellen sollten

Stattdessen sollte eine übergreifende Diagnose beginnen: Woher rührt der Vertrauensverlust der etablierten “politischen Klasse” und, was uns in besonderem Maße beschäftigt, der Grünen.

Denn einzig die Angst vor dem Ausgang von Neuwahlen hält diese Regierung noch zusammen.

Was tun?

Der bisher favorisierte Lösungsweg funktioniert nicht länger: Mehr Geld, mehr Ausgleichszahlungen. Olaf Scholz hat mit seinem “Respekt”-Thema ja Recht. Nur, Respekt zollt man verschiedenen Sozialmilieus und Menschen nicht einfach, indem man ihnen staatliche Gelder auszahlt, sobald sie unter eine statistisch ermittelte Armutsgrenze fallen. Respekt gibt es, wenn sich Menschen wahrgenommen fühlen, wenn Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag erleben, dass sie produktiver Teil der Gesellschaft sind.

Bescheidenheit gegenüber der Gesellschaft

Respekt zeigt sich dann, wenn Politik und politische Debatten in einer Sprache und auf Feldern stattfinden, in denen sich Menschen eingeladen fühlen, teilzunehmen. Dazu gehört auch, sich mit anderen gesellschaftlichen Denkweisen und Verhaltensmustern produktiv und mit Empathie auseinanderzusetzen. Plakativ: Mehr Stammtisch, weniger deliberative Debatten. Und zur Teilhabe: Mehr Fußballverein, Feuerwehr und technisches Hilfswerk statt immer mehr “Partizipative Verfahren”, die oftmals nur ewigen Quertreibern Bühnen bieten. Gesellschaft ist mehr als Parteimitgliedschaft, auch wenn Parteiendemokratie auf die aktive Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen ist. Kurz: Es geht zuallererst um die Wiedergewinnung von Vertrauen, erst dann um Argumente und Fakten.

Respekt zollt man den Bürgerinnen und Bürgern, wenn man die notwendigen Maßnahmen gegen den Klimawandel, die technologischen Veränderungen, mit Ihnen auf den Weg bringt. Stattdessen werden von akademischen und Parteizirkeln “Transformationspläne”, entworfen, die jetzt quasi “planwirtschaftlich” umgesetzt werden sollen. Soziologisch: Wir sollten Gesellschaft nicht “top down” und statisch, sondern interaktiv und organisch denken und entsprechend handeln.

Die Debatte um das Wie forcieren

Aber, so würde “Friday for Future” einwenden, mit dem Klima lässt sich nicht verhandeln. Das ist richtig. Aber die Bürgerinnen und Bürger ahnen, dass sich das Klima nicht über scharfe Nationale Rettungspläne Deutschlands retten lässt. Sondern, indem Deutschland eine Vorreiterrolle einnimmt. Deutschland kann mit einem maximal 3%-igen Anteil am globalen CO2-Ausstoß das Weltklima nicht retten. Deutschland sollte sich auf den Weg machen, klimaverträglicher zu leben und Technologien entwickeln, die einen nachhaltigen Umgang mit der Natur ermöglichen und das Land zu einem angesehenen wirtschaftlichen Vorbild machen.

Interesse am Ergebnis zeigen, nicht (nur) an Talkshow-Präsenz

Denn aktuell erleben die Bürgerinnen und Bürger, dass öffentliche Strukturen bürokratisch, umständlich und vernachlässigt sind. Sie wollen deswegen einer Politik, die das ignoriert, die die Hausaufgaben nicht macht, nicht Prokura erteilen, ihre gesamten Lebensumstände zu verändern. Die Bürgerinnen und Bürger wollen, dass die Politik, Schulen mit funktionierenden Toiletten ausstattet, öffentliche Verkehrsmittel zum Funktionieren bringt und Regeln, die sie aufstellt, auch durchsetzt.

Die Kraft aus der Gesellschaft moblisieren

Es geht um nicht weniger als um die Veränderung der Haltung der Parteien gegenüber der Gesellschaft. Wir leben in komplexen Zeiten. Krise ist Alltag geworden und Politik hat die Aufgabe, diese Krisen zu bewältigen.

Wenn es nicht mehr möglich ist, die Zukunft zu planen, besteht die richtige Konsequenz darin, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wacher, mutiger, aufmerksamer und reaktionsfähig zu machen.

Uns für eine lebendige Gesellschaft stark machen

Parteien können nicht Politik “für die Gesellschaft” machen, sondern nur mit ihr. Die unterschiedlichen Baustellen der Politik, Klimawandel, Migration, Selbstbehauptung des Westens, müssen auf absehbare Zeit ständig neu abgewogen werden. Es gilt dabei, die überzeugende Leistung marktwirtschaftlicher und demokratisch offener Gesellschaften unter Beweis zu stellen.

Unsere Hoffnung: Die Partei, die das am mutigsten und offensten macht, gewinnt das Vertrauen und die Unterstützung derjenigen in der Gesellschaft, die sich auch in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld für diese Veränderung engagieren. Und so wird man die intellektuelle Führung in der politischen Auseinandersetzung wieder gewinnen.

Wir erleben aktuell den Zerfall eines auf Stabilität und Konsens abzielenden gesellschaftlichen Systems. Unser Parteiensystem verändert sich, neue Akteure drängen auf den politischen Markt. Die “etablierten” Parteien sollten sich den Verlust ihrer Deutungshoheit eingestehen, auf die komplexer gewordene Realität einlassen und davon ausgehend ihre Strategien anpassen, ihre Narrative reduzieren und stattdessen ihre Strategien robuster und einfacher aufstellen.

Uns selbst neu aufstellen

Wir, Bündnis 90/Die Grünen, die Partei, die das politische Geschehen in der westdeutschen Gesellschaft in den letzten 40 Jahren stark mitgeprägt haben, sind von diesem veränderten, „Zeitgeist“ genannten Phänomen, stärker betroffen als andere Parteien. Wir befinden uns am Kipppunkt dieser Entwicklung.

Gegründet von der „Glücksgeneration“ Nachkriegs-Westdeutschlands, getragen vom Wohlwollen und geschützt von der Stärke der USA sind wir in einer scheinbaren Welt ewigen Friedens aufgewachsen. Vor diesem Hintergrund konnte sich das Ideal der Agora des alten Athens oder, wie Jürgen Habermas sagte, der herrschaftsfreie Diskurs, weiterentwickeln und als “deliberative Demokratie” frei entfalten. Dort gibt es keine “Interessen”, sondern lediglich eine objektiv “beste Lösung“ Das nicht falsche, aber unzeitgemäße Konstrukt des “Bürgergelds” ist ideologischer Ausdruck dessen, ebenso eine proklamatorisch von Annalena inszenierte “wertegeleitete u. feministische” Außenpolitik, die bei Eintritt unerwünschter Realitäten zu stark kontrastierenden Bildern wie Robert Habecks Diener vor Katars Herrschern führt.

Tatsächlich hat Robert für diese Geste angesichts aktueller Notwendigkeiten viel Unterstützung erfahren. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger haben wir, die Grünen, erst verloren, als wir dachten, wir könnten trotz der verschärften Umstände unsere Umbaupläne umso schneller und mit weiter expandierenden politischen Förderprogrammen voranbringen. Diese Selbstüberschätzung ist uns auf die Füße gefallen.

Die Schlussfolgerung: In dieser Gemengelage richtiger Anliegen und falscher Instrumentarien hat sich die Ampel so sehr verheddert, dass sie, verstrickt mit sich selbst, nicht erkennt, dass sie den Showdown auf offener Bühne inszeniert: Die Selbstverzwergung der Politik.

Wir sollten daraus die richtigen Konsequenzen ziehen, uns auf die Kraft offener Debatten, die Innovationskraft unternehmerischer Phantasie, Intelligenz, manchmal auch Verschlagenheit besinnen und den Akteuren die dafür notwendigen mittelfristigen Zeiträume und Verlässlichkeiten zugestehen. Ansonsten wird die Erosion unserer liberalen Demokratie weitergehen, der “Kampf gegen Rechts”, der kein Kampf gegen Rechts, sondern ein Kampf gegen alle totalitären und menschenverachtenden Ideologien sein muss, vergeblich sein.

Was wir als Grüne brauchen, ist die Kraft, uns neu zu erfinden, uns von der Bullerbü-Idee einer Gesellschaft, “Wind und Sonne schicken keine Rechnung” (die Netzgesellschaften aber schon) zu verabschieden und uns auf die “Mühen der Ebene” einzulassen. Ok?

Weniger Utopie, mehr Realpolitik – weniger Ideologie, mehr Nüchternheit, Mut und Konzentration.

Sind wir dazu bereit?

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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