Die Welt ist Corona. Und Kopfarbeiter, die zuhause sitzen, können ja mal Revue passieren lassen, was alles so los ist.
Wutbürger und Verschwörungstheoretiker. Manchmal wundert mich, wer so alles mit welcher Wahrnehmung bei mir aufschlägt. Da sind diejenigen, die nach der großen Macht im Hintergrund suchen, dem geheimen Plan, der hinter all diesen Corona-Quarantäne-Übungen steckt. Dann diejenigen, aber sie werden aber weniger, die der dringenden Meinung sind, jetzt müsste man klar Schiff machen, „denen da oben den Marsch blasen“, weil man das alles ganz anders machen müsste. Und schließlich die, die auf die Kraft der Zivilgesellschaft zählen, die „die da oben“ überwachen müssten. Watchdogs der Coronabewältigung. Nein, niemand braucht die geballte Kraft der Besserwisser. Es reicht, wenn wir offen drüber reden.
Vielleicht bin ich ja nur naiv. Ist ja nicht das schlechteste. Ich finde, die Bundesregierung macht das ganz gut. Spahn kann seine große Stärke, nämlich regieren und kommunizieren zu können, problemlos ausspielen (Was wäre wohl gewesen, wenn er jetzt Verteidigungsminister geworden wäre), der Nutzen digitaler Kommunikation wird jetzt der Ärzte- und Apothekerschaft zwangsvorgeführt, da freut sich mein Innovatorenherz. Und alle Welt näht jetzt Mundschutz. Ich hatte Glück, ich habe eine geschenkt bekommen.
Apropos Mundschutz (Nur Basismodell). Mir kommt das ja albern vor, nachdem ich es drei Tage mit mir rumgetragen habe, dann doch mal, aber nur im Supermarkt, aufgesetzt (riecht ein bißchen nach saurer Milch, obwohl ganz neu). Für Brillenträger ist er ja nicht besonders geeignet, obwohl er einen Nasenknick hat. Wie sich das Beschlagen der Brillengläser vermeiden lässt, habe ich noch nicht raus. Auch ich muss mich daran einfach gewöhnen.
Wie kommt die Welt aus der Krise? Ich finde so ein Realexperiment ja wirklich spannend. Als Grundoptimist hoffe ich einfach, dass es nicht schiefgeht, obwohl mir die lancierten Zahlen, es gäbe „lediglich 10-15 Prozent“ Rückgang im BIP doch sehr optimistisch vorkommen.nDie Ungleichzeitigkeit der Corona-Ausbrüche, die Unterschiedlichkeit in den Reaktionen dürfte für eine eng verzahnte Weltwirtschaft doch zu mehr Problemen beim Anlaufen führen als man jetzt allgemein reflektiert.
Global Governance. Wann bilden sich eigentlich neue Verhaltensmuster aus? Der Unterschied zwischen früheren und der jetzigen Krise ist doch, dass es ein exogener Schock ist, der alle Länder trifft, auch diejenigen, die es jetzt noch nicht zugeben wollen. Das Bild, dass man die Welt 2 Monate in künstliches Koma setzt, passt doch irgendwie. Aber was bedeutet das für unser „heimliches Herrschaftssystem“, den Finanzmarkt und die Börsen. Dieses faktische Bewertungs- und Umverteilungssystem ist doch quasi aus dem Ruder gelaufen, ohnehin US-dominiert, lässt sich da etwas verschieben. Der Finanzkapitalismus aktueller Prägung ist Imperialismus durch die Hintertüre. Kann es gelingen, hier die US-Dominanz zu reduzieren, gar durch neue institutionelle Arrangements die Gewichte zu verändern? Es gibt keine Weltregierung, ok. Aber Krisen könnten doch dazu führen, dass sich Formen neuer Selbstregulierung entwickeln.
Geänderte Maßstäbe. Richtig ist, dass die Fixierung auf Wirtschaftswachstum aufhört. Im Moment werden von der Politik ja einfach Wechsel für fast alles und jeden aufgestellt, um den Menschen die Angst zu nehmen. Und zu signalisieren: Wir retten nicht nur Banken. Insofern ist es ein Programm, das uns allen die Bedeutung der Politik wieder ins Bewußtsein bringt. Deutschland agiert ja aus einer relativ guten Position heraus, Lastenverteilung durch Kurzarbeitsgeld, Zahlungen an Kleinunternehmer, notfalls HartzIV Anträge, prüfungslos. Ob das alles klappt, werden wir sehen, schließlich muss das alles auch abgearbeitet werden. Es folgt die Mühen der Ebenen. Gut, dass das Wetter sich bessert. Das hebt wenigstens die Laune.
Totalitär geht nicht. Oder doch? Was mich von Anfang an befremdet hat, war die Überheblichkeit, mit der immer davon geredet wurde, totalitäre Staaten wie China würden das Ganze nicht in Griff kriegen. Der Hang, das Thema zu unterdrücken, wäre größer. Ich habe das nie verstanden. Ich bin kein Freund totalitärer Systeme. Aber ich bin doch beeindruckt davon, wie die Weltmacht China, sicher sehr robust im Umgang mit seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern, auch erfahren darin, Kritikern, Arzten oder Wissenschaftler nicht nur den Mund zu verbieten, sondern gleich einzuknasten, wenn sie zu früh warnen, wie diese Weltmacht China, wenn sie dann handelt, das durchzieht. Für mich zeigt das, dass China einfach anders ist als andere Länder. Das Land ist durchzogen von Aufstiegswillen. Ökonomisch, kulturell, es ist voller Energie. Meiner Laienansicht nach unterscheiden sich erfolgreiche aufstrebende Länder von den weniger aufstrebenden dadurch, dass sich gleichzeitig eine gesellschaftliche Mittelschicht bildet, die dem Totalitarismus des Staates etwas entgegensetzt. Und da nehme ich China als sehr lebendig wahr, auch wenn das politische Regime das unterdrücken will. Man darf als „Westler“ eben einfach nicht das institutionelle Muster des Westens, das Mehrparteiensystem anlegen, sondern muss die Entwicklung im Dreiklang von sich entwickelnder Wirtschaft, der politischen Governance (in China hauptsächlich der Frage, wie viel Diskussion in Social Media zugelassen wird) und dem Selbstbewußtsein der Bürgerinnen und Bürger, neudeutsch der Zivilgesellschaft, betrachten.
Und da ist viel Musik drin. Und Gegenfrage: Was sagen wir dann zu Indien, der größten Demokratie der Welt? Bad Governance. Und Russland? Ein Land, das vor allem auf die Restexploration seiner Rohstoffe setzt. Ansonsten viel Stagnation, wenngleich, da würde ich den Minderheitsstimmen hier im Lande recht geben, vom Westen, vom Diktat der USA, gezwungen.
Apropos USA. Wenn jemand irrlichtert, dann die starke Macht des Westens. Jedes Land hat seine eigene Pfadabhängigkeit. Und in den USA ist das Leitbild nun mal „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Das Glück ist mit den Tüchtigen. Oder: der Erfolg ist mit den Glücklichen. Mein Erklärungsmuster: USA, das ist das Land mit einem ganz dünnen zivilgesellschaftlichen Firnis. Wie der „wilde Westen“. Jeden Abend Wagenburg und Waffenstillstand zwischen denen, die sich in der Wagenburg wiederfinden. Und am nächsten Tag wieder: Jeder gegen jeden.
Mich wundert ja diese Naivität, in der Medien und Öffentlichkeit alle Gesellschaften dieser Welt in Freiheitliche und Totalitäre trennen. Tatsächlich sind es doch zwei Dimensionen, die eine Rolle spielen: Wohlstand oder Wohlergehen (Erst kommt das Fressen, dann …. ) und das Recht jedes Einzelnen, seine Meinung zu sagen, sich einzumischen oder, ökonomische Freiheit, das unternehmerisch zu entwickeln, was ihn bewegt.
Die Nachrangigkeit gesellschaftlicher Absicherung zeigt sich jetzt in den USA. 10 Millionen Arbeitslose innerhalb von zwei Wochen. Erst wenn uns das bewußt wird, können wir ermessen, welch hohe Leistung unser Sozialstaat ist. Auch, wenn wir jetzt noch nicht wissen, ob wir das alles in unserem Zahlen- und Weltbild geregelt kriegen. Aber es ist wenigsten der Versuch da, das gemeinschaftlich zu bewältigen.
Andererseits: Gemeinschaftlich heißt eben nicht europäisch. Auch das wird uns jetzt wieder klar. In der Krise handelt jedes Land erst mal alleine. Und erst dann kommt, auch wenn wir jetzt eine ganz eifrige, kryptosozialdemokratische, deutsche Kommissionspräsidentin französischer Gnaden haben, Europa zum Zug. Das Ärgerliche: Europa inszeniert sich leider wieder mal als „Schwatzbude“. Und Deutschland und die Nordländer sind wenig kreativ, einerseits die Notwendigkeit solidarischer Finanzierung und andererseits die Notwendigkeit, „Good Governance“ auf nationaler Ebene zu verfolgen. Da müsste es doch eine Lösung geben. Und nicht nur faule Formelkompromisse. Noch ist es nicht aller Tage Abend!
Der schwarze Schwan. Von Nicolas Taleb wird ja jetzt gerne geredet. Der aber sagt: Der Schwan ist nicht schwarz, sondern weiß. Weil man wusste seit langem, dass eine Pandemie kommen kann (spätestens das ist der Punkt, an dem wieder alles mit allem zusammen hängt, also auch die Corona-Krise mit der ökologischen Herausforderung, in diesem Falle der Artenvielfalt). Viel interessanter als das „schwarze Schwan – Weisser Schwan“ Modell finde ich seine, freilich nicht so griffigen Überlegungen in seinem Buch „Antifragilität“. Das Buch ist so eine Art Wahrnehmungsraster, das man erst etwas auf sich wirken lassen muss. Der deutsch linksliberale Reflex ist ja, dass wir immer „superstabile“ Systeme bauen wollen. Krise, also Sozialstaat verstärken, zentralisieren, was auch heißt, standardisieren. „Antifragilität zeichnet aber eine andere „Bewältigungsstrategie: Robustheit, Resilienz dadurch herzustellen, dass Subsysteme von sich aus handlungsfähig sind, sich also „das System“ bottom up restrukturiert. Das würde allerdings auch darauf abzielen, den einheitlichen Blick „von oben“ aufzugeben oder nur ganz grob abzuschätzen und zu beobachten, nachzuvollziehen oder subsidiär zu unterstützen, was entsteht.
Sehr komplex. Und sehr im Widerspruch zu unserer spontanen Wahrnehmung.
Schönen Tag auch! Ich bin ja in einer Zeit und einer Kohorte (der grünen Kohorte) aufgewachsen, für die „der Himmel offen“ schien. Also, Politik ist machbar, Herr Nachbar. Bis zum Fall der Mauer, ich gebe es zu, war auch mein Weltbild so, dass ich dachte, Politik kann die Welt steuern. Aber nein, dass war mein westdeutsches Mittelschichts-, Wohlstandskind-, Wahrnehmungsmodell (und schon Tschernobyl hätte uns klarmachen können, dass die externe, unerwartete Ereignisse die Welt wesentlich mehr prägen, oder besser, wie ein Gegenmodell prägen. Im „Normalbetrieb“ herrscht politisch-kulturell-soziostruktureller „Stellungskrieg“, natürlich immer, sehen wir von der AfD ab, freundlich getarnt. Versprechenswettbewerb. Wenn da das unvorhergesehene Ereignis, Tschernobyl, Fall der Mauer, 9/11, Fukushima, Corona eintritt, etablieren sich schlagartig andere Wahrnehmumgsmuster. Interessantes Phänomen, aber wie alle seltenen Ereignisse oder mittelfristigen Veränderungen spielen sie in der politischen Debatte nicht die Rolle, die sie sollten. Disruption, egal, ob durch Technologie oder durch schlagartig einsetzende Ereignisse, verändert eben nicht nur die Welt, sondern auch die Art, wie wir auf die Welt sehen.
Das besser zu verstehen und damit umzugehen, würde uns, da bin ich sicher, sehr helfen, die Welt angemessen in unserem Sinne zu verändern.
Stoff zum Nachdenken.