Erik Zabel hat gedopt. Das ist wie Hund beißt Mann. Man wusste es, jetzt ist es lediglich aktenkundig. Und die Arbeitgeber von Erik Zabel kündigen die Verträge, Business at usual, Helmut Kohl hätte gesagt „und die Karawane zieht weiter.“ Die Frage ist nur: Wohin? Der anhängende Beitrag der FAZ von Prof. Schürmann beschreibt das Problem des Leistungssports mit seinen gefallenen Helden. Immer sind es Einzelfälle, fast immer vergangene Einzelfälle, immer beschwören alle, dass jetzt alles ganz anders ist. Und forschen weiter, wie Leistungssteigerung mediakamentös gefördert werden kann.
Man kann darüber moralisieren, das Ganze verurteilen, sich weit davon distanzieren. Und wenn man, was ich nicht bin, in diesem Entertainment-Geschäft tätig ist, stellt sich die Frage, was jetzt.
Es ist wie bei der Korruption. Ich würde ja sauber bleiben, wenn ich wüsste, dass die anderen sauber bleiben. Aber weiß ich es?
Nein. Also geht es nicht darum, sauber zu bleiben, sondern neue, nicht nachweisbare Wege zu finden. Wer auf der Suche nach Erfolg ist, der kann nicht unschuldig bleiben. Wir alle wissen, dass beim Sport Deutschland, Europa in Wettbewerb mit USA, Russland, China und anderen steht.
Glaubt jemand, selbst wenn er den deutschen oder europäischen Standards vertrauen würde, dass sich alle daran halten? Gibt es einen internationalen „Common Sense“, Regelungen einzuhalten?
Nein. Vielmehr wird das Problem also individualisiert. In Zeiten politischer Korrektness werden also Verträge aufgesetzt, in denen die Risiken an die Athleten selber verschoben werden. Sie müssen unterschreiben, dass sie „sauber“ bleiben, wenn sie es nicht bleiben; ihr Problem. Weitere Dokumente werden nicht auffindbar sein.
Aber wie kommt man da raus?
Der erste Schritt, an dem Unbeteiligte erkennen können, ob es ernst ist: Funktionäre und Betroffene reden über die Schwierigkeit, eine Grenze zu ziehen, beschreiben den Umgang mit der Unsicherheit, den Verlockungen, bessere Ergebnisse durch Forschung über die Leistungssteigerung zu erzielen; und natürlich den Ehrgeiz, den globale Unternehmen, Nationen, aber auch Trainer und Sportler an einer Leistungssteigerung haben.
Die Frage des Monitorings, der Kontrollen und der Sanktionierung (und ihrer Beurteilung) ist schwer zu beantworten: In jedem Kontrollvorgang liegt eine Betrugsmöglichkeit inne. So geht es darum, abzuschätzen wie gegenseitiges Vertrauen, Transparenz und Sanktionierungen zu einem Rahmen werden, die zu weniger Doping und einem offeneren Umgang damit führen. Prinzipiell können da ganz unterschiedliche Ansätze zu brauchbaren und unbrauchbaren Ergenissen führen. Weil die Gefahren, die drohen, sind nicht die Gefahren des ersten Augenblicks, wenn alle aufmerksam sind, sondern die des zweiten Moments, wenn das öffentliche Interesse an besseren Ergebnissen wieder über die Suche nach den Sündigen dominiert. Und in allen Fällen ist es davon abhängig, ob die Beteiligten so viel Mumm und Zivilcourage haben, Zweifel auch offen auszusprechen und den notwendigen Fragen auch nachzugehen. Wer werfe den ersten Stein? Die biblische Geschichte, nur wer ohne Tadel sei, solle den ersten Stein werfen, lässt sich aus andersrum lesen. Dass nämlich keiner den ersten Stein wirft, weil jeder befürchtet, es könne später auch ihn treffen.
Fest steht: Soziale Medien, die Unmöglichkeit, Kommunikation und Kommunikationswege zu kontrollieren, haben das ganze Spiel offener gemacht.
FAZ, SAMSTAG, 03. AUGUST 2013
SPORT
Wie man zum Schwein wird
Wer über den Sport in dieser Welt sprechen, gar streiten will, kann nicht nur über den Sport reden. Es gab Zeiten, da galt Sport als Spiel. Bekanntlich gibt es zwei Sorten von Spielverderbern. Zum einen diejenigen, die nicht ernsthaft spielen und gar nicht gewinnen wollen. Die tun nur so, als ob sie spielen – dabei tun sie etwas anderes, zum Beispiel die ganze Zeit reden beim Spielen. Einige verbrämen das auch noch als Geselligkeit. Zum anderen diejenigen, die zu ernsthaft spielen und nur gewinnen wollen. Die tun nicht einmal so, als würden sie spielen. Einige verbrämen das auch noch als gesunde Härte. Als der Sport, frühneuzeitlich, noch ein Gentlemen-Vergnügen war, gab es wenig Spielverderber. Der nötige Ernst war gewahrt, denn man ließ gewinnen und wettete auf den Sieger. Aber zu ernst wurde es auch nicht, denn für den Ernstfall wählte man das Duell. Wer dagegen Sport trieb, der musste die Grazie wahren; es war verpönt, sich allzu sehr für den Sieg anzustrengen, gar vorbereitend zu trainieren, denn das dokumentierte, dass man das Preisgeld, nicht aber das Vergnügen suchte. Und das haben Gentlemen nicht nötig.
Heute gibt es im öffentlich sichtbaren, nicht bloß privaten, Sport kaum noch die Spielverderber, die nicht ernsthaft gewinnen wollen oder müssen. Als es offiziell Amateure gab, mag das noch anders gewesen sein. Amateur im Leistungssport zu sein, muss man sich leisten können. Sport soll aber offen für alle sein, und deshalb haben solche feudalen Überreste des Gentlemen-Vergnügens heute zum Glück ausgespielt. Man lobt ihn nicht gern, aber dass der Amateurparagraph unter der Ägide von Samaranch im olympischen Sport abgeschafft wurde, hat ersichtlich einen Anachronismus beseitigt. Freilich, und so viel Dialektik der Aufklärung muss sein: Jeder Fortschritt hat seinen Preis. Alles spricht sogar dafür, dass das damalige IOC an diesem Preis, nicht aber am historischen Fortschritt interessiert war. Seitdem jedenfalls kann im olympischen Sport ganz ungehemmt dem Erfolg gefrönt werden. Man darf getrost unterstellen, dass Samaranch, ein gestandener Franquist und demokratischen Anliegen gänzlich abhold, persönlich manch melancholische Phase durchgemacht hat, alte Adelszöpfe des Olympismus abschneiden zu müssen.
Aber was ist mit jenen Spielverderbern, die einstmals zu ernsthaft Sport trieben? Aller Anschein spricht dafür, dass der Sport kein Spiel mehr ist – und man ihn folglich nicht dadurch verdirbt, zu ernsthaft zu spielen, sondern dass man ihn dadurch verdirbt, ihn nicht so ernsthaft wie irgend möglich zu betreiben. Sport zu ernsthaft spielen zu können, das war gestern. Heute wird man daher gelegentlich auch zum Schweinsein genötigt, und es ist nur konsequent, dass es nunmehr Bereiche des Sports gibt, in denen man ein Schwein sein muss und sich dabei nicht erwischen lassen soll.
Dass der Sport kein Spiel mehr ist, sondern ein Geschäft geworden ist, wie wir so sagen, hat nicht als solches damit zu tun, dass mit ihm Geld verdient wird. Man schreibt ja auch nicht deshalb schon Kitsch, weil man mit seinem Roman Geld verdient. Dass man mit dem Sport Geld verdienen kann – das ist doch schön! Massenmedien wie das Geld sind vermutlich keine notwendigen Bedingungen, aber doch immerhin ganz ordentliche Voraussetzungen für einen Sport für alle. Wer da die Nase rümpft, zeigt nur, dass er sie zu hoch hält.
Dem Sport ist, allem Anschein nach, das Spielerische verlorengegangen. Und das ist nicht eine Frage des Geldes, sondern eine Frage seiner Organisationsform. Wie sich einige von uns noch erinnern mögen, sollten wir damals, als der Sport noch als Spiel galt, unterscheiden zwischen „Erfolg“ und „sportlich-fairem Erfolg“. Es ist ja keine Kunst, gegen einen von vornherein schwächeren Spieler zu gewinnen – deshalb ist die Regelung der Gewichtsklassen entstanden. Heute ist so etwas nur noch eine Hürde, die durch Ranhungern und Randopen genommen werden will. Damals machte es, das Grundverständnis von Sport beim Wort genommen, keinen Lustgewinn, beim Marathon eine Abkürzung zu laufen und sich nicht erwischen zu lassen. Man wollte schließlich wissen, ob man besser ist als der Konkurrent – und das weiß man nur, wenn man auf eine bestimmte, nämlich sportliche Art gewinnt. Das weiß man nicht, wenn man bloß gewinnt, denn dann könnte man einfach das klügere Schwein gewesen sein. Heute zählt der Erfolg als solcher, und manche müssen höchstens noch ein paar Jahre zittern, ob ihnen das Armstrong-Schicksal droht. Heute ist es nur süß, und eine eigene Marke, wenn Dortmunds Trainer Jürgen Klopp Stolz bekundet, dass seine Jungs mit so wenig Gelben Karten durch eine Saison kommen. Im Wettkampf müssen die Raffinessen der Ferkel wohl grenzenlos sein – manchmal zieht man dann auch Fairness ins Kalkül.
Dass dem Sport das Spielerische verlorengegangen ist, ist keine Frage der guten oder bösen Absichten der Beteiligten, sondern eben eine Frage seiner Organisationsform. Ein bestimmtes Verständnis von Sport zu praktizieren, ist ein kultureller Sachverhalt. Das heißt zunächst nur: Man betreibt noch keinen Sport, nur weil man die Absicht hat, gegen einen Bus ein Wettrennen zu laufen. Die Nöte und Absichten, die Erik Zabel jetzt offengelegt hat, zeigen exemplarisch, wie es im Sport zugeht. Aber sie belegen nicht, dass es Doping im Radsport deshalb gibt, weil viele Einzelne schändlicherweise (oder, so die anderen: verständlicherweise) die Absicht haben zu dopen. Denn immer ist es auch umgekehrt: Es gibt diese Absichten und Nöte, weil es Doping im Radsport gibt. Belässt man es bei diesem Zirkel, dann kann man nur die Einzelnen in Schutz nehmen: Was wir nicht brauchen, ist eine Moral für Helden.
Zur heutigen Organisationsform des Sports gehört aber, dass solche Moral für Helden eingeklagt wird. Solange alle Beteiligten das Spiel spielen, dass das Schweinische im Sport lediglich eine Frage einzelner schwarzer Schafe ist, solange können alle Beteiligten weiter ihr Schäfchen ins Trockene bringen. Gelegentlich braucht es Bauernopfer, reuige Sünder, Empörungsgesten, zunehmende Verrechtlichungen und anderweitige Glaubwürdigkeitsmaßnahmen. Letztendlich muss es nur funktionieren – womit man sein Geld verdient, ob mit Spiel oder mit Geschäft, ist letztlich herzlich egal.
Zur heutigen Organisationsform des Sports gehört auch, dass der Erfolg zählt, nicht aber die Art und Weise, wie er zustande kommt. Wer die Sportförderung nach der Anzahl der Medaillen steuert, dem ist offenkundig wurscht, wie diese Medaillen zustande kommen – das überlässt er der sogenannten Autonomie der Einzelverbände. Diese Irrelevanz von Fairness so offen, zudem in Geheimabsprachen mit Einzelverbänden, zu dokumentieren, war unklug. Jetzt muss man gegensteuern. Ein paar Augenblicke lang flackerten Diskussionen auf, wie die Maßnahmen anzupassen seien. Gab es ergiebige Diskussionen, warum der Staat welchen Sport wie fördern soll?
Die Organisationsform des Sports zu diskutieren, wäre ein Ausstieg aus dem Hase-und-Igel-Spiel von individuellen Verantwortlichkeiten und Systemzwängen. Eine Diskussion der Organisationsform des Sports nimmt den Sport als Kulturgut in den Blick. Fraglich ist dann, welches Grundverständnis von Sport in welcher Organisationsform praktiziert und reproduziert wird, ganz diesseits der guten oder bösen Absichten der Individuen, die sich heldenhaft gegen die Systemzwänge durchsetzen oder alltäglich an solchen Zwängen scheitern. Fraglich sind dann nicht primär die zu ergreifenden Maßnahmen für einen sauberen Sport – so, als sei schon klar, was denn ein sauberer Sport sei und dass wir alle so etwas wollten und freiwillig durch unsere Steuern mitfinanzieren. Fällig ist dann die Rückfrage: Wer will denn warum einen öffentlichen Sport als Geschäft, egal ob dem das Spielerische verlorengegangen ist oder gerade weil ihm das Spielerische verlorengegangen ist?
Der geständige Doper Erik Zabel verliert gerade alle Jobs, die er im System des Radsports hatte. Das ist für ihn nicht lustig und für das System bezeichnend. Zur Situation gehört dazu, dass Zabel selbst ein Interesse haben musste, dass das System dichthält. Dann wäre er mit seinem „Teilgeständnis“ von 2007 durchgekommen, und die Sache wäre verjährt. Schwamm drüber. Das ist mehr als ein Systemzwang, denn es ist ein handfestes Interesse an einer Organisationsform, die den Systemzwang aufrechterhält. Unfälle sind dann als Unfälle zu behandeln – und das heißt auch: Wer selbst nicht dicht hält, ist draußen. Zabel wusste das, und er hat es, sei es stolz, sei es wehleidig, „trotzdem“ getan. Und wir? Wir stürzen uns auf den Fall Zabel!? So, wie wir uns schon vorher auf die vielen Fälle gestürzt haben – früher drüben, heute überall.
Das Problem ist aber nicht der Einzelfall, sondern, so banal es klingt, das, wofür der Fall steht. Man muss da nicht gleich an Mafiastrukturen und deren Schweigegelübde (Omertà) denken. Es reicht völlig, das ernst zu nehmen, was jemand wie Sepp Blatter, der Chef des Internationalen Fußball-Verbandes, auch dann noch mit geschwellter Brust verkündet, wenn niemand ihn fragt: Dass es sich bei den Sportorganisationen um die Organisationsform der Familie handelt. Eine Familie ist wahrlich keine problemfreie Zone purer Harmonie, aber zu einer Familie gehört im Weltbild der real existierenden Sportwelt überzufällig oft, dass Probleme „zu Hause“ besprochen werden und nicht nach außen zu dringen haben. Für solche Familien gibt es keinen Schutz der Öffentlichkeit. Das hat Vorteile, weil man nicht offenlegen, geschweige rechtfertigen muss, nach welchem Maßstab es dort zu Hause denn zugeht. Auch Gewalt in der Ehe ist dann „Privatsache“. Es spricht alles dafür, dass sich in der Heimlichkeit der so gehüteten Sportfamilie die Praxis des Sports als Geschäft penetrant reproduziert. Dann kann man dort nur zum Schwein werden.
Soll die Erinnerung an den öffentlichen Sport als Spiel nicht unrettbar zur nostalgischen Geste verkommen, dann muss die Sportfamilie ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Es muss dann darum gehen, den Maßstab dessen, wie es dort zugeht, zu diskutieren: Welchen Sport wollen wir denn? Nur zu konstatieren, wie es dort zugeht – und dabei fallweise resignativ, zynisch, missionarisch-entlarvend zu werden – bleibt gleichsam ein Freundschaftsdienst an bestehenden Familienstrukturen. Es gehört organisatorisch abgesichert, dass die Bälle zwischen Innenministerium und dem Deutschen Olympischen Sportbund über die Bande der Öffentlichkeit gespielt werden.
P.S.: Der Sport ist bloß eine Nebensache, ob eine schöne, sei dahingestellt. Das macht ihn nicht nebensächlich. Damals, als er noch als Spiel galt, war er die spielerische Inszenierung des Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft. Der moderne Olympismus war ein Ort der Vergewisserung, dass das Prinzip der Gleichfreiheit für alle seinen guten Sinn hat. Nur wenn nicht schon von Geburt an feststeht, wie und was jemand ist und ständisch zu sein hat, ermöglicht eigenes Tun soziale Mobilität, und nur durch aktive Herstellung gleicher Startbedingungen kann es dabei gerecht zugehen. Der sportliche Wettkampf ist das Sinnbild dieses Versprechens. Nur wenn der Ausgang des Wettkampfs garantiert offen ist, dann kann tatsächlich die individuelle Leistung über Sieg und Niederlage entscheiden, und morgen ist ein neuer Tag. Auch das war gestern. Ein Schelm, wer im Verlust des Spielerischen des Sports eine Parallele zur sozialen Schere entdecken will: TINA, diese seit Margret Thatcher so wirkmächtige Figur der Alternativlosigkeit – „There Is No Alternative!“ – kennt keine öffentliche Debatte politischer Maßstäbe.
Prof. Dr. Volker Schürmann
Der Autor ist Leiter der Abteilung Philosophie des Instituts für Pädagogik und Philosophie an der Deutschen Sporthochschule in Köln.