Meinhard Miegel hat Recht. Er ist noch immer der Einzige, der ohne Schaum vor dem Mund die wichtigen Fragen benennt. Seit wie viel Jahren???? Gefühlten unendlichen.
Wenn man ihn liest, erkennt man, wie sich eine andere Wahrnehmung über das politische Tollhaus legt. JA, die ökologische Frage ist noch nicht gelöst, nein, das Problem der Kinderlosigkeit ist noch nicht gelöst. Und es ist auch nicht abzusehen, dass sie mit finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen zu lösen ist. Das sind mittelschichtsfixierte Wohlfühlprämien, keine Lösungen.
Eine einfache Lösung gibt es nicht. Aber einen Korridor. Und der lautet, dass sich diese Gesellschaft vom Individualisierungswahn lösen muss. Maximierung des eigenen Einkommens.
Erkenne: Mehr Geld bringt nicht mehr Glück.
Und damit bekommen alle anderen Debatten einen anderen Stellenwert. Was heisst Zusammenhalt einer Gesellschaft? Wie gelingt es, dass sich Menschen wieder selber helfen anstatt den Nachbarn ans Sozialamt zu verweisen? Wann kümmern sich die Nächsten wieder um ihre Nächsten? Wann bezieht sich Gesellschaft wieder auf sich selbst. Zumindest mehr.
Auf alles das gibt es noch keine Antwort. Weil die Politik in sinnlosem „Weiter So“ Modus gefangen ist. Weil Politik keine Orientierung gibt. Selbst nicht, indem sie einfach nur sagt, wir haben auch keine Lösung, aber wir wollen daran mitarbeiten, dass wir eine finden.
Aus dem Handelsblatt:
Unter der Zipfelmütze
Meinhard Miegel kritisiert, dass die Große Koalition die entscheidenden Themen nicht anfasst: Gerade in der Familien- und Bevölkerungspolitik reagiere die Politik lediglich mit Geld. Doch damit wird das Problem der zunehmenden Kinderlosigkeit nicht gelöst.
Meinhard Miegel | Mittwoch, 18. Dezember 2013, 20:00 Uhr
Regieren ist ganz einfach. Jede Kochfrau kann es. Dieses Diktum Lenins scheint in der Koalitionsvereinbarung von Union und SPD lautstarken Widerhall gefunden zu haben. Damit ist nichts gegen Kochfrauen gesagt, die für das Wohlergehen eines Gemeinwesens unverzichtbar sind. Ob aber gerade sie das berufendste Personal sind, wenn es darum geht, für die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde und das bevölkerungsreichste Land der Europäische Union politische Blaupausen für die Zukunft zu zeichnen, darf bezweifelt werden.
Doch irgendwie trägt das Vertragswerk ihre Handschrift. Es ist ein Sammelsurium von Herzenswünschen, das vor allem vom Willen zur Macht zusammengehalten wird: Mindestlohn, früherer Renteneintritt, bessere Mütterversorgung, Autobahnmaut; während die wirklich wichtigen Herausforderungen – die fehlende Nachhaltigkeit der derzeit praktizierten Wirtschafts- und Lebensformen, die zügig voranschreitende Erosion des demografischen Fundaments oder die zunehmende Labilität Europas – allenfalls gestreift werden.
So hieß es beispielsweise noch zu Beginn der zurückliegenden Legislaturperiode: „Im vor uns liegenden Jahrzehnt entscheidet sich …, ob wir insgesamt eine Art des Wirtschaftens finden, die nicht mit den Grundlagen ihres eigenen Erfolgs Raubbau treibt.“ Inzwischen sind drei Jahre vergangen, aber noch immer befindet sich die Weltwirtschaft – von der deutschen Wirtschaft ganz zu schweigen – weit außerhalb der ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen der Erde und noch immer geht ökonomischer Fortschritt in der Regel einher mit ökologischem Raubbau.
Die politische Schlussfolgerung hieraus müsste sein: Erstens, lasst uns unseren Wissens- und Könnenstand so weit heben, dass wir auch ohne Raubbau an der Natur auskömmlich leben können. Und, zweitens, lasst uns, solange dieses Ziel nicht erreicht ist, Zurückhaltung mit einer Wirtschaft üben, die nur unter Bedingungen ökologischen und sozialen Raubbaus floriert. Zu Ersterem findet sich einiges Konstruktive im Koalitionsvertrag. Zu Letzterem fiel den Koalitionären hingegen nichts Intelligenteres ein, als ebendiese vorerst weiter auf Raubbau gründende Wirtschaft nach Kräften anzukurbeln. Für den Leiter der philippinischen Delegation auf der unlängst zu Ende gegangenen Uno-Klimakonferenz in Warschau ist das „Wahnsinn“.
„Wahnsinn“ ist die Familien- und darüber hinaus die Bevölkerungspolitik der Koalitionäre sicherlich nicht. Sie ist aber weder vorausschauend noch zielführend. Die Politik ist offenbar unfähig, Prioritäten zu setzen. Da ersetzt sich eine Bevölkerung seit mehr als 40 Jahren ohne Anzeichen einer Trendwende zu nur noch zwei Dritteln in der Zahl ihrer Kinder – und wie reagiert die Politik? Mit Geld, noch mehr Geld und einer „besseren Verträglichkeit von Beruf und Familie“. Das hat doch bereits aberwitzige Summen gekostet, mehr Freude an Kindern vermochte es nicht zu wecken.
Wie sollte es auch? Eine Gesellschaft, die fast manisch auf ihr ökonomisches Fortkommen fokussiert ist, in der Erwerbsarbeit mehr zählt als alle anderen Arbeitsformen, in der beruflicher Erfolg den Status bestimmt – eine solche Gesellschaft ist kein Biotop für Kinder, gleichgültig, wie viele Kitaplätze und Ganztagsschulen sie bereitstellt. Da kann es nicht wundern, wenn ein Drittel der jungen Männer und Frauen dieses Landes erklärt: Bitte kein oder allenfalls ein Kind.
Und schließlich Europa. Die Koalitionäre scheinen diesen unseren gemeinsamen Lebensraum weitgehend verdrängt zu haben. Dabei bröckelt er sichtbar. Unter den größeren Ländern gibt es nur noch in Polen, Deutschland und Italien zwar schwindende, aber immerhin noch pro-europäische Mehrheiten. In den anderen Ländern liegt die Zustimmung zur EU teilweise weit unter 50 Prozent, und immer mehr Menschen bezweifeln, ob ihnen dieser Kontinent überhaupt noch etwas zu bieten hat.
Ganz im Geiste, den auch dieser Koalitionsvertrag atmet, ist Europa zu einer weithin monetären Angelegenheit geschrumpft, eine Entwicklung, die durch die Euro-Turbulenzen zusätzlichen Schub erhielt. Und was macht das Land, dessen Bevölkerung so groß ist wie die von 17 der 28 EU-Länder und das fast ebenso viel erwirtschaftet wie drei Viertel der Mitgliedstaaten zusammengenommen? Es zieht sich die Zipfelmütze über Augen und Ohren und ereifert sich über Maut, Mietpreise, Minijobs und Mütterrenten.
Dieser Artikel wurde Ihnen aus der ‚Handelsblatt Live‘-App für das iPad versendet.
Holen Sie sich die App unter: http://apps.handelsblatt.com/live-app/
(c) Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Nutzungsrechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.