Die Aufgeregtheit ist weg, die Umfragewerte sinken, was machen eigentlich die Piraten. Und: Was kann man über Politik lernen, wenn man die Piraten beobachtet. Einige Thesen.
1) Die Piraten stehen für das prekäre Missverständnis von Öffentlichkeit und Politik. Und von situativer Aufmerksamkeit und unsichtbaren Prozessen. Die Piraten, die alles anders und vor allem transparent machen wollten, merken, wenn sie Verantwortung tragen, dass Transparenz alleine keinen Sinn macht. Wenn jeder alles wieder infragestellen kann, nur weil er selber gerade zu denken anfängt, geht nichts voran. Transparenz ist ein Pool, die Sicherung des gerade stattfindenden Prozesses der Konsensbildung, der konzeptionellen Klärung, der Verständigung (auf WortführerInnnen) der andere Pol. Diesen Prozess machen gerade die Piraten durch, qua Experiment. Martin Lauer hat das mit seinem Urheberrechtsgesetz jetzt durchexerziert, indem er einfach klammheilich einen Entwurf veröffentlicht hat und sich nicht um Liquid Democracy schert. Jetzt wird sich, meine These, entscheiden, ob die Piraten überlebensfähig sind, wenn verschiedene Köpfe Entscheidungskompetenzen und Führungsrollen beanspruchen. Setzen sie sich durch, geht es weiter, bleibt es beim „jeder redet zu allem und hat dabei nur sein plattes Alltagswissen einzubringen“, werden sie verschwinden, so schnell, wie sie gekommen sind.
2) Das ist kein Abgesang. Nein, vielmehr stehen die Piraten für ein konzeptionelles Gegenmodell zu den Grünen (mit denen sie auch viel gemeinsam haben). Die Partei ist geprägt von dem Gedanken: Ach, lasst es uns doch mal ausprobieren. Das Selbstverständnis ist so eine Art Release Politik. Wenn es nicht so geht, dann eben so. Darin könnte ein großes Potential dieser Partei liegen, unkonventionell, breit im Denken, offen in der Aufnahme für neues, bereit, Sachen auch wieder zu verwerfen. Führung findet dann aber noch stärker durch Personen statt, das „Liquid Modell“ würde sich auf ein „Mitreden können, seine Meinung zum Besten geben und die Karawane dann weiter ziehen lassen“ reduzieren.
3) Eine weitere Hürde für das Parteiwerden der Piraten sind die inneren Zustände, sprich Personen und Moneten. Gelingt es, genügend Menschen mit dauerhaftem Interesse, mitzumachen, zu binden? Und, gelingt es, den Mindestmitgliedsbeitrag von 10 Euro im Jahr wesentlich zu steigern, denn Politik braucht Ressourcen, das heißt auch, Geld.
4) Und schließlich: Was die Piraten mit den Grünen irgendwie eint, ist, dass sie eine echte Nachkriegspartei sind. Soll heißen, dass sie den großen Traum der gerechten Gesellschaft doch irgendwie träumen. Stellvertretend in der Frage des gesellschaftlichen Grundeinkommens. Diese Idee ist meines Erachtens Ausdruck eines in Watte gepackten Gesellschaftsmodells, in der man davon ausgeht, dass alle Menschen freiwillig und ohne Zwang arbeiten und dass selbstbestimmte Menschen immer wisssen, was sie wollen und sich entsprechend in eine Gesellschaft einbringen. Nun könnte man idealistisch sagen, dass das eine Utopie ist, der Traum einer Gesellschaft, in der alle mit Bereitschaft zu Teilen, zur Partizipation, zur Reflektion zum herrschaftsfreien Diskurs ausgestattet sind. Und hallo, jetzt heißt es mal, sich umgucken. Und Nachdenken. Europa ist, so lese ich bei Joffe in der Zeit, der Kontinent, der in der vergangenen Dekade seinen Anteil am Weltbruttosozialprodukt um rund 1/3 verringert hat. Japan auch. Das zeigt, dass am Horizont die Frage aufsteigt, wie können wir unsere Interessen, das europäische Modell des Zusammenlebens und unseren Wohlstand sichern. Tja, es geht um die Frage der Verschmelzung des Wunsches der Menschen nach einer gerechten Grundlage für das Zusammenleben und die Sicherung der eigenen Existenz, es geht um das Fressen und die Moral. Dialektik des Fortschritts.
5) In dieser Frage des Zusammendenkens, der Skizzierung eines Handlungskorridors, sind alle Parteien echte Versager. Wie können wir die Rettung des Planeten, die Rolle Europas und Deutschlands und die Sicherung der Renten und Existenzgrundlagen jedes Einzelnen zusammen denken und intelligent machen? Tatsächlich weiß das niemand. Aber es gibt auch niemand zu.
6) In dieser Frage des reflektieren Zusammendenkens von Sein und Bewußtsein, von Fressen und Moral könnten die Grünen wieder die Führungsrolle übernehmen. Aber auch da geht es um die Frage, wer sich traut, wer die Führung übernimmt in der nächsten Phase. Die Situation unserer Gesellschaft so beleuchten, dass wir die Situation und Perspektive der Welt, Europas und Deutschlands, und die jedes Einzelnen von uns, der über und unter 50 jährigen im Hinterkopf zusammenbringen könnten. Nachdem die Grünen in verschiedenen sozialen Milieus mit hoher Bindungskraft ausstrahlen, müsste einer oder eine von ihnen nur den ersten Schritt machen. Grünes Release Nr. 5, also. Nur tut das im Moment niemand. Sondern sie reden über den Alltag im Raumschiff Berlin, Koalitionsbildung, taktische Manöver, innerparteiliche Konsense.
7) Grüne sind Pioniere. In diesem Sinne müssen sie sich immer neu erfinden. Nicht aus Opportunismus, sondern weil sie wahrnehmen, dass sich die Perspektive ändert. Wenn alle die Energiewende wollen, dann geht es also um die Frage, wer die Energiewende wie mit den anderen Bereichen der Gesellschaft zusammen bringt. Es geht um Meinungsführerschaft in die Gesellschaft hinein und aus der Gesellschaft heraus. An der Schnittstelle zwischen Politik und Gesellschaft. Es geht nicht darum, wer mehr Prozente regenerativer Energie fordert. Die Grünen stehen also wieder einmal vor einer Weichenstellung. Wieder zurück ins linksgrüne, reine, Nirvana, links, klein, fein und mit Umverteilung. Oder sich das Selbstbewußtsein zu nehmen, die Dinge anzusehen, was die jetzt losgetretene Rentenfrage mit der Eurokrise und der Finanzwirtschaft und der Energiewende zu tun hat, sich mitten in die Gesellschaft zu bewegen. Die globale Perspektive mit den Alltagssorgen von jedem von uns zusammen zu bringen. Witzigerweise wäre das so was wie der „Green New Deal“, der für das „Auf den Weg bringen“, in den Mittelpunkt stellen. Nicht technokratisch, sondern mit Haltung. Die richtigen Baustellen benennen, auf denen man das zeigen kann. Die Menschen zum Nachdenken bringen, Bescheidenheit in der Frage der eigenen Mittel artikulieren, das Ende der politischen Allmachtsphantasien mit einpreisen, so in etwa sollte ein neuer Entwurf grüner Politik daher kommen.
Kann ja noch kommen. Jetzt. Oder in vier Jahren. Vielleicht ist die Not Wendigkeit noch nicht groß genug, dass jemand die Führung, die intellektuelle Führung an sich zieht.
P.S. Der Hintergrund: Lektüre von Khue Pham und Dagmar Rosenfeld in der Zeit 38/2012. „SOS. Vor einem Jahr haben die Piraten die Parlamente erobert. Jetzt sind viele ernüchtert.“