Wir haben die Wahl…..
Süddeutsche Zeitung, Titelseite, 13.09.2013
Vom Rechts- zum Sicherheitsstaat
Digitale Inquisition
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Von Heribert Prantl
In jedem Schulbuch ist dieses Bild zu sehen. Es heißt „Wanderer am Weltenrand“. Es zeigt nicht, noch nicht, Edward Snowden – obwohl auch der, seit er aus seiner US-Heimat fliehen musste, wie ein Pilger am Weltenrand unterwegs ist. Es zeigt einen altertümlich gewandeten Herrn, der auf allen vieren kraucht, just mit Kopf und Schultern das mittelalterliche Weltbild durchstößt und dahinter das Sonnensystem erblickt. Das Bild zeigt den Abschied von der geozentrischen Sicht der Welt, die die Erde als Scheibe sah, über der sich der Himmel wie eine Kuppel wölbte. Es ist ein Bild über den Vorstoß in neue Dimensionen, ein Blick in die Zukunft.
Dieser Holzstich, nach einem französischen Astronomen „Flammarions Holzstich“ genannt, illustriert die kopernikanische Wende. Nikolaus Kopernikus hat im Jahr 1543 mit seiner Schrift über die Kreisbewegungen der Weltkörper eine geistige Umwälzung ausgelöst, die auf die moderne Welt von einem so großen Einfluss war wie Luthers Reformation oder Magellans Weltumseglung. Sein Buch „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ markiert eine Epochenwende. Über die Folgen für das Selbst- und Weltverständnis der abendländischen Öffentlichkeit wird bis heute diskutiert und gestritten.
Snowden, der nun 30 Jahre alte Computerspezialist, ist natürlich kein Kopernikus. Er ist aber ein Nachfahre des Mannes auf Flammerions Holzstich. Snowden kraucht, fast 500 Jahre nach der kopernikanischen Wende, herum in der alten Welt des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts – und er schaut in eine neue umfassend überwachte Internet-Welt, von der er seit dem 6. Juni 2013 entsetzt erzählt. Snowden berichtet von einer digitalen Kosmologie, von einer radikalen und globalen Überwachungstechnik, die auf die Internetanbieter und die sozialen Medien umfassend zugreift und in deren Bestände eingreift, die aber ebenso in der Lage ist, alles, was im Internet passiert, in Echtzeit zu speichern.
Man kann das als digitale Inquisition bezeichnen. Sie tut nicht körperlich weh, sie ist einfach da, sie macht die Kommunikation unfrei. Die freie Kommunikation ist aber, so hat es das Bundesverfassungsgericht beschrieben, eine „elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen Staatswesens“. Waren die Richter, als sie das formulierten, so etwas wie die Minnesänger der alten, der vergehenden Epoche? Wenn sie recht haben und wenn eine elementare Bedingung der Freiheit elementar bedroht ist, ja womöglich schon gar nicht mehr existiert – wäre das ein Kennzeichen für die Umwandlung der Gesellschaft: in einen neuen Absolutismus, der von geheimdienstlicher Souveränität getragen wird.
Die bisherige Welt – es war die Welt, die man auch deswegen freie Welt nannte, weil die Freiheit der Menschen dort das Wichtigste war. Es war eine Welt, in der man den Staat samt seinen Geheimdiensten für einen gebändigten Leviathan halten durfte; es war eine Welt, in der die Bürger daran glauben konnten, dass der demokratische Staat ihre Grundrechte achtet und sie mittels der Gerichte verteidigt. Die bisherige Welt war eine Welt, in der man prinzipiell vom Staat in Ruhe gelassen wurde, wenn man nicht durch gefährliches oder strafbares Tun Anlass zum Eingreifen geboten hatte; man nannte das Rechtsstaat. Die Rechtsstaatlichkeit eines Staates wurde daran gemessen, ob und wie er die Grundrechte seiner Bürger einhält. Das gilt offiziell immer noch. So oder so ähnlich steht es auch in den Verfassungen der Länder der westlichen Welt. Mit anderen Staaten, die noch keine solche Verfassung haben, mit Staaten, die im Übergang von der Diktatur zur Demokratie sind, pflegt man Rechtsstaatsdialoge; Deutschland etwa führt einen solchen Dialog mit China, um so den chinesischen Sinn für die Achtung der Grundrechte zu wecken.
Die neue Welt: Snowden hat in dieser neuen Welt gearbeitet, in der die Grundrechte, die Kommunikationsgrundrechte zumal, nur noch als Bauklötzchen der alten Welt gelten, als Spielzeug. In dieser neuen Welt, von der Snowden berichtet, soll die umfassende Überwachung der Bürger und der exzessive Einsatz digitaler Technologien die Bürger vor dem Terrorismus schützen. In dieser neuen Welt wird daher die anlasslose staatliche Ausspähung der Kommunikation der Menschen zur Normalität des Lebens. Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre gibt es im Netz nicht mehr. Der Mensch wird rund um die Uhr von seinem Geheimdienst fürsorglich kontrolliert. Diese Kontrolle hat derzeit Namen wie Prism, Tempora und XKeyscore, aber solche Namen sind Schall und Rauch, morgen heißt sie schon wieder anders. Alles, immer, überall – das ist die Losung von Keith Alexander, dem NSA-Chef, der „alle Signale“ des Menschen jederzeit registrieren will, zur Sicherheit. Weil die Geheimdienste aber der Einsicht der Bürger in die Notwendigkeit dieser Überwachung derzeit noch nicht trauen, wird die globale Observation verdeckt von einer Politik der institutionalisierten Leugnung oder Verharmlosung.
Fachkreise sagen, sie seien nicht wirklich überrascht von den Snowden’schen Schilderungen. Es sei doch bekannt gewesen, „dass alle Supermächte massiv Cyberintelligence betreiben“. Es ist aber ein Unterschied, ob man ahnt, dass es da etwas gibt, oder ob man erfährt, dass und wie das en détail funktioniert. Es ist ein Unterschied, ob Fachleute davon ausgehen, dass Cyberaufklärung praktiziert wird, oder ob die Öffentlichkeit ausgiebig davon unterrichtet wird. Gewiss: Die Überwachungsarchitektur ist nicht 2013 durch Urknall entstanden; sie wird seit 9/11 aufgebaut. Ein Urknaller waren aber Snowdens gebündelte Offenbarungen.
Die Überwachungsarchitektur, die er beschreibt, ist die Optimierung dessen, was fast alle westlichen Staaten seit 9/11 praktizieren: Um Terroristen auf die Spur zu kommen, wird die Bevölkerung subtil ausgeforscht – mit Abhöraktionen, mit Überwachungs- und Datenspeicherungsprogrammen, mit der Kontrolle der Bankkonten und Computer, mit ausgeklügelten Kontrollarrangements und immer neuen Datensammlungen, bei denen Geheimdienste und Polizei kooperieren und die darauf zielen, die Mobilität und das Informationsverhalten der Bürger zu kontrollieren. Die Begründung für all das hieß und heißt: Nine Eleven. Seit dem 11. September 2001 ist die Politik der westlichen Welt dabei, ihre Rechtsstaaten in Präventions- und Sicherheitsstaaten umzubauen. Der neue Präventions- und Sicherheitsstaat zehrt von den Garantien des alten Rechtsstaats; er entsteht, indem er sie verbraucht.
Die US-Überwachungsprogramme potenzieren und radikalisieren diese Entwicklung. Die Bürger haben sich das alles bisher aus drei Gründen gefallen lassen. Erstens: Weil die Politik die Angst vor der Terrorgefahr immer wieder forciert, weshalb fast alles Billigung findet, was angeblich die Gefahr entschärfen kann. Zweitens: Weil die Bürger das Gros der Freiheitsbeschränkungen nicht spüren, die Eingriffe finden heimlich statt. Drittens: Weil die Bürger, zumal die Deutschen, daran glauben, dass die höchsten Gerichte „es“ im Notfall schon wieder richten werden. Das Wieder-Richten, das Zurücklenken in rechtsstaatliche Bahnen, funktioniert aber schon lange nicht mehr gut. Die nachhaltige Wirkung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts ist bereits im nationalen Bereich zweifelhaft. Und gegen die globale Überwachung kann das Karlsruher Gericht eh nichts ausrichten. Es ergeht ihm wie einst Walther von der Vogelweide: Der betrauerte den Verfall der höfischen Kultur und den Niedergang des Stauferreichs; aufhalten konnte er ihn nicht.
Manchmal scheint es, seien alle bürgerrechtlichen Besorgnisse aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, als hätten sie sich nur bei denen partiell erhalten, die dann „Netzgemeinde“ genannt werden. Manchmal kann man den Eindruck haben, als würden von NSA & Co. nicht nur alle Daten abgesaugt, sondern auch alle Erinnerungen an den Machtmissbrauch. Es reicht nicht, wenn nationale Gerichte die „Integrität informationstechnischer Systeme“ als Grundrecht postulieren. Daraus wird Nostalgie, wenn eine solche Forderung nicht von einem globalen Zeitgeist getragen und dann Kern eines neuen Internet-Völkerrechts wird.
Es bedarf einer digitalen Bürgerrechtsbewegung, die sich mit neuen Formen des zivilen Ungehorsams gegen die globale Observation wehrt. Es braucht einen Bewusstseinswandel, der es nicht mehr hinnimmt, dass mit 9/11 ein neues Überwachungszeitalter begonnen hat. Bürger sind nicht die Untertanen eines Überwachungsapparates; sie müssen diesen Apparat (wo er, in eingeschränktem Umfang, notwendig ist) rechtsstaatlich kontrollieren. Noch ist die Empörung über die digitale Inquisition zu schwach. Wenn diese Empörung nicht wächst, kann aus der Überwachung Gewohnheit werden. Dann kann es passieren, dass die Generation derer, die nach dem Jahrtausendwechsel geboren ist, die totale Kontrolle ihrer Kommunikation als normalen Preis empfindet, den man dem Internet zu entrichten hat. Das ist es wohl, was Edward Snowden befürchtet, wenn er sagt: Meine größte Sorge nach meinen Enthüllungen ist, dass sich nichts ändert. Dem chemischen Element 112 wurde am 19.2.2010, am 537. Geburtstag des Nikolaus Kopernikus, der Name Copernicium verliehen. Sollten die Snowden’schen Enthüllungen zu einem Bewusstseinswandel, zu einer globalen Sensibilität für den Wert der Kommunikationsgrundrechte führen – man könnte nichts dagegen haben, wenn eines Tages ein neu entdecktes chemisches Element Snowdenium hieße.
Heribert Prantl
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Prof. Dr. Heribert Prantl lehrt als Honorarprofessor für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Er hat Recht, Geschichte und Philosophie studiert, parallel dazu eine journalistische Ausbildung gemacht und im Urheberrecht promoviert. Bevor er 1988 als rechtspolitischer Redakteur zur SZ ging, war er Staatsanwalt und Richter in Bayern – und hat dort alles verhandelt, was es in der Juristerei so gibt, Ehesachen ausgenommen. Er liebt die Musik seines oberpfälzischen Landsmanns Christoph Willibald Gluck. Wenn er die hört, legt er Romane, Geschichtsbücher, die „Reine Rechtslehre“ und sogar die Süddeutsche Zeitung beiseite.
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