Hausaufgaben nicht gemacht
Die Böll-Stiftung hat unter dem Titel “Strukturen des Fortschritts” von Arne Jungjohann eine Studie erstellen lassen. Sie befasst sich mit den Binnenprozessen Grünen Regierens.
Ich finde das bezeichnend bis bedenklich, wenn sich die grüne Stiftung mit den Binnenprozessen des Regierens befasst, es Stiftung und Partei aber nicht gelingt, etwas zum massiven Vertrauensverlustes grüner und insgesamt “bürgerlicher Politik” zu verfassen. Gehandelt wird also frei nach dem Motto “Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelte sie ihre Kräfte”.
Eine kritische Zwischenbilanz
Robert, ach Robert!
Robert Habeck war da schon mal weiter. In seinem Vorwort zu “Von hier aus anders” schreibt er:
“Sind wir also tatsächlich politisch gefangen in einer Spirale aus Reaktion und Gegenreaktion? Kann es sein, dass man, je erfolgreicher man für sein Anliegen wirbt, je mehr Menschen einem zustimmen, desto stärker zum Teil einer falschen Polarisierung wird und Gefahr läuft, seinem Anliegen einen Bärendienst zu erweisen?
Obama fragt angesichts des Wahlsiegs von Donald Trump nicht, was er möglicherweise falsch gemacht habe, wo und wann sie falsch entschieden hätten, er fragt, was wäre, wenn sie sich geirrt hätten – in Bezug auf eine Politik, die versuchte, Gräben zu überwinden.”
Auch da lag er richtig. Wie er auch in Sachen Ukraine richtig lag, aber zurückgepfiffen wurde. Vielleicht kann er jetzt, in Berkley, darüber nachdenken, was genau die Fehler waren, die er selbst gemacht hat.
Meine These wäre: Er hätte sich Beinfreiheit verschaffen müssen. Denn auch regelbasierte Ordnungen brauchen jemanden, der die Regeln durchsetzt; -oder verändert.
Ist mehr Koordination und Absprache die Lösung?
Die Schlußfolgerungen der Böll-Studie:
- Aufgaben und Rollenverteilung klar festlegen
- Regieren mit schlanker Struktur und strategischem Zentrum
- Kommunikation verbessern
Auf den ersten Blick klingt das alles vernünftig. Allerdings: Eigentlich sind die Rollen festgelegt, nur muss sie auch jemand durchsetzen. Und weil Grüne mit immer mehr Gremien immer mehr Abstimmung organisieren wollen, organisieren sie innerparteilich nur noch einen Unzufriedenheitskonsens. Von den externe Unterstützern, Wählern und der Öffentlichkeit gar nicht zu sprechen.
Abwägen: Was ist wichtiger, innen oder außen?
Meine These wäre, wir sollten mal darüber reden, was wichtiger ist, Abwägen nach innen. Oder nach außen.
Da stellt sich schon mal die Frage, ob das die Analyse einer politischen Stiftung ist. Oder die operative Analyse einer Unternehmensberatung, die weiß, was ihr Auftraggeber bestellt hat und diesen Rahmen antizipiert.
Worüber Bündnis 90/Die Grünen diskutieren müsste:
- Der Vertrauensverlust gegenüber etablierter Politik, also CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die GRÜNEN ist nicht neu, sondern ein Langzeitphänomen. Und das wir die “etablierte Politik” nur gemeinsam lösen können, nicht mit parteipolitischen Narrativen, die sich vor allem gegeneinander aufstellen. Um nicht mißverstanden zu werden: Die Bundestagsfraktion hat sich in Sachen Sondervermögen politisch klüger verhalten als mancher Beobachter erwartet hat. Aber davon abgesehen, scheint sie wieder in das alte Konfrontationsmuster zu verfallen.
- Es gibt Triggerpunkte, die die Stimmung weiter kippen lassen. Die Migration ist so einer. Es geht nicht darum, ob wir mehr oder weniger Migration brauchen. Sondern differenzierter: Wir müssen Bemühungen unterstützen, die illegale Migration sofort wirksam einzudämmen und qualifizierte Migration auf Weg den Weg bringen. Alles andere wirkt moralisch, bringt aber den inneren Zusammenhalt in Deutschland zum Kippen.
- Wir müssen auch über die ausgeblendeten Aspekte unseres Wohlergehens reden. Demokratie behauptet sich nicht als Demokratie alleine, sondern nur als Demokratie mit einem ökonomischen System, das den Menschen in ihrer Mehrheit Wohlergehen verspricht; – und dieses Versprechen auch halten kann. Wohlergehen ist mehr als einfach Wohlstandszuwachs. Es ist auch das “Wohlfühlen im Alltag”, Aufstiegsversprechen (also Chancengerechtigkeit) mit verschiedenen identitätspolitischen Konnotationen: Ost-West, Migrationsbiographien, Frauen und Männer. Und dazu kommt noch: Das Erlebnis von Selbstwirksamkeit. Wir Grünen sind der festen Überzeugung, dass die richtige Strategie top down entstehen und administriert werden kann. Dem ist aber nicht so, wie das Beispiel Ampel-Regierung gezeigt hat.
- Womit wir bei einem weiteren Thema wären, das schmerzt: Die Disfunktionalität des immer weiter aufgeblähten politischen Apparats: In der Bundesregierung: Koalitionspartner gegen Koalitionspartner. In Deutschland: Bund gegen Länder, gegen Gemeinden. In Europa: Kommission gegen Ministerrat gegen Parlament (und ohne relevante und gefühlte europäische Öffentlichkeit). Weltweit, weil Klima und globales Aufstiegsversprechen nur global gelöst werden können: Jedes Land gegen alle. Der Westen gegen China und Russland. Und die Mehrheit der Weltbevölkerung schaut zu, im sprichwörtlichen Sinne. Denn die Transparenz ist längst global!
- Und dann sitzen wir, also wir Grünen, hier und reden von “regelbasierter Ordnung”, ohne darüber zu reden, wer die Beibehaltung oder Wiederherstellung der regelbasierten Ordnung, mit “soft power”, notfalls mit “hard power” wieder herstellen kann. Europa, das hat der Konflikt mit Trump und den USA schmerzhaft gezeigt, ist abhängig. Davon müssen wir uns befreien.
- Damit sind wir bei den Gralshütern “grüner Politikträume” angekommen: Herrschaftsfreier Dialog (Habermas), Konsens, Konsultation, Partizipation. Und Wissenschaftlichkeit. Also bei dem humanistischen Traum, es könnten Menschen frei von ihren Interessen und frei von ihren Lebenslagen und Erfahrungen (bewußt und unbewußt) entscheiden. Klappt nicht, was man daran sieht, dass die Flut von Wissenschaftlern und deren papierener Output zunimmt, die Ergebnisse aber abnehmen.
- Was wir vermissen, ist den offenen Blick auf die Welt. Auf den Verlust der “Schutzmacht” USA und ihre Folgen. Die Dynamik eines aufstiegswilligen und Top-Down fähigen Chinas (Dissidenten landen dann eben im Knast). Oder die Dynamik eines westlich “angefixten”, gleichwohl selbstbewußter werdenden globalen Südens, allen voran Indien, Brasilien. Sie alle wollen mehr von Reichtum der Welt. Wir alle sind miteinander auf die Erhaltung des Planeten angewiesen. Einerseits und perspektivisch. Und andererseits auch ganz kurzfristig, auf die Zustimmung der Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Die Grünen haben die überholte Idee, es gäbe einen pauschal “globalen Süden” nie wirklich hinterfragt. Daraus ergeben sich falsche Antworten auf viele Probleme , die nicht von uns gelöste werden können. Zum Beispiel Migration, Sicherheit, Klima)
“Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung verändern kann”
Francis Picabia
- Wir sollten unseren Suchmodus, unseren Blick auf die Wirklichkeit, verändern und uns jetzt, wo die Herausforderungen (v.a. Klimawandel, Migrationsdruck, globaler Wettbewerb, innerer Zusammenhalt) bekannt sind, stärker auf die Abwägungen im Hier und Jetzt konzentrieren. Liberale Gesellschaften funktionieren im Zusammenspiel von Politik, Wissenschaften, Wirtschaft und Gesellschaft. Wobei wir, Bündnis 90/Die Grünen die Rolle von Natur- und Ingenieurwissenschaften unter- und die der Sozialwissenschaften überbewerten. Sozialwissenschaftliches Denken hat uns in der Opposition geholfen, uns aus der technokratischen Orientierung der Sozialdemokratie der 70er und 80er Jahre zu befreien, geholfen. Jetzt schadet uns die Dominanz “reflektierender” gegenüber “problemlösender Betrachtungsweisen.
- Politik muss die Freiheit haben, ihre Schwerpunktsetzungen zu verändern, wenn neue Themen aufkommen. Auf der anderen Seite können die Rahmenbedingungen nicht alle vier Jahre über den Haufen geworfen werden, wenn die Regierung wechselt. Denn Wissenschaft und Wirtschaft benötigen berechenbare Rahmenbedingungen für ihr Handeln und um “transformative Lösungen” zu finden. Die, das sei noch gesagt, oftmals anders aussehen als Parteitagsbeschlüsse suggerieren. Konkret: Wo brauchen wir eine Gemeinsamkeit der Parteien der Mitte, um Probleme anzugehen, wo ist der Raum für gesellschaftliche Debatten über die richtigen Wege zur Lösung der wichtigen und dringlichen Fragen?
Das alles, wir wissen das, ist keine einfache Fragestellung. Und, wir haben keine Lösung. Aber wir ahnen: Es ist uns in der zurückliegenden Legislaturperiode nicht gelungen, die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine freie Gesellschaft und eine starke Wirtschaft zu erhalten oder gar auszubauen.
Und die Herausforderung querschießender Koalitionspartner, und das wird bei einer zerfallenden Parteienlandschaft immer stärker der Fall sein, wird dauerhaft bleiben.
Lasst uns darüber reden!