Pflichtlektüre: Anke Stelling, Bodentiefe Fenster, Psychogramm der linksalternativen Subkultur.
4. August 2015 von Nikolaus
Anke Stelling: Bodentiefe Fenster. Verbrecher-Verlag, 2015
Wer, ohne Häme, aber mit kritisch-soziologischer Distanz mal wissen will, was die Generation Prenzelberg so umtreibt, dem sei dieses Buch empfohlen. Wer am Prenzlauer Berg wohnt, oder neuerdings wieder in Kreuzberg, im Pankow oder im Wedding, und einmal kräftig über sich selber lachen will, dem sei dieses Buch empfohlen.
Ein atemberaubendes Buch, Psychogramm einer Generation und einer Subkultur, die linksalternativ begonnen hat und jetzt, als soziokulturelle Avantgarde, im Zentrum der Gesellschaft angekommen ist: alternativ, mit enorm hohem Anspruch. Und Wohnprojekt am Prenzlauer Berg. Die Autorin stochert mit aufmerksamem Blick in ihrem Umfeld, nimmt wahr, was ist, beschreibt mit enormem Witz, seziert, mit leichter Hand. Der Leser, die Leserin soll selbst sehen.
Was sie bloßlegt: Eine Generation, die Konflikte nicht ertragen kann, obwohl ihre Eltern immer vom Kampf und der Auseinandersetzung geredet haben: „Alles verändert sich, wenn Du es veränderst“, war die Parole. Oder „Einer ist keiner, zwei sind mehr als einer. Sind wir aber erst zu dritt, machen alle anderen mit“, wie das Gripstheater es beschrieben hat. Man muss es nur wollen, lautete die Parole.
Alles Kinderglauben? Sandra, etwas über Vierzig, verheiratet, zwei Kinder, ist unglücklich. Midlifecrisis könnte man es nennen. Sie hadert mit ihrem Leben, um sich gleichzeitig einzugestehen, dass sie es doch eigentlich gut hat. Sie beobachtet all ihre Freundinnen und Freunde, die Kinder derselben, genervt von den Eltern, den Kindern, den anderen. Und gleichzeitig genervt von sich selbst. Weil sie, reflexiv aufgewachsen, doch gar kein Recht hat, die anderen so runterzuputzen. Innerlich, selbstverständlich, obwohl ihr manchmal der Kragen platzt.
Eine Generation mit Beißhemmungen. Verständnisvoll gegenüber allem und jedem, aufgeklärt, und innerlich ergänzt man, alle Grünwählerinnen und Wähler. Aber der Wutbürger, die Wutbürgerin in ihr wächst.
Zu viel der Ratio, zu viel der Reflektion, viel Abwägung, viel Kopf, viel Unsicherheit. Wenig EINFACH TUN! Und wenig Verbindlichkeit.
Ganz ohne Häme: Es ist nicht leicht. Und „bodenlose Fenster“ zeigt, wie es ist, wenn es keine einfach strukturierte Klassengesellschaft mehr gibt. Ohne unreflektierten Rituale, Riten, Selbstverständlichkeiten wird jeder Schritt, jede Tat, jede Aktion begründungspflichtig. Mühsam. Die eigene Biographie stets burnoutverdächtig.
Das Buch ist ein Muss für jeden linksbürgerlichen Politiker. Das Buch gehört auf den Nachttisch jedes grünen Politikers, weil es vorführt, dass, wenn man allem und jedem gerecht werden will, es ganz schön ungemütlich werden kann. Allabendlich mit dem Elend der Welt konfrontiert, mit den Flüchtlingen aus Afrika, dem Krieg in der Ukraine, dem Elend in Griechenland, den Einsitzenden in Quantanamo, der Ratlosigkeit mit der Welt, die auf kuriose Weise kontrastiert mit dem anachronistisch wirkenden Planungs- und Transformationsoptimismus konzeptionell-linksliberaler Politiker. Sie wissen alles, sie wissen alles besser, einer reflexiven Wählerschaft aber macht das keinen Mut, gibt das kein Vorbild (mehr) ab, sondern führt zum #abschalten!.
Dass das Private politisch ist, war eine Botschaft, mit der die 68er ihren Marsch durch die Institutionen begonnen haben. Deren Kinder stellen jetzt fest, dass auch das Gegenteil zutrifft: Dass das Politische, bildhaft gesprochen, durch die bodentiefen Fenster, tief in die Privatsphäre eindringt. Mal sehen, wie lange die neue Offenheit vorhält. Auch bodentiefe Fenster lassen sich schließlich mit Vorhängen blickdicht machen.
Was also tun? Weiter ausharren, obwohl das ganz schön ungemütlich werden kann? Oder das neue Spießertum zelebrieren.
Tertium datur? Wir werden sehen!
Mehr Berlin-Psychogramme, aber weniger POP gibt es übrigens hier zu finden:
http://laputa-verlag.blogspot.de/2015/03/dieses-buch-ist-besser-als-pop.html
Harald Rutzen: Es gibt immer mal wieder Leute / Laputa Verlag