Man könnte jetzt sagen, ich übertreibe. Aber sehen wir es mal so: Wenn sich die Bildungsbürgergesellschaft ihren konfliktfreien Kokon schafft und die Politik damit beauftragt, diesem Kokon, quasi im gesellschaftlichen Auftrag herrschaftsfreier Diskurse, abzusichern, – könnte man das nicht auch als Klassenherrschaft der postindustriellen, grünnahen Milieus verstehen? Ja, das ist jetzt nicht wahlkampfadaäquat. Aber liegt nicht Führungsstärke einer Partei auch darin, Risiken zu identifizieren, die einem künftig begegnen würden?
Das Paradigma der scheinbar konfliktfreien Gesellschaft ist so eines. Es schreibt den Status Quo fest, blockiert aber die Aufsteiger, die, die aus den politisch nicht wahrgenommenen Milieus stammen. Kultur ist ein Herrschaftsinstrument. Das hat Pierre Bourdieux schon vor 20 Jahren konstatiert. Zunehmend wird das auch in Deutschland zum Thema.
Der Artikel, der mich auf diese Idee gebracht hat:
DIENSTAG, 13. AUGUST 2013
FEUILLETON
Narziss macht jetzt den Bachelor
Mama, kannst du bitte meine Handyrechnung bezahlen? Die erste Generation überbehüteter Kinder bevölkert die Universitäten. Die Zumutungen des alltäglichen Lebens sind ein Schock – für alle Beteiligten.
Auch in diesem Jahr hat die Universität Osnabrück einen Elterntag veranstaltet, es war bereits der fünfte. Wie in den Jahren zuvor herrschte reger Andrang, fast 12 000 Besucher sollen es insgesamt gewesen sein, und wer sich jetzt verwundert fragt, ob hier vielleicht ein Irrtum vorliege – schließlich assoziiert man Elterntage mit Kitas und Schulen, nicht aber mit Universitäten –, dem sei gesagt: Nein, Sie haben richtig gelesen. Und das liegt nicht nur an der G8-Regelung, die Siebzehnjährige an die Universitäten bringt, sondern der Elterntag, so heißt es auf der Homepage der Universität, biete Eltern die Gelegenheit, sich über die vielfältigen Beratungs- und Betreuungsangebote, aber auch über die Lebens- und Studienbedingungen am Universitätsstandort zu informieren. Die Gäste können Ateliers, Werkstätten und Laboratorien besichtigen, an Vorlesungen teilnehmen und mit Lehrenden und Studierenden ins Gespräch kommen. Da die Ernährung ein bedeutender Baustein des körperlichen Wohlergehens ist, sind die Eltern auch in der Mensa herzlich willkommen.
Es spricht erst einmal alles dafür, sich intensiv für das Leben seines Kindes zu interessieren, ihm in einer durchökonomisierten Welt mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Allerdings existiert ein gravierender Unterschied zwischen Interesse und Überbehütung. Sobald man gemeinsam mit seinem Kind universitäre „Schnuppertage“ verlebt, Kurse auswählt und einen Stundenplan entwirft, stellt sich die Frage, ob das Kümmern nicht in Wahrheit pathologische Ausmaße angenommen hat. Dass „overparenting“ keine auf die Kindheitsphase beschränkte Obsession darstellt, ist auch ein trauriges Zeichen dafür, dass offenbar viele Eltern von ihrem eigenen Leben derart angeödet sind, dass sie sich lieber auf das ihrer Kinder stürzen.
Kinder haben in unserer Gesellschaft Seltenheitswert, was sie zu einem kostbaren Gut macht. Gegenüber Minderheiten verhält sich das soziale Umfeld nie gleichgültig, sie werden entweder benachteiligt oder hofiert. Gefahren birgt beides. Je wohlgeratener, talentierter, niedlicher (und später erfolgreicher) sie sind, desto besser lassen sie sich präsentieren. Die bürgerliche, von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht ist besonders anfällig, sich in „helicopter parents“ zu verwandeln, ihre Kinder permanent zu umkreisen, sie emotional und materiell zu verwöhnen und zu verhätscheln. In diesem überbehüteten Mikrokosmos kommt es durchaus vor, dass das vergessene Pausenbrot dem Nachwuchs in die Schule hinterhergekarrt wird. Da schreibt die Mutter gern auch nachts den Deutschaufsatz oder löst ein paar Mathematikaufgaben. Die Frage lautet nicht: Was kann mein Kind tun?, sie lautet: Was kann ich für die Erfolgsbiographie meines Kindes tun?
Als zum Beispiel Hamburgs Senat vor einigen Jahren eine große Bildungsreform ankündigte und die sechsjährige Primarschule einführen wollte, damit die Bildungschancen für Kinder aus allen sozialen Schichten steigen, protestierte das entrüstete Bürgertum aus Angst, dass seine Kinder mit Hartz-IV-Kindern lernen müssen. Großeltern, Eltern und Kinder zogen durch die Straßen der Innenstadt. Vom „Gucci-Protest“ war die Rede. Die Sorge, das Kind könnte nicht als Premiumprodukt in den Markt entlassen werden, ist enorm.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Der Raum für Schwäche, Durchschnittlichkeit und Verletzlichkeit schrumpft. Scheitern wird als Makel interpretiert. Es ist schlicht nicht vorgesehen. Doch wer abgeschirmt in einer watteweichen Welt aufwächst, in der die Eltern panisch versuchen, den Schmerz des Scheiterns fernzuhalten, als handele es sich um ein lebensbedrohliches Virus, der wird einer entscheidenden Erfahrung beraubt: derjenigen der Niederlage. Es ist ja ganz einfach: Nur wer fällt, kann auch wieder aufstehen. Das nötige Handwerkszeug muss erworben werden. Ansonsten endet das behütete Kind als Realitätsverweigerer.
Es dürfte kaum verwundern, dass für jene verzärtelten, zur Lebensuntauglichkeit erzogenen Charaktere die Zumutungen des Universitätsalltags ein Schock sind. Weshalb sollte jemand, der nie für sich selbst kämpfen musste, eine Notwendigkeit darin erkennen, ausgerechnet während des Studiums damit zu beginnen? Und wie sollte man eine durchdachte Entscheidung treffen, wenn einem der Prozess der Entscheidungsfindung fremd ist? Die Soziologin Laura Hamilton von der Universität von Kalifornien fand in einer Studie heraus, dass eine großzügige finanzielle Unterstützung der Eltern nicht automatisch zu guten Prüfungsergebnissen führt. Im Gegenteil. Mit der steigenden Unterstützung verschlechtern sich die Noten. Naturgemäß bereitet es eben mehr Spaß, das Geld der Eltern auszugeben, anstatt zu lernen. Es fehlt der Druck, die Angst, zu versagen, die einen – in Maßen natürlich – häufig erst zu Höchstleistungen antreibt.
Ein schönes Beispiel dafür, wie weit die Informationsmanie etlicher Eltern ebenso wie die Unfähigkeit der Alltagsbewältigung ihrer Kinder reichen, ist das Kommunikationsverhalten. Chris Segrin, der an der Universität von Arizona lehrt, hat mehr als tausend Studenten und deren Eltern befragt. Das Ergebnis: Die jungen Erwachsenen kommunizieren im Grunde fortwährend mit den Eltern, per Mail, SMS, Chat, Facebook oder Handy, und zwar nicht, um sich gegenseitig zu versichern, man sei wohlauf, vielmehr, so Segrin, gehe es meist um Fragen wie: „Wie kann ich …?“, „Willst du …?“ und „Kannst du …?“. Die Technologie verführt zum Banalitätenaustausch, der wiederum aberwitzige Ausmaße annimmt. Für den modernen Studenten muss es unvorstellbar sein, dass auf einem Campus einst nur eine Handvoll Telefonzellen herumstanden, von denen die Hälfte nicht funktionierte.
Schon vor einigen Jahren sprachen die amerikanischen Wissenschaftler Jean M. Twenge und Keith Campbell von einem regelrechten Narzissmus-Virus. In einer Langzeitstudie legten sie zwischen 1976 und 2006 Studenten immer wieder Fragebogen vor, in denen sie sich zu folgenden Aussagen äußern sollten: „Ich habe ein natürliches Talent, Menschen zu beeinflussen“, „Ich kann in Menschen lesen wie in einem offenen Buch“, „Ich würde gerne meine Biographie schreiben“, „Würde ich die Welt regieren, wäre sie besser“, „Ich bin eine ganz besondere Person“. Die Antworten gaben bis zum Jahr 2000 keinen Grund zur Sorge, plötzlich aber nahm die Leidenschaft für das eigene Ich sprunghaft zu, und dreißig Prozent mehr Studenten erkannten sich in den Aussagen wieder. „Der Narzissmus“, schreiben Twenge und Campbell, „hat zugenommen wie die Fettsucht.“ Die Selbstdarstellungsplattformen im Netz, so die Wissenschaftler, spielten ihm dabei ebenso in die Hände wie einst die inflationäre Vergabe billiger Kredite. Wir erinnern uns an die Botschaft: Führe endlich das Luxusleben, das du verdient hast!
Fest steht, dass die Ausbreitung infantiler Verhaltensmuster unaufhörlich voranschreitet. Leider sieht es nicht danach aus, als würde sich daran bald etwas ändern. So erzählen einem Professoren von Eltern, die als wütende Anwälte ihres Kindes in der Sprechstunde auftauchen, um über die ihrer Meinung nach ungerechte Benotung der letzten Arbeit zu diskutieren. Man erfährt von einer Studentin, die sich vierzig Minuten beraten lässt, wo sie am besten ein Auslandssemester verbringen könnte, und sich schließlich entscheidet, den Sommer doch lieber mit der Mutter auf Mallorca zu verleben. Ein Student kommt Wochen zu spät ins Seminar, möchte noch aufgenommen und mit dem bereits durchgenommenen Stoff versorgt werden – und fragt unschuldig, ob er zwei weitere Sitzungen fehlen könne, weil er mit Freunden dieses Haus am Meer gemietet habe.
Die Universitäten sollten sich gut überlegen, ob sie wirklich weiterhin Elterntage veranstalten und die Unselbständigkeit so vieler Studienanfänger in einem ohnehin absurd verschulten System weiter fördern möchten oder ob es nicht klüger wäre, den Studierenden stattdessen etwas Entscheidendes zu vermitteln: dass mit dem Studium tatsächlich ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Auch für die Eltern. Melanie Mühl