Sie werden in Scharen über ihn herfallen, die Bildungsstalinisten in bester Absicht. der Philosophieprofessor Nidda Rümmelin fordert Wertschätzung der Berufsausbildung anstatt alle in die Zwangsjacke des Studiums zu stecken.
Wie man das beurteilt, kommt darauf auf, ob man nur auf internationale Bildungsstatistiken guckt, bei denen das Heil in der Studienquote liegt, oder man auch darauf sieht, ob man durch einen verschulten Einheitbildungszwang Jugendlichen und Jungen Erwachsenen die Lust am Lernen und Arbeiten nimmt oder nicht. Es darf bezweifelt werden, dass mehr Studierende mehr Wohlstand schaffen, es kommt darauf an, was sie studieren. Und es darf bezweifelt werden, dass immer mehr Menschen sich immer mehr blutleere Schul- und Studienjahre antun wollen, weil manche einfach in der Praxis lernen. Oder dieses bildungsbürgerliche Getue in der Schule nicht verstehen.
Wichtiger als alle durch die Schulen und Hochschulen zu schleusen, von denen schon Pierre Bourdieux schon wusste, dass sie vor allem Klassensturkturen zementieren, ist es, hinzugucken, wie man den Heranwachsenden Menschen Entfaltungsmöglichkeiten einräumt. Durchlässigkeit und die Anerkennung für praktisch erworbenes Wissen ist da besser als blutleere Einheitsbildung.
FAS, SONNTAG, 01. SEPTEMBER 2013
POLITIK
Studieren zu viele?
Chef der SPD-Grundwertekommission sieht „Akademisierungswahn“
elo./mwe. Berlin. Wird in Deutschland zu viel studiert? Der Philosoph und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Julian Nida-Rümelin, ist dieser Ansicht. Er kritisierte, dass immer mehr junge Menschen studieren, statt eine Ausbildung zu machen. „Bald laufen die Studenten den Azubis den Rang ab. Das finde ich falsch“, sagte er der F.A.S. „Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen.“
Widerspruch erhielt Nida-Rümelin von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Sie sagte der F.A.S.: „Wenn jetzt mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs studieren, ist das ein unverzichtbarer Beitrag für unseren Anschluss im internationalen Vergleich.“ Allerdings müsse gleichzeitig die berufliche Bildung gestärkt und attraktiver gemacht werden. „Es müssen wieder mehr Betriebe ausbilden, mindestens 30 Prozent statt der heute 22 Prozent“, forderte Nahles. Ausbildung und Studium dürften nicht als zwei getrennte Säulen betrachtet werden. Vielmehr müssten sich die Hochschulen für Menschen, die eine Berufsausbildung, aber kein Abitur haben, öffnen und ihnen mehr angemessene Angebote machen.
Nida-Rümelin, der in den Jahren 2001 und 2002 Kulturstaatsminister unter Bundeskanzler Gerhard Schröder war, zeigte sich überzeugt, dass die „besondere Stärke“ des deutschen Bildungssystems darin bestehe, eine hochwertige Berufsausbildung weiter im dualen System zu machen: „Das kann aber nur funktionieren, wenn die Mehrzahl eines Jahrgangs weiter in die berufliche Lehre geht, nicht eine kleine Minderheit.“ Er wies darauf hin, dass es in Deutschland bald 60 Prozent Studienberechtigte gebe; in einigen Städten seien es bereits 70 Prozent: „Meine These ist, dass sich daraus eine neue Qualität ergibt – eine negative.“ Der Philosoph bekräftigte, die soziale Herkunft dürfe nicht darüber bestimmen, wer Erfolg hat und wer nicht.
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) widersprach Nida-Rümelin. „Wir freuen uns über das große Interesse am Studium und investieren Milliarden für gute Bedingungen an den Hochschulen“, sagte sie der F.A.S. Zugleich wisse man um den Wert des dualen Ausbildungssystems. Wanka hob die Gleichwertigkeit von Studium und Ausbildung hervor. Die Ministerin sagte: „Es ist falsch, zwei anerkannte Stärken unseres Bildungssystems gegeneinander auszuspielen.“
Widerspruch bekam Nida-Rümelin auch vom bildungspolitischen Sprecher der SPD–Bundestagsfraktion, Ernst-Dieter Rossmann. „Nein, einen Akademisierungswahn sehe ich nicht“, sagte er der F.A.S. Vielmehr habe Deutschland immer noch zu geringe Akademikerquoten. Die zunehmend wissensbasierte Wirtschaft lasse gerade den Bedarf bei den Hochqualifizierten stark steigen. „Jeder Studierende wird gebraucht.“ Wie Nahles warb Rossmann für mehr Durchlässigkeit zwischen Ausbildungsberuf und Studium. „Damit wir das künstliche Entweder-oder zwischen beruflicher und akademischer Bildung überwinden, müssen wir mehr Brücken zwischen beiden Bildungswegen bauen, damit die jungen Menschen nicht zu früh Sackgassen befürchten müssen.“
In diese Richtung argumentiert auch der bildungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Patrick Meinhardt. „Gute Gesellen und Meister müssen ganz selbstverständlich studieren können“, sagte er der F.A.S. Kombi-Angebote von Ausbildung und Studium sollten noch attraktiver werden. Siehe Seiten 3 und 33