Mehr Streit um die bessere Idee. Warum es kreativ ist, wenn die Fetzen fliegen

Das kommt mir natürlich entgegen. Wisßenschaftler haben untersucht, ob Brainstormings gut für bessere Lösungen sind. Sind sie nicht, berichtet die Frankfurter Allgemeine. Streit ist die Form, in der die besten Lösungen geboren werden. Siehe untenstehendem Beitrag.

Ich würde immer noch hinzu fügen, Streit, wenn es die Lust an der Erkenntnis ist, oder, wenn große Egos miteinander streiten, wenn es ernst ist, Adrenalin freisetzt.

Der Beitrag zum Thema:

SONNTAG 28. JULI, 2013
So lasst uns denn die Hirne melken
Wenn in der Firma gar nichts mehr geht, geht immer noch ein Brainstorming. Vor mehr als einem halben Jahrhundert erfunden, erfreut sich die Methode immer noch großer Beliebtheit. Das hat seine Gründe. Allerdings nicht die, die es ursprünglich haben sollte. Von Jörg Albrecht
Jeder hat schon mal an einem teilgenommen. Die Situation ist bekannt: Vorn der Chef an seinem Flipchart, die Filzstifte griffbereit. Wie soll das neue Projekt heißen? Auf keinen Fall „Wissenschaft“, so viel steht fest. „Jeder sagt jetzt spontan, was ihm einfällt, ganz egal, wie verrückt.“ Kollege Meier betrachtet angelegentlich seine Fingernägel. Kollegin Schulze blickt aus dem Fenster. Kollege Obermaier meldet sich: „Forschung“. Das wird notiert. Oder wie wäre es mit „Gut zu wissen“? „Einstein“, sagt Kollege Meier, der langsam munter wird. „Bunsenbrenner“, ergänzt Kollegin Schulze. Papierbogen um Papierbogen wird vollgeschrieben, besonders originelle Vorschläge werden farbig markiert. Ein Extrakt geht an die Geschäftsführung. Die beschließt zwei Wochen später: Das neue Projekt heißt „Wissenschaft“.

Kreativ sein ist kein Zuckerschlecken. Werber wissen das nur zu gut. Die Agentur Saatchi & Saatchi beispielsweise, mit siebentausend Mitarbeitern in mehr als achtzig Ländern präsent, lädt ihre Chefkreativen bei wichtigen Aufträgen zu dreitägigen Brainstormings ein, „tribes“ genannt, auf denen zwölf Leute innerhalb einer Stunde zwölf Vorschläge abliefern müssen. Am Ende liegen ungefähr 150 davon auf dem Tisch – jedes Mal eine „gigantische Inspirationsquelle“, wie der Creative Director John Pallant in einem Interview mit dem Fachblatt Werben und Verkaufen gesagt hat: „Ein kreativer Strom, der alle mitreißt.“

Brainstorming heißt die Wunderwaffe, die immer dann hervorgeholt wird, wenn es an Ideen mangelt. Für den Begriff wurde noch keine passende Übersetzung gefunden. Die „Aktion lebendiges Deutsch“ hat dazu, was denn sonst, ein Internetbrainstorming veranstaltet. Mehr als zehntausend Vorschläge gingen ein, sie reichten von „Grübelplausch“ über „Denkgewitter“ bis zum „Gedankenquirl“. Der Vorstand entschied sich für „Denkrunde“.

Dabei ist Denken noch das wenigste, was bei einem Brainstorming gefordert wird. Der nüchterne Verstand ist es ja, der einer ungebremsten Imagination im Wege steht. Sinn und Zweck eines Brainstormings soll sein, diese Blockade zu überwinden. Beim freien Assoziieren soll der Kreative ausschütten, was ihm gerade durch den Kopf geht. Gewünscht ist möglichst viel ungefiltertes Rohmaterial, in dem sich vielleicht ein echter Diamant verbirgt.

Dahinter steckt die Vorstellung, dass alles eine Bedeutung hat, insbesondere das Unbewusste. Sigmund Freud hat diese Annahme zur Grundlage seiner Behandlungsmethode gemacht: „Man sagt dem Patienten, der Erfolg der Psychoanalyse hängt davon ab, dass er alles beachtet und mitteilt, was ihm durch den Sinn geht, nicht etwa sich verleiten lässt, den einen Einfall zu unterdrücken, weil er ihm nicht zum Thema gehörig oder unsinnig erscheint.“

Dichter setzten schon immer auf die Kraft der Assoziation. Friedrich Schiller riet einem Freund, der vor einem leeren Blatt Papier verzweifelte, die Kontrolle über seine Gedanken aufzugeben: „Bei einem schöpferischen Menschen, deucht mir, hat der Verstand seine Wache zurückgezogen, die Ideen stürzen herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den Haufen.“

Oder nicht mal das. Was den meisten Menschen durch die Hirnwindungen rauscht, ist wahrscheinlich eher schlicht strukturiert wie beim Leutnant Gustl, der sich in Arthur Schnitzlers gleichnamiger Novelle in der Oper langweilt: „Wie lang’ wird denn das noch dauern? Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt; er spielt ja selber Violine. Sie singen übrigens sehr schön. Lang’ war ich schon nicht in der Oper. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hineingeh’n. Ja, übermorgen bin ich vielleicht eine tote Leiche!“ Und so fort. Würde man einfach nur mitschneiden, wie unaufgeräumt es hinter den Stirnen zugeht, käme kein neuer Werbeslogan zustande.

Doch ausgerechnet dann, wenn viele solcher Gemüter auf einen Haufen versammelt sind, soll die Quantität des spontan Geäußerten in die Qualität des Außergewöhnlichen umschlagen. Als Vater dieses Gedankens gilt der Werbefachmann Alex Faickney Osborn. 1888 in New York geboren, gründete er dreißig Jahre später zusammen mit Bruce Barton und Roy Durstine die Firma BDO, die unter dem Namen BBDO heute noch aktiv ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt sie als eines der innovativsten Unternehmen der Branche.

1948 entschloss sich Osborn, seine gesammelten Erkenntnisse in Buchform unter die Leute zu bringen. „Your Creative Power“ wurde ein Bestseller. Osborn versprach Erfolg auf allen Ebenen, wenn man sich nur an bestimmte Regeln hielt. Viele davon, wie etwa der Rat, jederzeit ein Notizbuch mit sich zu führen, klangen ihrerseits wenig inspiriert. Aber in Kapitel 33 („How to Organize a Squad to Create Ideas“) verwendete der Autor zum ersten Mal den berühmten Ausdruck: In einem wahren „Hirnsturm“ sei es einem Team von zehn Werbefachleuten gelungen, innerhalb von neunzig Minuten mit 87 Ideen niederzukommen, wie man einen neuen Drugstore eröffnen könne.

Tödlich für jede Art von Kreativität sei das Herummäkeln an den Ideen anderer, war Osborn überzeugt. Sein zentraler Glaubenssatz lautete: Bloß keine Kritik. „Kreativität ist eine zarte Blume, die nur unter Lob erblüht. Entmutigung erstickt sie schon im Keim“, schrieb er. Auf Sinn oder Unsinn käme es beim Brainstorming erst einmal nicht an, je mehr Ideen am Ende auf den Tisch lägen, desto besser. Und je ungewöhnlicher sie seien, desto willkommener.

Osborns Methode fand begeisterte Anhänger. Nicht nur die Werbebranche hatte ein neues Mantra entdeckt, bald gehörte das Herumspinnen fast überall zur Unternehmenskultur. Firmen wie Eastman Kodak oder General Electric schleusten jährlich Zehntausende von Angestellten durch Brainstorm-Seminare; diesseits des Atlantiks berichtete der Spiegel fasziniert von „gemolkenen Hirnen“. Osborn schob noch einige Bücher nach und galt bis zu seinem Tod im Jahre 1966 als Management-Guru.

Eine solide Basis hatte das alles nicht. Osborn war, wenn überhaupt, gelernter Journalist; außer Anekdoten konnte er keine Beweise für die Überlegenheit seiner Methode vorlegen. Zum ersten Mal empirisch überprüft wurde sie 1958 an der Yale University. Vier Dutzend männliche Psychologiestudenten wurden in Gruppen eingeteilt, die nach dem Osborn-Prinzip drei typische Fragen aus einem Kreativitätstest bearbeiten sollten: Wie könnte man mehr Touristen in die Vereinigten Staaten locken? Welche Vorteile hätte es, einen dritten Daumen zu besitzen? Wie könnte man das Erziehungswesen verbessern? Weitere vier Dutzend Studenten wurden angewiesen, dieselben Fragen im Alleingang zu beantworten. Das Ergebnis war ernüchternd genug: Die Einzelgänger lieferten rund doppelt so viele Lösungen ab wie die brainstormenden Kommilitonen. Schlimmer noch: Ihre Ideen wurden von Experten durchweg als nützlicher eingestuft. Die Gruppe hatte ihre Teilnehmer nicht kreativer gemacht, sondern einfallsloser.

Seither sind etliche Dutzend Studien durchgeführt worden. Mehr oder weniger kamen sie alle zum selben Ergebnis: Brainstorming in der Gruppe funktioniert nicht besonders gut, und zwar umso schlechter, je größer die Zahl der Teilnehmer ist. Gilt es, ein Problem zu lösen, liefern einsame Tüftler generell mehr und obendrein brauchbarere Vorschläge ab. Allenfalls schöpferische Zweierteams können dabei mithalten.

„Gruppen sind häufig nicht in der Lage, die wirklich guten Ideen zu erkennen“, sagt der Sozialpsychologe Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht, der sich eingehend mit dem Kreativitätsverlust beim Brainstorming befasst hat. Dafür gibt es auf den ersten Blick drei Gründe: gegenseitige Blockierung der Teilnehmer, Bewertungsangst und Trittbrettfahrerei. Weil in der Gruppe immer nur einer zur selben Zeit reden kann, vergessen die anderen beim Zuhören allzu leicht, was sie eigentlich sagen wollten. Oder sie finden es plötzlich nicht mehr so passend. Die Angst, sich zu blamieren, steckt trotz verbaler Aufforderung, einfach mal die Sau rauszulassen, tiefer als gedacht. Und die Motivation, eigene Ideen zu produzieren, geht in den Keller, wenn sowieso nur der kollektive und nicht der individuelle Ertrag bewertet wird.

Hinzu kommt, dass die meisten Menschen beim freien Assoziieren eher gestrickt sind wie der Leutnant Gustl: Ihnen fällt nur das Naheliegendste ein. Die amerikanischen Psychologen David Palermo und James Jenkins haben in den sechziger Jahren ein umfangreiches Verzeichnis aller Assoziationen zusammengetragen, die den Befragten zu bestimmten Begriffen durch den Kopf gingen. Zu „blau“ fiel ihnen am häufigsten „grün“ ein, gefolgt von „Himmel“ und „Ozean“. Auf „grün“ wiederum folgte fast immer „Gras“. Selbst die originellsten Teilnehmer zogen vorwiegend banale Gedankenverbindungen.

Das menschliche Hirn, kann man daraus ableiten, ist normalerweise ein fauler Geselle. Zumal wenn man ihm auch noch zu verstehen gibt, dass alles, was es produziert, kritiklos hingenommen wird. Hier liegt wahrscheinlich die tiefere Ursache für das Versagen der reinen Osborn-Lehre. Die Psychologin Charlan Nemeth von der University of California in Berkeley hat dazu vor zehn Jahren die Probe aufs Exempel gemacht. Sie stellte ihren Studenten die Frage, wie man am besten die Verkehrsstaus im Raum San Francisco vermeiden könnte. Gruppenweise wurde die eine Hälfte von ihnen dazu aufgefordert, kritiklos Vorschläge zu sammeln, die andere Hälfte sollte darüber diskutieren und ihre Kritik nicht zurückhalten. Ergebnis: Die debattierenden Studenten lieferten zwanzig Prozent mehr Lösungsvorschläge ab, sie waren anschließend so motiviert, dass sie bei Einzelbefragungen im Durchschnitt weitere sieben Ideen produzierten.

Ohne Widerspruch sind originelle Gedanken offenbar nicht zu haben. Vor allem falsche Gegenargumente scheinen die Imaginationskraft noch zu steigern. Das zeigte ein weiteres Experiment, bei dem Charlan Nemeth ihre Studenten paarweise zusammenstellte und ihnen Dias in verschiedenen Farbtönen zeigte. Auch hier kamen die üblichen Assoziationen zustande. Doch wenn einer der Partner vorab instruiert worden war, die gezeigte Farbe bewusst falsch zu benennen, kam die Phantasie des anderen in Schwung. Auf „Blau“ folgte nicht mehr „Himmel“, sondern beispielsweise „Jazz“ oder „Beerentorte“. Charlan Nemeth hält das für ein Grundgesetz menschlicher Kommunikation: „Meinungsverschiedenheiten können unangenehm sein. Aber sie sind immer belebend.“

Dass die Osbornsche Methode sich dennoch bis heute größter Beliebtheit erfreut, hat ebenfalls Gründe. Sie trägt dem Selbstwertgefühl und dem Kuschelbedürfnis der meisten Menschen Rechnung. Teilnehmer eines Brainstormings, und sei es noch so unproduktiv verlaufen, fühlen sich hinterher meistens besser. Viele glauben, sie hätten im Laufe des Meetings sehr viele eigene Ideen eingebracht, auch wenn das bei näherem Hinsehen nicht der Fall war. Ein Brainstorming, hat Wolfgang Stroebe festgestellt, tut dem sozialen Klima einer Gruppe einfach gut. Man rückt dadurch näher zusammen. Was, wie die Psychologen Vincent Brown und Paul Paulus von der Texas University nachgewiesen haben, dazu führt, dass ein ohnehin schon niedriges Niveau sich auf Dauer etabliert. Faulheit wirkt im Kollektiv stets ansteckender als brennender Ehrgeiz.

So passt sich am Ende auch der Kreativste dem Durchschnitt an, wie eine Abwandlung des Nemethschen Assoziationsversuchs gezeigt hat: Teilnehmer, denen die Farbe „Blau“ gezeigt worden war, wurden anschließend mit der Meinung konfrontiert, es handele sich in Wahrheit um „Grün“. Blieb dies noch der Standpunkt einer Minderheit, blühte weiterhin die Assoziationsfreude derjenigen, die es besser wussten. Bildeten die Farbenblinden jedoch die Mehrheit, stumpften selbst die hartnäckigsten Individuen irgendwann ab und kehrten zur konventionellen Denkweise zurück, wonach sich eben „blau“ auf „Himmel“ reimt und damit Feierabend.

Der Schauspieler Curt Goetz hat das so ausgedrückt: Wer nicht rechtzeitig merkt, dass er von Idioten umgeben ist, merkt es aus einem gewissen Grunde nicht. Wobei das, wenn man mal darüber nachdenkt, wirklich jeder behaupten kann.

Literatur: Olga Goldenberg, Jennifer Wiley: „Quality, Conformity and Conflict: Questioning the Assumptions of Osborn’s Brainstorming Technique“, Journal of Problem Solving, Vol. 3, 2011. Michael Diehl, Wolfgang Stroebe: „Productivity Loss In Brainstorming Groups: Toward the Solution of a Riddle“, Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 53, 1987.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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