Reflexivität, Gesellschaft und Politik

Lese gerade Beck/Giddens/Lash: Reflexive Modernisierung, Eine Kontroverse, 1994 (engl.) 1996 (deutsch). Ganze Menge von Fragen, die die drei schon vor 20 Jahren beschrieben haben. Die Frage, die mich treibt, was ist, 20 Jahre danach, an neuen Sicherheiten erkennbar?

Erst einmal nichts. Außer der Erkenntnis, dass man immer schon weiß, wo bei allen Handlungsweisen die Probleme innewohnen. Zweite Moderne also erst einmal die Erkenntnis, dass die klassische Moderne, die Zuversicht, immer mehr Reichtum zu erwirtschaften und diesen Reichtum mittels ausgeweiteter Teilhabe dann umverteilen zu können, zu Ende ist.
Was dazu führt, dass jeder von uns einen doppelten Kampf führt. Einmal den Kampf um eine bessere individuelle Existenz. Zum anderen den Kampf damit, zu wissen, dass dieser Kampf eigentlich unsinnig, widersprüchlich oder (globalisiert betrachtet) gefährlich sein könnte.
Es gibt noch eine Erkenntnis: Die Welt und das Individuum treten sich unverblümter, direkter Gegenüber. Das Geflecht von Institutionen, informellen wie Familie, Freunden und formellen, Nationalstaat, Sozialstaat, Rentenversicherung, wird durchlässiger, lässt fallen, gibt keine letztliche Sicherheit mehr. Letztlich kann jeder von uns aussteigen aus der bundesdeutschen Wirklichkeit, manche tun das als Surflehrer am australischen Strand und das Unterschichtenfernsehen, im Vielem viel näher an der Wirklichkeit als das öffentlich rechtliche, zelebriert das als Lebenschance.
Sind wir uns, ist sich jeder von uns tatsächlich sicher, dass es keine Chance ist? Es gibt Lebensmodelle außerhalb der geregelten westdeutschen Wirklichkeit, die Möglichkeiten bieten. Möglichkeiten zu siegen, aber auch zu scheitern. Aber das kann man auch hier, unter, neben, mitten unter uns.
Unsere institutionellen Welten arbeiten sich noch immer im gewohnten Rahmen ab. Die offiziellen Bühne, die Politik, verspricht Sicherheiten und versucht dann doch nur, die gröbsten Risiken zu vermeiden. Manchmal, leider auch, neue Sicherheitsillusionen aufzubauen. Interessante Frage, inwieweit solche Konstruktionen wie Riester Rente oder Pflegebahr dann tatsächlich Erfolgsmodelle werden.
In der Logik Reflexiver Modernisierung bewege ich mich durch das politische All lediglich mit der Fragestellung, worin die größte Selbsttäuschung bestehen könnte. Welche Wahrnehmung müsste man also korrigieren, um schneller zu besseren Ergebnissen zu kommen.
Voraussetzung dabei ist immer, dass wir uns in Deutschland und Europa noch auf einem halbwegs gemeinsamen Boden bewegen, dem nämlich, dass die Welt als solche begrenzt ist, die aufstrebenden Länder einen wachsenden Teil vom Kuchen für sich beanspruchen werden, wir, die entwickelten Länder, einen schwierigen Spagat zwischen der Erkenntnis, dass die Ressourcen (und unser Anspruch darauf) begrenzt sind, wir aber unser Lebens(modell) schon irgendwie weiter führen wollen, dass wir Prinzipien wie Freiheit und Gerechtigkeit wichtig finden und keinen Menschen qua Herkunft, Rasse oder Geschlecht diskriminieren wollen.
Na, dann fangen wir mal mit den größten Irrtümern an.
Zufriedenheit ist wichtiger als Teilhabe. Einer der ganz großen Irrtümer ist, dass es in unserer Gesellschaft darum geht, dass immer mehr Menschen mit mehr Wissenschaftlichkeit und einem Arbeitsplatz in einem wissenschaftlich rational dominierten Umfeld mehr Wirtschaftswachstum und mehr Erfolg für jeden Einzelnen versprechen würden. Das ist falsch wie unsinnig. Zum einen grenzt das deutsche Schulsystem viele Menschen einfach von vorneherein aus. Schule ist ihre Sache nicht und wird es in den nächsten 2 Generationen auch nicht werden. Stattdessen bilden sich neue Karrieremöglichkeiten heraus, im Gemüsehandel der Eltern (klischeehaft betrachtet), in Berufen, die Anpacken und nicht das abstrakte intellektuelle Denken erfordert. Wohlstand einer Nation definiert sich summarisch aus dem erwirtschafteten Wirtschaftswachstum, aber auch daraus, wie die Mitglieder dieser Gesellschaft mit sich und ihrer Lage und ihrer Perspektive zufrieden sind, eine nachhaltige Wachstumsperspektive also, die eben genau berücksichtigt, dass viele Menschen sich nicht als aktiver Teil dieser bildungsbürgerlich deutschen, sich in den führenden Medien spiegelnden Gesellschaft betrachtet.
Der zweite große Irrtum: Nur Politik schafft Gerechtigkeit. Politik gelingt leider nur noch die immer zweifelhaftere Reproduktion des Nachkriegsmodells des modernen Sozialstaats. Einerseits definiert sie immer neue sozialstaatliche Garantien, die sie andererseits, Rente mit 67 und ähnliches sind da Indizien dafür, immer wieder einschränken muss, weil sie von den Rahmendaten her (zu wenige Kinder) nicht funktionieren können.
Tatsache ist also, dass wir zwar mithilfe der Wissenschaft wissen, auf welche Herausforderungen wir zusteuern, aber nicht wissen, wie wir diese Herausforderungen lösen sollen.
Reflexive Modernisierung bedeutete für mich immer, dass man sich dieser Widersprüche bewußt ist. Das muss ich revidieren. Das bedeutet die Reflektion der reflexiven Modernisierung. Reflexive Modernisierung heißt, dass dieser Prozess der Auflösung von Gewissheiten stattfindet, aber es immer auch sein kann, dass die Gesellschaft eine „Abbiegung“ nimmt, also sich an scheinbaren Sicherheiten festklammert, die dann, weil man sich festklammert, auch Sicherheiten werden. Im Grunde ist Gesellschaft auch immer das globale Schaulaufen danach Sicherheiten zu finden. Und wenn wir die Re-Islamisierung mancher Menschen aus westlichen Gesellschaften betrachten, die einfach Sicherheiten, Routinen und das Ende des Hinterfragen gefunden haben, ist das die Kehrseite zu all diesen scheinbar christlichen Tallibans der US-Evangelisten, die aus unserer Sicht einen unglaublich vormodernen Mist christlicher Verheißungsmystik und Ausblenden wissenschaftlicher Erkenntnisse absondern. Die Balken tragen für manche noch und die Debatten, die in den USA stattfinden, zeigen, wie wenig rational die scheinbar rationalen westlichen Gesellschaften in ihrem Kern tatsächlich sind (die zunehmende Berichterstattung der Medien über den Zustand der anderen europäischen Länder lässt im übrigen auch das Vertrauen in die Rationalität der dortigen „Eliten“ schwinden).

Also, wir bewegen uns auf dünnem Eis. Die reflektierten reflexiven Modernisierer beteuern immer wieder, dass das Eis schon sehr dünn ist, gehen die verschiedenen Optionen durch, was man tun könnte, um weiter zu kommen (verwerfen aber im Grunde alle Optionen, sie scheinen nicht machbar), wärend die anderen entweder beten, weiter gehen, nach einem Schiff oder Rettungbalken Ausschau halten, dem Nachbarn Kleidung entreißen, um nicht zu frieren. Lässt sich in einer solchen Situation sagen, wer überleben wird, wer wie überleben wird? Oder kann man nicht einfach nur offen beschreiben, dass es verschiedene Optionen gibt (auch erkennen, wer dann links und rechts von einem selbst noch welche Option ausprobiert) und erkennen, dass eine Lösung (noch) nicht erkennbar ist?
Kommen wir wieder zurück auf die Politik. Worin liegt also die Lösung aus dem Dilemma der unsicheren, unsichtbaren Zukunft?
Dazu einige Thesen:
Zuversicht. Wenn man die Zukunft nicht erkennt, kann man entweder jetzt schon verzweifeln oder es sich, in dem Rahmen, in dem es geht, sich gut gehen lassen. Zuversicht und Lebensfreunde sind die basalen Grundlagen dafür, Zukunft zu meistern.
Belastbare Beziehungen. Wenn Institutionen immer weiter an Bedeutung verlieren, ist der Rückgriff auf vormoderne Lösungen notwendig. Wem kann ich vertrauen, wer hat Haltung, wer ist nicht nur an Geschäftsmodellen, Vorteilsnahme, dem eigenen Fortkommen interessiert, sondern am Austausch, Verlässlichkeit, Krisenbewältigung.
Neugier. Wo entsteht etwas? Wo kann ich mitbauen. Was interessiert, elektrisiert mich. Wie aus den Ruinen der Nazizeit mit Unterstützung der Amerikaner und auch aufgrund des Ost-West-Konfliktes ein leistungsfähiges und doch weitgehend friedliches Deutschland entstanden ist, wird auch auf der Welt immer wieder neues entstehen. An den Dingen und Anliegen, die uns faszinieren, sollten wir mitbauen, diese mitentwickeln, nicht in der Ecke stehen, sondern mitarbeiten. Zukunft gestalten.
Es geht um das Anerkennen des Subjektiven, des „erste Schritte machens“, des Versuchens, auch des Irrtums.
Erst wenn Politik versteht, dass sie in diesem gesellschaftlichen Arrangement die Aufgabe hat, eine gesellschaftliche Versuchsanordnung zu stimulieren und nicht die Aufgabe, die Lösungen zu produzieren, erst wenn Politik sich als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses betrachtet, dann hat sie die Chance, wieder stärker in die Wirklichkeit einzugreifen. Bis dahin bleibt alle Politik Stückwerk.
Und auch, erst wenn die zivilgesellschaftlichen Organisationen, das will ich hinzufügen, ihre Aufgabe darin verstehen, Teil von Lösungen zu werden, dann wird sich die Selbstblockade dieser Gesellschaft überwinden lassen. Weil dann Ingenieure, Erfinder, Menschen in Wirtschaft und Wissenschaft fröhlich verantwortlich mit ihren Aufgaben umgehen können, sich entscheiden können, ob auch sie nur daran arbeiten wollen, ihr eigenes Scherflein ins Trockene zu bringen, oder ob sie auch Teil des gesellschaftlichen Lösungsprozesses sein will. Bei aller Kritik an den europäischen Institutionen, den nationalstaatlichen Institutionen ebenso: Die Stabilität unserer Gesellschaften ist immer noch sehr hoch. Sich dessen bewußt zu werden, wäre ein erster Schritt, um aus der auch selbstgeschaffenen Misere heraus zu kommen.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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