Mehr Streit wagen! Zur deutschen Stimmungslage. Zu Alice Schwarzer, Lanz, Precht und mehr.

Deutschland hat’s gerne hyggelich. Kuscheln ist angesagt i aufgeklärten Mediendeutschland. Auf der Strecke bleiben: Alice Schwarzer, Lanz und Precht. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Warum wir künftig mehr Streit zulassen, oder gar fördern müssen.

Ich verstehe ja, dass man es gerne gemütlich mag. Und nicht zu viel Widerspruch. Wir sind alle nur Menschen. Aber diese junge, gendersensible, hochmoralische, auf Mikroaggression höchstsensibel mit „Safe Spaces“ reagierende akademische linksliberale Bubble, zu der auch viele Journalisten zählen (das grasgrüne Kernmilieu natürlich sowieso) nervt inzwischen nicht nur: Es ist brandgefährlich. Cancelculture statt Biertischstreit. 

Alice Schwarzer: Man muss sie nicht mögen. Aber man muss sie zumindest ertragen!

Jüngstes Beispiel: Der Brandbrief von 33 AutorInnen mit der Forderung, Alice Schwarzer beim literarischen Herbst in Leipzig auszuladen. Gehts noch? Wie soll eigentlich jemals eine Debatte aufkommen, wenn schon die garantiert linke Alice Schwarzer zu viel ist. Supermicroaggression oder was? Diese ständigen Boykottrufe führen ins Abseits, es geht da nur noch darum, Widerspruch auszublenden. 

Um es klar zu sagen: Ich bin kein Freund Alice Schwarzer. Aber bitte, das bißchen Streit wird man wohl noch führen können, oder? 

Lanz und Precht. Der Reflektierte Umgang mit Halbwissen

Das andere prominentere Beispiel: Lanz und Precht und ihre vorletzte Folge über Israel und Gazastreifen. Da wurden dann die Sätze rausgeschnitten, die über Ultraorthodoxe und ihre Berufstätigkeit fielen. 

Auch da: Ich schätze zwar Markus Lanz, weil seine interessierte Art, zu fragen und zu diskutieren, wirklich von Neugier getragen ist, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, etwas viel schleimige Zustimmung. Tatsächlich schafft er es, gerade, weil er nachfragt, seine Gesprächspartner zum Weiterreden zu ermutigen und eben nicht nur Oberflächen“debatten“ nachzuspielen, wie es viele andere Talkshows machen. 

Precht ist lange Zeit gar nicht mein Fall gewesen. Einfach, und das war ein Bauchgefühl, weil er zu jedem Trendthema meinte, was sagen zu können.

Lanz und Precht höre ich aber trotzdem sehr gerne. Und zwar, weil sie eine sehr entspannte Gesprächsatmosphäre inszenieren, in denen sie ihre Wissenschnipsel zusammentragen und gegeneinander abgleichen. 

Man könnte auch sagen, ihre Halbwissenschnipsel. Oder, wie es in dem Satz über Ultraorthodoxe dann war, weil sie sich trauen, einfach mal Meinung zu haben. Ja, da können auch Vorurteile und Klischees dabei sein. Aber bitte: Was uns künstliche Intelligenz lehren könnte, ist, wie schlicht der menschliche Geist gestrickt ist. Und was uns ein demokratischer Grundgedanke lehren könnte: Die Übergänge zwischen Wissen, Meinung, Vorurteil und Klischee ist fließend. Wir als Bürger und Bürgerinnen sind Laien. Und als solche bauen wir uns unser Weltbild zusammen. Und wenn es dann knallt oder Widerspruch erntet, dann bauen wir es halt um. 

So funktionieren Debatten. 

Das Recht auf Irrtum. Und die Arroganz der Besserwisser. 

Vor diesem Hintergrund war ich gespannt, wie Lanz und Precht  mit dem Vorwurf umgehen. Seit heute wissen wir es: Sie haben ihren Hintergrund, ihr Wissen, ihre Vorurteile offengelegt. Und es hat sich gezeigt: So viel war gar nicht verkehrt, Precht war sehr viel besser informiert als ich jedenfalls vermutet hätte. Und trotzdem haben sie sich entschuldigt. 

So geht Größe. 

Warum wir wieder mehr Stammtisch brauchen

Mein Plädoyer: Mehr Robustheit. Mehr Emotion. Aber auch mehr Reflektion. Bei Lanz und Precht finde ich es gut, wenn sie so durch die Themen mäandern. So geht doch das Laiengespräch. Und sorry, Fernsehmoderatoren sollten die Laienhaltung haben. Denn die Themen, in denen es nicht mehr konsensuell zugeht;  -und zugehen kann, nehmen zu. 

Israel, Palestina, Judentum und der Islam

Und damit sind wir bei einem ganz schwierigen Thema. In Deutschland ist das Bekenntnis zum Staate Israel Staatsraison. Verständlich aus der deutschen Geschichte, dann ist Israel auch das Land im Nahen Osten, in dem sich eine europäische Tradition, ein demokratisches System etabliert hat. Soweit, so gut, so deutsch. Nun sind wir aber inzwischen ein Land, in dem es viele Menschen islamischen Glaubens leben, mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die die aktuelle Auseinandersetzung zwischen dem jüdischen Israel und seinen arabischen Nachbarn mit anderen Augen und Bindungen betrachten.  Zumal ja die Siedlungspolitik der jüngsten Vergangenheit auch nicht auf Versöhnung und Ausgleich, sondern auf Konfrontation ausgelegt war. 

Und dann kann man nicht einfach weiter verordnen, dass das Bekenntnis zum Staate Israel Staatsraison ist. Sondern man muss dafür werben. Nur, wenn die deutsche Öffentlichkeit so wenig heterogen, so wenig streitlustig, emotional und konfliktfähig und so „weiß“, christlich und biodeutsch ist: Wie, wenn nicht im Streit, kann man denn dafür werben? Wichtig ist doch, dass man in die Diskussion kommt. Und noch wichtiger ist, dass diese Diskussion mit Argumenten, nicht mit Steinen oder Molotow-Coctails oder gar Anschlägen geführt wird. 

Was heißt, dass wir künftig nicht nur mit Microagressionen zu tun haben. Sondern echten Streit aushalten lernen sollten. Emotionslose, sanfte Debatten, das ist doch nur was für die gutsituierte deutsch-staatsnahe Akademikerbubble. 

Aber die Welt ist vielfältiger. Und Deutschland auch. Die Frage ist, wie wir die ganze Vielfalt an den Stammtisch bringen. Obwohl wir inzwischen sehr unterschiedliche Wurzeln und kulturelle Bezüge und somit Betroffenheiten haben. 

 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .