Statt „Marx träumen“ reales politisches Handeln analysieren

Ein paar Gedanken zum Jahreswechsel

Etwas genervt war ich über den Spiegeltitel zum Jahreswechsel: Hatte Marx doch recht? Ich kann vieles teilen, das er in Sachen Kapitalismus diagnostiziert hat. Aber “mehr Politik wagen” als Alternative? Nein, da müsste einer kritischen Analyse des Kapitalismus dann zügig eine kritische Analyse politischen Handelns folgen. Ein paar schnelle Eindrücke, basierend auf langen Jahren Erfahrung im politischen Bereich: 

Die strukturellen Defizite politischen Handelns 

  1. Das Flaschenhals-Phänomen, allgemein, die Konzentratation auf Politik als Entscheider. Etwas davon kann man aktuell beobachten. Selbst mit einem klugen und umsichtigen Akteur wie Robert Habeck erkennt man, dass Politik “schnell verstopft”. Entscheidungen müssen finanziert werden, in der Koalition abgestimmt, eventuell mit den Ländern konsensuell vereinbart, bevor sie umgesetzt werden können. Das kostet Zeit und ist mit einem Verlust von Substanz verbunden. Und wenn sie umgesetzt sind, folgt Defizit Nr. 2.
  2. Die Dominanz des Dringlichen. Mittelfristigkeit spielt keine Rolle. Unerwünschte Nebenfolgen werden verdrängt, statt gelöst. Beispiel Gesundheitspolitik: Vor 20 Jahren wurden die DRGs in die Welt gesetzt. Sie haben die erwünschte Wirkung erzielt, Kosten einzusparen. Aber 20 Jahre hat die Politik nichts unternommen, um die Nebenfolge: Weiterhin zu viele, aber unterfinanzierte Kliniken, zu regulieren. Und: Einmal Politik, immer Politik, das Problem Nr. 3. 
  3. Nicht machen, sondern machen lassen! Täusche ich mich oder ist es Realität, dass plötzlich alle nach der Politik und entsprechenden Förderprogrammen rufen, auch die Autoindustrie, die anstatt einer schrittweisen Umstellung auf neue Antriebsformen erst geleugnet und gelogen, um jetzt mit staatlicher Hilfe immer größere Autos zu bauen, die weder ökologisch, noch innenstadtkompatibel sind, sondern nur auf repräsentationssüchtige Chinesen und Amerikaner abzielen.
  4. Nicht “Die” Politik, sondern die Politiken! Es gibt nicht “Die Politik”, sondern die Politiken (oder die Politikerinnen und Politiker, oder die Parteien mit ihrer Agenda). Und deswegen ist es nicht so, dass “die Politik” handlungsfähig ist (die Reaktion auf Putins Krieg war da eine echte Ausnahme), sondern üblicherweise blockieren sich Europa, die Bundesregierung und die Bundesländer, weil sich die Ebenen um Kompetenzen und Kompetenzuwachs streiten. Und deswegen nichts entschieden wird. Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch Marianna Mazzukatos Ruf nach “Moonshooting-Projects”. PolitikerInnen scheuen sich nicht, für jede ihrer Ideen einen “Moonshooting”-Status zu fordern; -ohne allerdings die für das “Boosting-Moment” notwendigen Finanzmittel bereitstellen zu können. 
  5. Die Dominanz der politischen Parteien und Karrieremuster der PolitikerInnen. Schließlich müssen wir dann doch über Parteien, die Politisierung der Gesellschaft und ihre verhängnisvolle Wirkung reden. Parteien sprechen nur noch von Narrativen, nicht mehr von gesellschaftlichen Strategien. Kein Wunder, es hört ja niemand mehr hin. Alle “Politisierung” ist oberflächlich”. Trotzdem werden die Koalitionsvereinbarungen immer länger; -mit griffigen Begriffen, aber immer weniger Impact auf die Wirklichkeit. Und, auch das eine mittelfristige Entwicklung: PolitikerInnenkarrieren werden immer stärker über Parteipolitik, also im “eigenen Sumpf” gemacht, nicht über Kommunalpolitik und einer Bewährung im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Man könnte jetzt noch anfügen, aber es gibt doch mehr “Friday for Future”-AktivistInnen als jemals zuvor. Auch das ist richtig, aber “Friday for Future” wird vor allem vom Treibstoff “Moral” getrieben: immer mehr, immer schneller, immer radikaler. Das mag aus klimapolitischer Betroffenheit richtig sein. Wenn man potentielle Ergebnisse betrachtet, aber nicht. Deutsche Radikalität wird die weltweite Klimabilanz nicht retten, das Kernelement von Politik, Abwägung unter Berücksichtigung der ökonomischen Leistungsfähigkeit, sprich, mit immer begrenzten finanziellen Ressourcen, muss von “Friday for Future” AktivistInnen nicht geleistet werden.

Grüne und Wirtschaft. Ein Mißverständnis.

Die Politisierung der deutschen Gesellschaft ist eng verbunden mit dem Aufstieg und dem Marsch der Grünen in die Mitte der Gesellschaft. Ein kurzer Rückblick: Es gab mal “Unternehmensgrün”, einen Verband, der die Pioniere nachhaltigen Wirtschaftens organisiert. Konsequent hat er sich jetzt in Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. umbenannt. Er organisiert eben nicht den Kern deutscher Wirtschaft, eine global agierende, technologiegetriebene Exportwirtschaft, sondern die Pioniere der Branchen. Dann hat sich vor drei Jahren, auch mit meiner Mithilfe der Grüne Wirtschaftsdialog gegründet, getragen von der Idee, eine den Grünen nahestehende, aber eben unabhängige Dialogplattform mit den Grünen zu bieten. Dialog bedeutet für mich, ein Gespräch, eine auch kontrover geführte Debatte zum Thema, “Was brauchen Unternehmen, um, unter Berücksichtigung  ökologischer und sozialer Fragen auch ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten und verbessern zu können.“  Meines Erachtens geht es da auch um die Frage der Rehabilitation von Marktwirtschaft und die kontroverse und konstruktive Debatte, was Politik tun und was sie lassen muss, um unternehmerische Kreativität entfalten zu lassen. Das war, zugegeben, aber Fehlanzeige, weil auch der eigentlich unabhängige Verband so handzahm ist, dass er bis heute keinen öffentlich wahrnehmbaren Aufschlag zustande gebracht hat. Jetzt, entnehme ich der Wirtschaftswoche, will die Bundestagsfraktion ihren Wirtschaftsbeirat wieder beleben (nicht das erste Mal, aber sei’s drum) UND die Bundespartei will einen eigenen Wirtschafts-Lobby oder Dialog oder was weiß ich,–Verband gründen. 

Ist das gut überlegt? 

Nein!

Schade eigentlich. Denn mit diesem verklemmten, sicherheitsbezogenen Denken verschenkt Grün seine Stärke: Kritisch konstruktive Dialogfähigkeit. Sie wollen Akklamatoren. Aber das bringt nichts. Was eine kommende Partei der Stärke und der Mitte braucht, ist Selbstreflexivität. Und Rückgabe der Verantwortung an die Gesellschaft. Was auch und vor allem heißt: Mehr Beinfreiheit für Unternehmen!

Die linken Grünen der Hoffnungsschimmer?

Erfrischend klar fand ich vor diesem Hintergrund das Interview von Ricarda Lang im selben Spiegel. Das Bekenntnis zur Marktwirtschaft klingt echt. Was ich aber unter Grünen, meiner Partei, vermisse, ist eine fundierte Auseinandersetzung darüber, wie eigentlich das Potential von Marktwirtschaft unter dem Maßstab der Globalisierung, also bei Verlust fester nationalökonomischer Grenzen und bei Verdoppelung und gar Multiplizierung der “politisierten” Ebenen (International, Stichwort DITIP), europäisch, denn was unterscheidet das “von der Leyen’sche” Denken vom sozialdemokratischen Denken (nichts, es geht um Machtzuwachs) und des ewigen Bund-Länder Gerangels ausmacht und wie es gut und besser zur Geltung gebracht werden kann. 

Nada, nichts zu vernehmen. Die Debatte um Politik und Wirtschaft ist blockiert vom ewigen Lobbygeschrei, als ob Lobby etwas negatives wäre. Ständig wird gegraben, ob jemand Geld eingesteckt hat, sich bestechen lassen hat, klar, muss alles sein. Aber das muss auch nicht gegen Lobbyismus sprechen. Klare Regeln, die gibt es auch. Aber ich finde, wir sollten uns auch mal der Frage des NGO-Lobbyismus zuwenden. Da bin ich nahe bei der FDP, die die Staatsfinanzierung “zivilgesellschftlicher Aktivität” einen Riegel vorschieben will. Nein, keine Moralapostel auf Staatskosten. Zivilgesellschaft entsteht durch Vereine und Verbände. Und diese sollten ihre Anliegen auch selbst finanzieren.

Und was wünsche ich mir also für dieses Jahr?

Eben diese intellektuell differenzierte Debatte mit konkretem Output, wie Deutschland, Europa, der Westen im System- und Leistungswettbewerb mit anderen Systemen und Regionen 1) den eigenen Wohlstand erhalten, 2) das Wohlergehen anderen Länder und das Recht der Menschen in allen Ländern, selbst zu bestimmen, in welcher Form sie regiert werden wollen, entwickeln und 3) die Belastung des ökologischen Systems minimieren kann.

Und mein Beitrag?

Wie viele wissen, beschäftige ich mich mit eben diesen Fragen, Verhältnis von Politik und Ökonomie und der öffentlichen Wahrnehmung dieses Spannungsfeldes. Mein Arbeitsschwerpunkt wird dabei weiterhin das Thema “Gesundheitswirtschaft, Gesundheitswesen” sein. Da lautet das Spannungsverhältnis dann Politik und Akteurslandschaft. Meine Diagnose: Mehr Innovationsdynamik wagen. Und dabei spielt die Frage, wie die Selbstwahrnehmung von Politik und dem heimlichen Governancemacher “Selbstverwaltung” verändert und geöffnet werden muss, damit das Gesundheitswesen auch unter sich ändernden Rahmenbedingungen gute und sich aus eigenem Antrieb verbessernde, effektivere und effizientere Lösungen entwickeln können. “Koalition der Willigen für ein besseres Gesundheitssystem” habe ich das genannt. Dazu suche ich, suchen wir als “KovarHuss Policy Advisors” weitere MitstreiterInnen (die das dann auch mit finanzieren sollen). 

Und wenn es auch über das Gesundheitswesen hinaus gelingen sollte, den Gedanken eines lebendig konstruktiven Verhältnisses von Politik und Wirtschaft über billige Narrative hinaus weiter zu entwickeln, würde mich das sehr freuen. 

Unser Land braucht das!

P.S. Zwei, wie ich meine, zutreffende Blicke auf die Lage. 

Ein System-Wettbewerb zwischen dem Westen und China | The Pioneer

Schwere Turbulenzen – Think beyond the obvious (think-beyondtheobvious.com)

Kommen Sie -trotzdem- gut ins Jahr!

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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