Und auch das zweite große Blatt nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Süddeutsche, allen voran der eigenwillig knorrige Schreiber, Heribert Prantl bringt diese neue Koalition gleich auf das richtige Bild. Narrenschiff. Manchmal reibt man sich in dem nun herannahnenden November die Augen. Was da, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, aus dem Nebel aufsteigt. Merke: Es ist einfacher, eine Statistik zu fälschen als die Realität anzuerkennen. Diese Ursache des Scheiterns der DDR gilt auch für das wiedervereinte Deutschland. Was waren die Sozialdemokraten doch ehrlich gegenüber den echten Technokraten der Macht. Nee, von Geld verstehen die nicht mehr. Der Prantl’sch Kommentar:
Das Narrenschiff
Von Heribert Prantl
Die Welt will betrogen sein. Es ist dies eine sehr alte Erkenntnis, und die sehr neue schwarz-gelbe Koalition macht sie sich zu Nutze. CDU/CSU und FDP bewältigen die finanziellen Folgen der Bankenkrise just mit dem Trick, der die Banken in die Krise geführt hat. Die Banken haben mit Schattenbilanzen gearbeitet, sie haben die riskanten Geschäfte ausgelagert. So ähnlich macht das jetzt auch die schwarz-gelbe Koalition: Sie lagert die gigantischen Schulden in einen Schattenhaushalt aus – um neue Schulden zu machen und um so, wie im Wahlkampf versprochen, Steuern senken zu können.
Die versprochenen Steuersenkungen, von denen schon im Wahlkampf jeder wusste, dass sie auf reelle Weise nicht finanzierbar sein werden, werden nun auf unreelle Weise ermöglicht: Die Schuldenbremse, soeben im Grundgesetz installiert, wird einfach umgangen. Ihre Installation war auf eine berechtigte Forderung der FDP zurückgegangen. Nun ist die Bremse da, kommt aber auf Betreiben eben dieser FDP nicht zum Zuge. Ist das Betrug? Natürlich ist das Betrug, aber kein strafbarer, schon deswegen nicht, weil die Wähler ja in diesen Betrug eingewilligt haben. Jeder hat gewusst, dass sich das Land Steuersenkungen nicht leisten kann. Aber die verlockenden Versprechungen zumal der FDP hat man trotzdem gern gehört.
Wer die Wahl hat zwischen einem Großsprecher, der viel verspricht, und einem Großsprecher, der wenig verspricht, der wählt halt den, der viel verspricht. Vielleicht, so das Kalkül, hält der ja sein Versprechen, wenn auch mit unlauteren Mitteln; und wenn nicht, ist man mit dem lockenden Großsprecher nicht schlechter dran wie mit dem, der von vornherein wenig versprochen hat. Das ist das unredliche Kalkül vieler Wähler. Es korrespondiert mit den unlauteren Wahlversprechen. Auf beiden Seiten geht es um Nützlichkeit: Der eine denkt an den Wahlsieg, der andere an sein Säckel. Dieser kleine dialektische Machiavellismus macht die Empörung über „Betrug“ und „Farce“ nur eingeschränkt glaubwürdig.
Die Welt will betrogen sein: So steht es seit einem halben Jahrtausend im „Narrenschiff“ des Sebastian Brant; Albrecht Dürer hat dazu köstliche Holzschnitte fabriziert. Und so ist das Buch eines der erfolgreichsten Bücher der europäischen Literatur geworden, so erfolgreich, dass es jetzt in Berlin neu aufgelegt wird, ohne Bilder von Dürer diesmal: In der Neuauflage heißt das Buch, ganz unköstlich, Koalitionsvertrag. Aber auch diesmal handelt es sich um eine Satire. Vor allem deswegen, weil die „Haushaltswahrheit“ und „Haushaltsklarheit“, einst heilige Wörter für die FDP, auf einmal nichts mehr bedeuten. Die Zeiten, so meint Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, seien so schwierig, dass man zu besonderen Maßnahmen greifen müsse; soll heißen: Der Zweck heilige die Mittel.
Aber der Satz stimmt nun einmal nicht, wie Leutheusser-Schnarrenberger selber am besten weiß. Dieser Satz war viele Jahre lang die Maxime der deutschen Sicherheitsgesetze. Leutheusser-Schnarrenberger selbst ist einst als Justizministerin zurückgetreten, weil sie auch für den guten Zweck dem Lauschangriff nicht zustimmen wollte. Und soeben, in den Koalitionsverhandlungen, hat sie versucht, die durch Sicherheitszwecke angeblich geheiligten Mittel wieder einzuschränken. Aber wenn es nicht um Freiheit und Bürgerrechte geht, sondern um Steuersenkungen, dann ist der FDP wieder alles recht, fühlt sie sich an nichts mehr gebunden, auch nicht an das Grundgesetz, das Haushaltsklarheit verlangt.
Wann heiligt der Zweck die Mittel? Wohl dann, wenn für denjenigen, der die Mittel einsetzen will, der Zweck heilig ist: Für die FDP ist das dann der Fall, wenn es um Steuer- und Abgabensenkungen geht. Für Schäuble dann, wenn es um die innere Sicherheit geht. Wann heiligt ausnahmsweise der Zweck die Mittel wirklich? Wenn der Zweck besonders gut ist! Und wann ist er das? Diebstahl wird nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Dieb die Hälfe des Geldes für die Krebshilfe stiftet. Und Folter wird nicht zur guten Tat, weil man so das Versteck des entführten Kindes herausbekommen will. Der Satz vom Zweck signalisiert immer ein gefährliches Nützlichkeitsdenken. Er hat etwas Fressendes: Er ist Motto eines Raubbaus an den Grundsätzen des Rechts, an der Menschenwürde oder der Glaubwürdigkeit von Politik.
Die Koalitionäre weisen darauf hin, dass die Auslagerung von Schulden nichts ganz Neues sei: nach der deutschen Einheit seien die dabei gemachten Schulden ja auch in den Erblastentilgungsfonds ausgelagert worden – im Rahmen des Solidarpakts. Dieser Hinweis ist Hybris: Ein Koalitionsvertrag ist kein Solidarpakt, und die Schulden, die man zur Finanzierung von Wahlkampfversprechen verschiebt, kann nur ein Tor mit den Schulden der Wiedervereinigung auf eine Stufe stellen. Die Wiedervereinigung war die Erfüllung des Ziels der Verfassung. Nun aber geht es lediglich um die Erfüllung der irrwitzigen Wahlversprechen. Sie sollen um jeden Preis wenigstens teilweise eingehalten werden, weil man nicht eingestehen will, dass man den Mund zu voll genommen hat.
Die Toren hat Sebastian Brant einst auf sein „Narrenschiff“ verfrachten wollen. Anlegestelle ist diesmal: Berlin.
(SZ vom 22.10.2009)